Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen

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Teufel, wenn das Kloster nicht bis heute abend ein

Aschenhaufen ist! – Kaum hatte er das gesagt, da er

gerade auf einer Brücke hielt, so tat sein Pferd einen

plötzlichen Satz, übersprang die Brückenbrustwehr

und stürzte zusamt dem Reiter in die Mosel, wo der

Reiter unten hin und das Pferd auf ihn zu liegen kam;

Roß und Reiter hatten den Hals gebrochen.

Dieses Kommandanten Nachfolger ritt auch dorthin,

da warnte ihn die Schildwache und sagte: Hier ist

nicht sicher reiten, auch zielt der Feind nach diesem

Punkt. – Ho! lachte der Kommandant, der Feind kann

mich hintenhin treffen. – In diesem Augenblicke fiel

auf einer Bastion ein Schuß, und der Kommandant tat

einen lauten Schmerzensschrei und stürzte samt dem

Pferde. Die Kugel hatte den von ihm bezeichneten Ort

wirklich getroffen, war aber nicht auf halbem Wege

geblieben, sondern vorn wieder heraus und dem Pferde

durch den Hals gedrungen.

91. Die Martyrergräber

Sankt Maximin heißt unterhalb Trier am Moselflusse

eine alte, weitberühmte Abtei. Schon die Stätte, darauf

sie steht, soll zur Heidenzeit einen Dianentempel

getragen haben, und als ihrer Gründer rühmt sie sich

des Kaisers Konstantin des Großen und seiner Gemahlin

Flavia Helena. Zuerst wurde das Stift in die

Ehre Johannes des Täufers geweiht, dann in die des

heiligen Hilarius, unter dem vierten Abt Tranquillus

aber erhielt das Stift den Leichnam Sankt Maximins

und trug nun von diesem den Namen. In diesen Gegenden

– manche sagen bei Neumagen – soll es gewesen

sein, daß dem Kaiser Konstantin dem Großen das

Kreuzeszeichen am Himmel erschien mit dem berühmten

I.H.S. In Hoc Signo – scilicet vinces, in diesem

Zeichen wirst du siegen, welche Buchstaben nach

alter Schreibart den Namen Ihesus bedeuten. Hier sollen

die heiligen Kirchenväter Ambrosius, Hieronymus

und Athanasius eine Zeitlang gelebt, hier soll der letztere

das nach ihm benannte Glaubensbekenntnis niedergeschrieben

haben. Hier ruhen die Erzbischöfe Nicetius

und Basinus, hier ruht Ada, Karls des Großen

Schwester, welche einen Codex aureus der Evangelien

schrieb.

Und nahe bei Sankt Maximin liegt auf diesem

uralt-heiligen Boden des Trierschen Gaues die Abtei

zu Sankt Paulini. Die Krypta dieses Klosters ward

zum riesigen Aschenkrug für eine Reihe der vornehmsten

Martyrer. Rictiovar, Kaiser Maximinians Präfekt,

verfolgte auf seines Herrn Befehl die christliche sogenannte

Thebanische Legion allenthalben, auch in dieser

Gegend, und mordete schonungslos. Paulinus,

Triers Erzbischof, wurde in eisernen Ketten

aufgehenkt; einen der Heerführer der Legion namens

Tirsus, begrub man zur linken Paulins, den Konsul

Palmatius ihm zur rechten Hand. Zu Häupten des

Heiligen ruhten sieben Ratsherrn, die mit den Thebanern

zugleich die Martyrerkrone empfingen, unter

ihnen einer des Namens Maxentius. An diese reihten

sich Constantius, Crescentius, Justinus, Leander, Alexander,

Soter, die letzten drei Brüder. Zu Sankt Paulini

Füßen wurden vier Martyrer beigesetzt, welche

Rictiovar vor seinen Augen enthaupten ließ nach vorhergegangenen

gräßlichen Martern: Hormisda, Papinius,

Constans und Jovianus. Das Blut der gemordeten

Tausende in Trier und auf diesem Gebiete floß in

Bächen hinab zur Mosel und färbte ihre Wogen weit

hinab rot, bis zum Schlosse Neumagen.

92. Die heilige Genofeva

Zu Pfalzel, sonst Pfälzel (kleine Pfalz), an der Mosel,

steht ein getürmtes Haus, das Genofevenhaus geheißen,

da lebte zu Erzbischof Hildulfs in Trier Zeiten

ein Pfalzgraf Siegfried, der hatte eine treue und fromme

Gemahlin, eines Herzogs Tochter aus Brabant.

Aber es geschah, daß Siegfried in das Heilige Land

ziehen mußte, ließ daher sein Weib in seiner Pfalz am

Moselstrome zurück und übergab sie in die Obhut

eines vertrauten Dienstmannes, des Namens Golo.

Bevor der Pfalzgraf aber von hinnen schied, letzte er

sich mit seiner Genofeva noch einmal herzlich, und

sie empfing einen Sohn von ihm. Golo aber war ein

schlimmer Hüter, er entbrannte in Liebe zu der schönen

Herrin und begann Ränke zu schmieden, schrieb

falsche Briefe, als sei Siegfried mit all den Seinen im

Meere ertrunken, und las sie der Pfalzgräfin vor, und

gestand ihr seine Liebe, und wollte sie umarmen, sie

wehrte ihn aber mit einem Faustschlag ins Gesicht ab;

nun verwandelte sich seine Liebe in bittern Haß; er

entzog der Pfalzgräfin alle Bedienung, und als ihre

Stunde nahte, wo sie des Söhnleins entbunden werden

sollte, hatte sie niemand zum Beistand als eine alte

Waschfrau. Da kam Botschaft in ihr Haus, daß ihr

Herr lebe und heimkehre, des erschrak Golo, der Ver-

räter, bis zum Tode und suchte Rat bei einem alten

Hexenweibe, das riet ihm teuflischen Rat: Golo solle

dem Pfalzgrafen einreden, der schöne Sohn Genofevas

sei mitnichten der seine, wie er selbst berechnen

könne, sondern Drakos, des Kochs. Solches tat Golo,

indem er seinem Herrn entgegenreiste; da ward Siegfried

sehr betrübt und wußte nicht, wie er sich des

Weibes, das ihn nach des Lügners treulosem Bericht

geschändet hatte, abtun solle. Da riet Golo, daß er

Genofeva samt ihrem Kinde an ein Wasser führen und

sie beide ersäufen wolle, und Siegfried willigte ein.

Darauf bestellte Golo zwei Knechte, die mußten Genofeva

und ihren Sohn hinwegführen und sollten sie

umbringen, so oder so. Unterwegs aber jammerte den

Knechten die schöne Frau und das schöne Kind, und

sprachen untereinander: Was kann diese Frau verbrochen

haben? Und was hat sie uns getan? Sollte ihr zu

sterben bestimmt sein, brauchen wir ihr doch nicht

das Leben zu nehmen. Wir wollen dem Hund, der da

mit uns läuft, die Zunge ausschneiden und Golo zeigen,

zum Wahrzeichen, daß wir die Frau getötet, und

sie gehen lassen.

Und so taten die Knechte und ließen die arme Genofeva

mit ihrem Kinde trostlos und weinend und betend

in öder Wildnis zurück. Das Kind nannte Genofeva

Schmerzenreich, es zählte noch keine dreißig

Tage, und der Schmerz vertrocknete alle Milch in sei-

ner Mutter Brust. Da flehte die arme junge Mutter zur

Mutter aller Schmerzen und aller Seligkeiten, und die

ewige Jungfrau neigte der Verlassenen liebend ihre

Gnade zu. Aus dem Waldesdickicht trat eine Hindin,

die lagerte sich vor Genofeva hin, und Genofeva legte

ihr Söhnlein an die Zitzen des Tieres, sich selbst aber

nährte sie mit dem, was der Wald bot, und baute auch

für sich und ihren Sohn eine Hütte aus Holzstämmen,

Reisig, Dornen und Moos, da blieb sie sechs Jahre

und drei Monate und sah kein anderes Wesen als die

treue Hindin.

Da geschah es, daß der Pfalzgraf Siegfried einmal

in dieser Gegend des Waldes jagte, und da trieben die

Hunde die Hirschkuh auf, welche mit ihrer Milch Genofeva

und ihren Knaben ernähren half. Jäger und

Hunde folgten dem Wild, und die Hinde floh zur

Hütte Genofevas und kniete zu dem Knaben hin, und

Genofeva wehrte mit einem Stock die nachhetzenden

Hunde ab. Jetzt kam der Pfalzgraf, mit Staunen sah er

das Weib im Walde, fast aller Kleidung entblößt

durch diese lange Zeit, und der Pfalzgraf vermeinte, es

sei etwa ein verlaufenes heidnisches Weib oder eine

Zigeunerin, und rief sie an: Bist du eine Christin? –

Sie antwortete: Ich bin eine Christin, aber gib mir deinen

Mantel, daß ich mich bedecke. Das tat Siegfried

und fragte sie, warum sie keine Kleider habe und so

einsam im wilden Walde hause. – Meine Kleider sind

vor Alter zerschlissen, sagte sie. – Wie lange wohnest

du in diesem Walde? Und wes ist dieser Knabe? Wer

ist sein Vater? Und wie heißest du? – Auf diese Fragen

antwortete Genofeva: Sechs Jahre und drei Monate

wohne ich einsam in diesem Walde! Der Knabe ist

mein Sohn, und seinen Vater kennt Gott so gewiß, als

ich ihn kenne. Und Genofeva ist mein Name! – Bei

diesem letzten Wort erschrak der Pfalzgraf, und ein

Kämmerling trat zu ihm und sprach: Herr, trügt mich

nicht die Erinnerung, so ist das wahrhaftig unsere

Frau, die schon so lange gestorben sein soll – schaut

doch nach dem Muttermal an ihrem Halse. – Und

siehe – sie hatte das Mal. Der Pfalzgraf war abseit getreten

und wußte nicht, was er beginnen solle, und

sprach: Sehet doch, ob sie auch den Trauring noch

trägt! – Und sie trug ihn noch. Und es kam über den

Pfalzgrafen ein unsaglicher Schmerz und eine tiefe

Reue, und er eilte zu Genofeva hin, und schlang die

Arme um sie, und küßte sie, und herzte den Knaben,

und rief: Ja, das ist mein Weib! Das ist mein Sohn! –

Und Genofeva erzählte, wie es ihr ergangen durch

Golos Teufelstücke und Verrat, und da kam dieser,

sich nichts von diesem Ereignisse versehend, da zürnten

ihm die Mannen des Pfalzgrafen und wollten ihn

niederstoßen. Aber der Pfalzgraf gebot ihnen Einhalt

und sagte, daß dieser Verräter des Todes von Ritterhand

nicht wert sei. Vier Ochsen, die noch an keinem

Pfluge gezogen, wurden genommen, und an jeden Fuß

und an jede Hand des Missetäters wurden Seile gelegt

und an die Ochsen gespannt, und diese dann nach vier

Seiten getrieben. So ward Golo lebendigen Leibes in

 

vier Teile zerrissen.

Nun wollte Siegfried seine Gemahlin auf sein

Schloß führen und aller Ehren teilhaft werden lassen,

allein sie willigte nicht ein, sondern sprach: Hier an

diesem Ort hat die heilige Jungfrau mich beschirmt

und behütet, die wilden Tiere unsichtbar abgewehrt,

durch die Hinde mein Kind erhalten, dieser Ort soll

meine Stätte bleiben und der Königin aller Engel geweiht

werden. Dem willfahrete der Pfalzgraf Siegfried,

sandte zu Hildulf, dem Bischof, und ließ durch

ihn die Stätte weihen und ordnete auf Genofevas Bitten

den Bau einer Kirche an. Die Pfalzgräfin wohnte

nun unter besserm Dach, allein sie konnte keine

künstliche Speise mehr vertragen, sondern nur die gewohnte

Waldkost, und lebte nach dem Wiederfinden

nur noch wenige Tage; sie starb froh und selig, und

ruhte in der neu erbauten Waldkapelle zu Unser Frauen

Kirche, ohnweit Mayen, und es sind allda manche

Wunder geschehen, und ist die Geschichte von der

frommen Genofeva durch alle Lande gegangen. Aber

nicht allein in Pfalzel, sondern auch in Mayen, das im

Maifelde liegt, wird ein Genofeventurm gezeigt, und

die Frauenkirche alldort soll die rechte sein. Biswei-

len soll man noch Genofeva hinter dem Hochaltar sitzen

und spinnen sehen.

93. Die Weingötter am Rhein

Zu Bacharach am Rhein, wo nach altem deutschen

Reimspruch der besten Weine einer wächst, soll vorzeiten

ein Altar des Bacchus, des Weingottes, gestanden

haben, und des Ortes Name soll von diesem

Altar, Bacchi ara, herrühren, diesen Altarstein nannten

die Winzer umher auch den Elterstein. Dort ist

auch ein Fels im Rhein, der wird nur bei ganz kleinem

Rhein, bei großem Wassermangel und heißem dürren

Sommerwetter, sichtbar und stets für eine dem Weinjahr

günstige Prophezeiung genommen, denn es geht

ein Sprüchwort, das lautet: Kleiner Rhein gibt guten

Wein. – Viele meinen, daß dieser Fels selbst der Altar

des Bacchus sei, und mit Figuren verziert, und vielleicht

hat noch im schwachen Nachhall sich altheidnischer

Kult darin erhalten, daß die Schiffleute, wenn

der Elterstein sich zeigt, eine Strohpuppe als Bacchus

aufputzen und auf dem Stein befestigen, so ist der Sagenglaube

im Volke lebendig, wenn auch die Gelehrten

ungläubig den Kopf dazu schütteln.

Zu Caub, nahe der alten Burg Pfalzgrafenstein mitten

im Rheinstrom, darin vorzeiten aller Pfalzgrafen

Wiege stand, weil aller Pfalzgräfinnen Wochenbette

darinnen aufgeschlagen werden mußte, lebt noch eine

Sage von einem wunderlichen Heiligen, Theonest, des

Name wie eine Verstümmelung des griechischen

Wortes Dionysos (Bacchus) klingt. Dieser Theonest

soll aber doch nicht ein heidnischer Weingott gewesen

sein, sondern ein christlicher Martyrer, der in

Mainz bis auf den Tod gequält wurde, und dem es gelang,

in einer Weinkufe statt Nachens auf dem Rheinstrom

zu entkommen und sich abwärts tragen zu lassen.

Je weiter Theonest fuhr, um so wohler wurde ihm

zumute, und bei Caub landete er in seiner Kufe an,

predigte das Christentum und pflanzte Weinreben,

und zwar süße Trauben tragende, die kelterte er zuerst

in seiner Kufe, und davon nahm der Ort, den er hier

am Strome gründete, den Namen Caub an, und in das

Stadtsiegel nahmen hernach dankbar die Cauber das

Bild des heiligen Theonest, in seiner Kufe sitzend, als

ihr Stadtwappen und führen es in ihrem Siegel. Und

ist auch hernachmals Caub ein wichtiger Ort geworden

durch Rheinzoll und Stromreederei.

94. Die sieben Schwestern

Am Rhein unterhalb dem Pfalzgrafenstein steht eine

hochragende Burgtrümmer, Schloß Schönberg. Darauf

sollen sieben so schöne Ritterfräulein gewohnt

haben, daß ihre Schönheit selbst dem Schlosse, darinnen

sie hausten, den Namen lieh. Aber die Fräulein,

welches sieben Schwestern waren, so groß ihre

Schönheit war, so kalt und gefühllos waren sie gegen

die Minne. Keines Ritters Bewerbung erhörten sie,

einen Freier nach dem andern wiesen sie ab, manches

junge edle Herz brach an den Felsenherzen der sieben

schönen Schwestern. Aber das Geschick beschloß

ihre Strafe. Eines Tages landete ein Nachen unten am

Fuße des Berges, darinnen sieben herrliche Jünglinge

saßen, in ritterlicher Tracht und von vornehmem Gebaren.

Sie kamen zur Burg, sie stellten sich den Fräulein

dar, sie warben um Herzen und Hände. Es war

vergebens, die sieben Schwestern blieben kalt. Mit

einem Male verdunkelte sich der Himmel, eine höllische

Musik ertönte, die Jünglinge umschlangen die

sieben Schwestern, jeder eine, wie zum Tanzreigen,

und schwangen sie tanzend und drehend aus der Burg,

über die Zugbrücke, den Berg hinab in den Strom hinein,

der stürmisch unter Donnern und Blitzen

wogte. – Als es wieder hell und friedlich am reizen-

den Stromesufer geworden war, siehe, da ragten sieben

Felsenspitzen aus dem Strome, in diese waren die

Jungfrauen mit den Felsenherzen zur Strafe ihrer unnatürlichen

Härte verwandelt. Größere Flut überwogt

sie, kleinere läßt sie sichtbar werden. Die Rheinschiffer

kennen sie unter dem Namen der sieben Jungfern

und haben unter sich die Sage: Wenn einst ein Mächtiger

diese Felsen dem Strombette enthübe und sie zu

Säulen einer Betkapelle am Ufer bilde, so würden die

Jungfrauen erlöst werden, wieder auf die sich erneuende

Burg zurückkehren und jede nach der jahrhundertelangen

harten Buße einen Mann beglücken.

95. Lurlei

Wo das Stromtal des Rheins unterhalb Caub am engsten

sich zusammendrängt, starren hoch und schroff

zu beiden Seiten echoreiche Felsenwände von Schiefergestein

schwarz und unheimlich hoch empor.

Schneller schießt dort die Stromflut, lauter brausen

die Wogen, prallen ab am Fels und bilden schäumende

Wirbel. Nicht geheuer ist es in dieser Schlucht,

über diesen Stromschnellen; die schöne Nixe des

Rheins, die gefährliche Lurlei oder Lorelei, ist in den

Felsen gebannt, doch erscheint sie oft den Schiffern,

strählt mit goldenem Kamme ihr langes flachsenes

Haar und singt dazu ein süß betörendes Lied; mancher,

der davon sich locken ließ, der den Fels erklimmen

wollte, fand seinen Tod in den Wellenwirbeln.

Rheinab und -auf ist keine Sage so in aller Mund als

die von der Lurlei, aber sie gleicht dem Echo der

Uferfelsen, das sich mannigfach rollend bricht und

wiederholt. Viele Dichter haben sie ausgeschmückt –

bis fast zur Unkenntlichkeit.

Lurlei ist die Rhein-Undine. Wer sie sieht, wer ihr

Lied hört, dem wird das Herz aus dem Busen gezogen.

Hoch oben auf ihres Felsen höchster Spitze steht

sie, im weißen Kleide, mit fliegendem Schleier, mit

wehendem Haar, mit winkenden Armen. Keiner aber

kommt ihr nahe, wenn auch einer den Felsgipfel erstiege,

sie weicht vor ihm – sie schwebt zurück, sie

lockt ihn durch ihre zaubervolle Schönheit – bis an

des Abgrunds jähen Rand, er sieht nur sie, er glaubt

sie vor sich auf festem Boden, schreitet vor und stürzt

zerschmetternd in die Tiefe.

Eine Sage von heitrerer Färbung als alle die andern,

die, wenn sie sich auch sonst nicht gleichen,

doch in der melancholischen Färbung und dem trüben

Ausgang einander ähnlich sind, ist diese. Einst schiffte

auch der Teufel auf dem Rhein und kam zwischen

die Lurleifelsen; der Paß schien ihm zu enge, er wollte

ihn weit haben und den gegenüberliegenden Felsenkoloß

entweder von der Stelle rücken oder in solche

Brocken brechen, daß sie den Strom ganz sperren und

unschiffbar machen sollten; da stemmte er nun seinen

Rücken an den Lurleifels und hob und schob und rüttelte

am Berge gegenüber. Schon begann dieser zu

wanken, da sang die Lurlei. Der Teufel hörte den Gesang,

und es wurde ihm seltsam zumute. Er hielt inne

mit seiner Arbeit und hielt es fast nicht länger aus.

Gern hätte er sich selbst die Lurlei zum Liebchen erkoren

und geholt, aber er hatte keine Macht über sie,

wurde aber von Liebe so heiß, daß er dampfte. Als

der Lurlei Lied schwieg, eilte der Teufel von dannen;

er hatte schon gedacht, an den Fels gebannt bleiben

zu müssen. Aber als er hinweg war, da zeigte sich, o

Wunder, seine ganze Gestalt, den Schwanz nicht ausgenommen,

in die Felswand schwarz eingebrannt,

womit er sein Andenken bei der Lurlei verewigte.

Nachher hat sich der Teufel sehr gehütet, der Sirene

des Rheins wieder nahe zu kommen, und hat gefürchtet,

wenn er von ihr abermals gefesselt werde, in seinen

Geschäften große Unordnung und Unterbrechung

zu erleiden.

Die Lurlei aber singt immer noch in stillen ruhigen

Mondnächten, erscheint immer noch auf dem Felsengipfel,

harrt immer noch auf Erlösung. Aber die Liebenden,

die sich von ihr betören ließen, sind ausgestorben;

die heutige Welt hat keine Zeit, ihren Fels zu

besteigen oder im Nachen sich in Mondnächten diesem

zu nahen. Der Räderumschwung des raschen

Dampfschiffes braust ohne Aufenthalt vorüber, und

durch sein Rauschen dringt keine Sang- und Sagenstimme

mehr.

96. Sankt Goars Wunder

Aus dem Lande Aquitanien kam ein frommer Mönch

in die Rhein- und Mosellande. Auch an der Lahn

nahm er eine Zeitlang den Aufenthalt, predigte, breitete

das Christentum aus und übte manches Wunder.

Ein Fels unterhalb der Lurlei zeugt noch von ihm;

man erblickt in diesem Felsen eine ausgehauene viereckige

Vertiefung und nennt dieselbe St. Goars Kanzel

oder auch St. Goars Bett. Dort soll der heilige

Mann lange Zeit gelebt und gewohnt haben, das

Evangelium zu verkünden und verunglückenden

Schiffern beizustehen. Noch ist, und für alle Zeiten,

des Heiligen Name fortlebend in den einander gegenüberliegenden

Ortschaften St. Goarshausen und St.

Goar am Rhein, und zu Pfalzfeld in der Nähe hinter

St. Goar soll ihm eine Denksäule errichtet worden

sein. In seiner Zelle zu St. Goar soll der Heilige verstorben

sein, worauf die Andacht ihm eine Kapelle

dort errichtete, die schon zu Kaiser Karl des Großen

Zeiten stand und berühmt war als ein Haus freigebiger

Milde und Gastlichkeit gegen Reisende, Schiffer,

Pilger und Wallfahrer. In der Gruft der von einem

Grafen von Katzenellenbogen, denen diese Landschaft

gehörte, erbauten Kirche steht die Bildsäule

des Heiligen lebensgroß, und waren auch sonst viele

Heiligtümer dort aufbewahrt, sind aber hinweggekommen.

Manche nennen St. Goar den Apostel von

Trier. Dorthin beschied ihn einst der Bischof Rusticus

durch Sendboten; dieser hatte von des Heiligen Wundern

gehört und konnte sie nicht glauben. St. Goar

folgte den Boten, aber der Weg war völlig wüst und

unwirtbar, es gebrach an Zehrung, und die Sendboten

sprachen: Wenn kein Wunder hilft, so verschmachten

wir. Da übte St. Goar gleich ein Wunder. Er rief in

den Wald hinein, und es kamen drei milchende

Hirschkühe, ließen sich melken, und ihre Milch rettete

die Botschafter. Als der heilige Mann zu Trier vor den

Bischof Rusticus geführt wurde, war ihm warm vom

Gange, denn es war heiße Sommerzeit, und er sah

sich im Versammlungssaale nach einem Ort oder

Nagel um, seinen Mantel dahin zu hängen, gewahrte

aber keinen solchen, und da hing er den Mantel auf

einen Sonnenstrahl, der schrägwärts herein in den

Saal fiel. Alle erstaunten, der Bischof aber zweifelte

noch immer, und da ward ein Säugling hereingetragen,

welcher am selben Tage gefunden worden war.

Lasse uns, o heiliger Mann, so du es vermagst, aus

dieses armen Säuglings Munde vernehmen, wer sein

Vater ist! sprach der Bischof. Da rührte St. Goar mit

dem Finger des Säuglings Lippen an, und die Versammlung

vernahm deutlich aus des Kindes Munde

die Worte:

Pater meus:

Rusticus,

Episcopus!

Da glaubte der Bischof ganz still an die Wundergabe

St. Goars und versuchte ihn nicht weiter, wünschte

 

auch nicht, daß der Säugling ferner spreche. –

Einst fuhr Kaiser Karl der Große von seinem Palast

in Ingelheim gen Koblenz, an St. Goars Zelle vorüber,

ohne dort vorzusprechen, das nahm der Heilige

übel und schuf einen so dichten Nebel, daß Karl landen

und auf freiem Felde eine Nacht zubringen mußte.

Seinen Söhnen hingegen, Karl und Pipin, welche

einen Haß gegeneinander trugen und zufällig in St.

Goars Zelle zusammentrafen, goß der Heilige Versöhnung

in das Herz. Auch heilte er mildiglich auf ihr

Anrufen des großen Kaisers Gemahlin Fastrada von

heftigem Zahnweh. Karl der Große schenkte dankbar

dem gastlichen Kapellenhause ein Faß guten Weines.

Dieses segnete der Heilige mit der Kraft des Nimmerversiegens.

Einst vergaß, vermutlich, weil er diese

Kraft allzusehr erprobt, ein Pater Kellermeister den

Hahn richtig zu schließen, so daß er stark tropfte, da

kam eine Spinne daher, die webte so eifrig unter der

Hahnöffnung fort und fort, bis sie das Gewebe so

dicht gemacht, daß auch kein Tropfen mehr herauslief.

Das alles wirkte noch lange nach seinem Ableben

St. Goar durch seine fortdauernde Wunderkraft.

97. Die Brüder

Auf den nachbarlichen Burgen Sternfels und Liebenstein

am Rhein wohnten zwei Brüder, die waren sehr

reich und hatten die Burgen stattlich von ihres Vaters

Erbe erbaut. Da ihre Mutter starb, wurden sie noch

reicher, beide hatten aber eine Schwester, die war

blind, mit der sollten nun die Brüder der Mutter Erbe

teilen. Sie teilten aber, da man das Geld in Scheffeln

maß, daß jedes ein volles Maß nach dem andern

nahm, und die blinde Schwester fühlte bei jedem, daß

eines so richtig voll war wie das andere; die arglistigen

Brüder drehten aber jedesmal, wenn es ans Maß

der Schwester ging, dieses um und deckten nur den

von schmalem Rand umgebenen Boden mit Geld zu,

da fühlte die Blinde oben darauf und war zufrieden,

daß sie ein volles Maß empfing, wie sie nicht anders

glaubte. Sie war aber gottlos betrogen, dennoch war

mit ihrem Gelde Gottes Segen, sie konnte reiche Andachten

in drei Klöster stiften, zu Bornhofen, zu Kidrich

und Zur Not Gottes. Aber mit dem Gelde der

Brüder war der Unsegen für und für, ihre Habe verringerte

sich, ihre Herden starben, ihre Felder verwüstete

der Hagel, ihre Burgen begannen zu verfallen, und sie

wurden aus Freunden Feinde und bauten zwischen

ihren nachbarlich nahe gelegenen Burgen eine dicke

Mauer als Scheidewand, deren Reste noch heute zu

sehen sind. Als all ihr Erbe zu Ende gegangen, versöhnten

sich die feindlichen Brüder und wurden wieder

Freunde, aber auch ohne Glück und Segen. Beide

bestellten einander zu einem gemeinschaftlichen Jagdritt,

wer zuerst munter sei, solle den andern Bruder

frühmorgens durch einen Pfeilschuß an den Fensterladen

wecken. Der Zufall wollte, daß beide gleichzeitig

erwachten, beide gleichzeitig die Armbrust spannten,

im gleichen Augenblick den Laden aufstießen und

schossen, und daß der Pfeil jedes von ihnen dem andern

in das Herz fuhr – das war der Lohn ihrer untreuen

Tat an ihrer blinden Schwester.

Andere erzählen, es habe das Geschick nur den

einen Pfeil eines der Brüder dem einen der Brüder in

das Herz gelenkt, darauf sei der andere zur Buße nach

dem Heiligen Grabe gepilgert und im Morgenlande

verstorben. Noch andere haben neue Märlein über

dies feindliche Brüderpaar ersonnen, denen Kundige

es auf den ersten Blick ansehen, daß sie früher nie als

Sagen im Volke lebten.

98. Die wandelnde Nonne

Nahe bei Niederlahnstein, am rechten Rheinufer,

stand einst ein Frauenkloster, Machern, darinnen ging

es nichts weniger als gottwohlgefällig zu. Es gab Besuche

von Mönchen aus Nachbarklöstern, gab wüste

Gelage, Geschrei, auch nächtliche Reigen, und spät

des Nachts fuhren die Mönche auf raschen Rollwagen

durch den Hohlweg, einen Bach entlang, nach

Herchheim und Niederlahnstein zu. Nur eine einzige

Nonne war fromm und tugendhaft, sie betete viel und

las die heiligen Geschichten, während ihre Schwestern

sich im vollen Sinnentaumel aller Weltlust hingaben.

Da kam einst ein frommer Klausner namens Michael,

der in einem stillen Tale bei Marienburg hauste, in

einer Sturmnacht an das Klostertor, als gerade im

Kloster der Konvent die Lahnsteiner Kirmes feierte,

wobei es hoch herging und nicht an geliebten Gästen

fehlte, und begehrte Einlaß, allein die weltlichen Sünderinnen

fürchteten einen geistlichen Zeugen und ließen

ihn nicht ein, sie ließen ihn obdachlos und ungelabt

draußen bleiben. Da verwünschte der fromme

Mann im zornigen Eifer das ganze Kloster und die

Nonnen zu Nachteulen und Nachtgespenstern und alle

die buhlenden Mönche zu Teufelslarven, und am

Morgen – war das Kloster verschwunden, und öde

war die Stätte, wo es gestanden. Seitdem vernimmt

man alljährlich zur Zeit des Lahnsteiner Kirmesfestes

hinten in der Talschlucht, wo das Kloster stand, Gekreisch

und Geheul und wilden Spuk, den Schall von

Buhlliedern und wieder dazwischen fromme Weisen –

und gewahrt auch wohl grausige Mönchsgespenster

auf Rollwagen mit feuersprühenden Rädern durch das

Tal dahinfahren. Die einzige fromme Nonne aber

wandelt in heiligen Nächten und auch zu jener Kirmeszeit

ernst und mild an einen verwitterten Bildstock,

der am Bächlein steht, das aus dem Tale

kommt, ab und auf und scheint in einem Buche zu

lesen. Niemand tut sie etwas zuleide, grüßt auch

wohl, doch ist ihr Anblick vielen schon schreckend

gewesen.

Das Kloster Machern aber, das hier der Einsiedel

Michael mit seiner Verwünschung dem Boden enthob,

wurde an der Mosel nahe bei Zeltingen wiedergefunden

und dort mit frommen Insassen bevölkert.

Vom Klausner Michael aber geht die Sage, daß er

beim Nahen des Todes Gott angefleht, seinen Leichnam

nicht unbegraben zu lassen, und siehe, als er

Todes verblich, da läuteten die Glocken der alten Johanniskirche

bei Niederlahnstein von selbst, von Engelhänden

gezogen; da kamen Menschen herbei, erhuben

des Klausners Hülle und bestatteten sie in des Johanniskirchhofs

geweihete Erde.

99. Die Frau von Stein

Auf dem Schlosse Stein im Nahetale wohnte eine edle

Herrin des gleichen Namens, die war eine Witwe und

hatte einen gar mannlichen und ritterlichen Herrn zum

Gemahl gehabt. Von dem hatte sie vier blühende

Töchter und zwei Söhne, die hatten auch bereits den

Ritterschlag empfangen, die vier Töchter aber waren

alle vermählt, und jeder ihr Gemahl war auch ein Ritter,

untadelig und wohlgetan. Da gab einstens die edle

Frau von Stein ihren Söhnen, Eidamen und Töchtern

ein stattlich Gastmahl, und hatte außer diesen niemand

dazu geladen, und waren bei Tische alle fröhlich

und guter Dinge, und da sprach die Frau von

Stein: Vier biedere Ritter zu Eidamen, zwei biedere

Ritter zu Söhnen, vier brave blühende Töchter! Und

eines herrlichen Ritters Witwe! Welche Witwe kann,

gleich mir, sich solchen Glückes rühmen? Dieser

Ehren ist allzuviel, deren ich teilhaft worden! – Die

Söhne, Töchter und Eidame vernahmen der Mutter

Wort, priesen sie als die glücklichste Witwe des

Reichs und ließen auf der Mutter Wohl und langes

Leben die Becher freudig aneinanderklingen. Nach

einer Weile verließ die Frau von Stein ihren Sitz, als

wolle sie draußen noch etwas befehlen oder anordnen

– und die Versammelten plauderten lange, ehe

ihnen auffiel, daß ja die Mutter gar nicht wiederkam.

Der Heerwisch

Vielleicht habe sie sich ein wenig zum Schlummer

niedergelegt, vermuteten die Töchter und sahen leise

in ihr Schlafklosett, die Frau von Stein war aber nicht

darin. Das Gesinde ward befragt, aber keins hatte die

Frau hinweggehen sehen – und niemand hat je erfahren,

wohin sie gegangen, und niemand hat sie jemals

wiedergesehen, denn nimmer kam sie wieder.

100. Der kühne Kurzbold

Es war ein Graf des untern Lahngaues, Kunz, ein

Bruderssohn des deutschen Königs Konrad, des Vaters

von Heinrich dem Finkler – der war gar ein tapferer

Held und Degen, aber klein von Gestalt, daher

hatte er den Beinamen Kurzbold erhalten, was nicht

viel mehr besagen will als Däumling. Aber je kleiner

Kurzbolds Körper war, um so größer war sein Geist,

der verschaffte dem Helden den Namen des Weisen.

Der Held Kurzbold hing mit eiserner Freundschaft an

Heinrich dem Finkler, gegen den das salische Geschlecht

der nahen Anverwandten Kurzbolds sich empörte

und zu Felde zog. Das waren vornehmlich Giselbert,

Herzog von Lothringen, Eberhard, Herzog

von Franken, die führten ein Heer und wollten bei

Breisig, unterhalb Andernach, über den Rhein fahren.

Da harrte ihrer am andern Ufer Kurzbold mit nur vierundzwanzig

Wappnern, und als der eine Nachen,

darin Giselbert, der Lothringer, saß, anlanden wollte,

da stieß Kurzbold seine Lanze mit so heftiger Gewalt

in den Kahn, daß dieser alsbald sank und niedertauchte

und die Rheinflut alle darinnen Sitzenden überströmte

und verschlang. Während dies geschah, war

Eberhard der Franke gelandet; alsobald wandte sich

Kurzbold gegen ihn, rannte ihn an und stieß ihn mit

seinem Schwerte durch und durch.

Da Heinrich der Finkler nicht mehr am Leben war

und Otto, zubenamt der Erste oder auch der Große,

deutscher König geworden, hielt auch der den Helden

Kurzbold gar wert. Da der König mit Kurzbold einstmals

allein stand, geschah es, daß ein gefangener

Löwe aus seinem Käfig brach und auf beide Männer

zustürzte. Der König, der unbewehrt stand, griff nach

Kurzbolds Schwert, das dieser an der Seite trug, aber

Kurzbold kam dem König zuvor, warf sich dem

Löwen entgegen und tötete ihn. Zu einer andern Zeit

forderte ein riesenhaft gewachsener Petscheneger aus

dem dem König Otto gegenüberliegenden Slawenheere

des Herzogs von Böhmen die Heerführer Ottos

zum Zweikampfe, indem er auf seine große Kraft und

furchtbare Gestalt pochte. Da trat ihm, wie voreinst

dem Riesen Goliath der kleine David, der kühne

Kurzbold entgegen zum Fußkampf mit Lanzen, entglitt

gewandt dem Stoß des Riesen und rannte ihn mit

seiner Lanze und mit seiner schrecklichen Kraft sogleich

zu Boden. Zweierlei mochte Held Kurzbold

nicht leiden, Weiber und Äpfel, daher blieb er unverheiratet