Anne & Rilla – Zum ersten Mal verliebt

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Aus der Reihe: Anne Shirley Romane #5
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Morgentau

Die Sonne verwandelte den Garten von Ingleside in lauter kleine goldene Seen, die sich abwechselten mit geheimnisvollen Schatten. Rilla Blythe schaukelte in der Hängematte unter der großen schottischen Pinie, Gertrude Oliver saß neben ihr am Fuß des Baumes, und Walter lag ausgestreckt im Gras, vertieft in einen Ritterroman, in dem alte Helden und längst vergangene Zeiten für ihn neu zum Leben erwachten.

Rilla war das „Baby“ in der Familie Blythe. Sie war knapp fünfzehn und ärgerte sich darüber, daß niemand sie für erwachsen halten wollte. Noch dazu war sie fast so groß wie Di und Nan. Und sie war beinah so hübsch, wie Susan es von ihr behauptete. Sie hatte große braune, verträumte Augen, einen zarten Teint mit lauter kleinen goldenen Sommersprossen und fein geformte Augenbrauen, die ihr einen ernsten, fragenden Ausdruck verliehen und die Leute aufmerksam machten, ganz besonders junge Männer in ihrem Alter. Ihr Haar war rötlichbraun, und sie hatte ein Grübchen in ihrer Oberlippe, als wenn eine gute Fee ihr dieses Grübchen bei der Taufe mit dem Finger eingedrückt hätte. Rillas beste Freundinnen, die wußten, daß sie ein wenig eitel war, fanden an ihrem Gesicht nichts auszusetzen. Nur ihre Figur gefiel ihnen nicht recht. Wenn man ihre Mutter doch bloß davon überzeugen könnte, daß ihr lange Kleider besser standen! So dick und rund sie als kleines Kind gewesen war, so unglaublich mager war Rilla jetzt. Sie bestand nur aus Armen und Beinen. Jem und Shirley quälten sie, weil sie sie „Spinne“ nannten. Dabei wirkte sie nicht etwa unbeholfen. Vielmehr hatten ihre Bewegungen den Anschein, als ob sie nicht ging, sondern tanzte. Rilla war immer ein kleiner Sonnenschein gewesen, man hatte sie sogar ein kleines bißchen verwöhnt, aber die meisten Leute fanden, daß sie ein süßes Mädchen war, auch wenn sie vielleicht nicht so klug war wie Nan und Di.

Miss Oliver, die noch am Abend nach Lowbridge aufbrechen wollte, um dort die Ferien zu verbringen, wohnte seit einem Jahr in Ingleside. Die Blythes hatten sie Rilla zuliebe bei sich aufgenommen. Rilla liebte ihre Lehrerin heiß und innig, und da kein anderes Zimmer zur Verfügung stand, war sie sogar bereit gewesen war, ihr eigenes mit ihr zu teilen. Gertrude Oliver war achtundzwanzig Jahre alt, und sie hatte es schwer gehabt in ihrem bisherigen Leben. Sie fiel auf durch ihre traurigen, mandelförmigen braunen Augen, den hübschen, etwas spöttisch wirkenden Mund und die dichte schwarze Haarpracht. Sie war nicht hübsch, aber ihr Gesicht wirkte interessant und geheimnisvoll, und Rilla fand sie einfach faszinierend. Selbst wenn sie gelegentlich trübsinnig und zynisch war, hatte sie für Rilla immer noch etwas Bezauberndes. Solche Launen überkamen Miss Oliver jedoch nur, wenn sie müde war. Sonst war sie sehr umgänglich und steckte voller Ideen, und die fröhliche Schar von Ingleside vergaß dann ganz, daß sie doch um einiges älter war als sie selbst. Miss Oliver mochte Walter und Rilla besonders gern, und sie war die Vertraute ihrer geheimen Wünsche und Sehnsüchte. Sie wußte zum Beispiel, daß Rilla sich danach sehnte „auszugehen“: Parties zu besuchen, so wie Nan und Di, und elegante Abendkleider zu tragen und – warum sollte man um den heißen Brei herumreden – Verehrer zu haben! Im Plural, wohlgemerkt! Und was Walter betraf, so wußte Miss Oliver, daß er eine Reihe Gedichte „an Rosamunde“ (Faith Meredith) geschrieben hatte und daß er es sich zum Ziel gesetzt hatte, an irgendeiner großen Universität Professor für englische Literatur zu werden. Sie kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für alles Schöne genauso wie seine tiefe Abneigung gegen alles Häßliche. Sie kannte seine Stärken und seine Schwächen.

Walter war, wie eh und je, der hübscheste der Ingleside-Jungen. Miss Oliver schaute ihn deshalb gerne an. Er sah genauso aus, wie sie es sich für ihren eigenen Sohn gewünscht hätte: glänzendes schwarzes Haar, leuchtende dunkelgraue Augen und klare Gesichtszüge. Und die Fingerspitzen eines Dichters! Seine Gedichte waren wirklich bemerkenswert für einen jungen Mann von gerade zwanzig Jahren. Ohne für ihn Partei ergreifen zu wollen, wußte sie, daß Walter Blythe eine wunderbare Gabe besaß.

Rilla liebte Walter von ganzem Herzen. Er neckte sie nie, so wie Jem und Shirley es gern taten. Er nannte sie nie „Spinne“. Sein Kosename für sie war „Rilla-meine-Rilla“, in Anlehnung an ihren richtigen Namen „Marilla“. Sie war nach Tante Marilla von Green Gables getauft worden, doch Tante Marilla war gestorben, bevor Rilla überhaupt Gelegenheit hatte, sie richtig kennenzulernen, und der Name als solcher war ihr verhaßt. Sie fand ihn schrecklich altmodisch und spröde. Wieso riefen sie sie nicht bei ihrem ersten Namen „Bertha“, der klang doch so schön und würdevoll! Statt dessen immer dieses blöde „Rilla“! Gegen Walters Version hatte sie jedoch nichts einzuwenden, aber außer ihm durfte niemand sie so nennen, höchstens Miss Oliver ab und zu. „Rilla-meine-Rilla“ mit Walters musikalischer Stimme klang einfach wunderschön. Wie das Plätschern und Sprudeln eines glitzernden Baches. Für Walter würde sie sogar sterben, wenn sie ihm damit etwas Gutes tun könnte, sagte sie im Vertrauen zu Miss Oliver. Rilla neigte, wie fast alle Mädchen im Alter von fünfzehn, leicht zu Übertreibungen. Doch am schlimmsten für sie war der Verdacht, daß Walter Di womöglich mehr von seinen Geheimnissen verriet als ihr.

„Er denkt wohl, ich bin noch nicht erwachsen genug, um ihn zu verstehen“, beklagte sie sich einmal wütend bei Miss Oliver. „Aber ich bin erwachsen genug! Und ich würde niemals etwas weitersagen, noch nicht mal Ihnen, Miss Oliver. Ihnen verrate ich meine eigenen Geheimnisse – ich wäre todunglücklich, wenn ich vor Ihnen Geheimnisse hätte –, aber seine würde ich nie verraten. Ich erzähle ihm alles, sogar mein Tagebuch zeige ich ihm. Aber wenn er mir etwas verschweigt, dann leide ich furchtbar darunter. Er zeigt mir immerhin alle seine Gedichte. Die sind einfach wunderbar, Miss Oliver. Ach, was gäbe ich darum, eines Tages für Walter das zu sein, was Wordsworths Schwester Dorothy für ihn war. Dabei ist das, was Wordsworth geschrieben hat, überhaupt nicht vergleichbar mit Walters Gedichten. Von Tennyson ganz zu schweigen.“

„Das würde ich nicht sagen. Beide haben eine ganze Menge Unsinn geschrieben“, sagte Miss Oliver trocken, fügte aber auf Rillas betroffenen Blick reumütig hinzu: „Aber ich glaube, daß Walter – irgendwann einmal – ein großer Dichter sein wird, vielleicht sogar der erste wirklich große Dichter, den Kanada je gesehen hat. Und wenn du älter wirst, wird er dir auch mehr anvertrauen.“

„Als Walter letztes Jahr mit Typhus im Krankenhaus lag, bin ich fast verrückt geworden“, seufzte Rilla etwas pathetisch. „Niemand hat mir gesagt, wie krank er wirklich ist. Vater wollte das nicht. Ich habe es erst erfahren, als es vorbei war. Aber ich bin froh, daß ich es nicht gewußt habe, das hätte ich einfach nicht ertragen. Ich habe mich ohnehin jeden Abend in den Schlaf geweint. Aber manchmal“, sagte Rilla bekümmert – es gefiel ihr, hin und wieder Miss Olivers Ton nachzuahmen –, „manchmal denke ich, Walter kümmert sich mehr um Monday als um mich.“

Monday war der Haushund von Ingleside. Er hieß so, weil er an einem Montag, als Walter gerade Robinson Crusoe las, in die Familie kam. Eigentlich gehörte er Jem, aber er hing genauso an Walter. Jetzt lag er gerade neben Walter, die Schnauze an seinen Arm gekuschelt, und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, wenn Walter ihn geistesabwesend tätschelte. Monday war weder ein Collie noch ein Setter, geschweige denn ein Jagdhund oder ein Neufundländer. Er war, wie Jem sagte, „ganz einfach ein Hund“. „Ein äußerst einfacher Hund“, wie unbarmherzige Leute zu bemerken pflegten. Gewiß, Monday sah nicht gerade überwältigend aus. Schwarze Flecken verteilten sich, wild verstreut, auf seinem gelben, mageren Fell. Einer davon saß direkt auf seinem Auge. Seine Ohren sahen aus wie ausgefranst. Ein Schmuckstück war er wirklich nicht. Aber er besaß eine gute Gabe. Er wußte, daß nicht alle Hunde hübsch oder ausdrucksvoll oder siegreich sein konnten, aber er wußte, daß alle Hunde lieben konnten. So reizlos sein Äußeres war, hatte er doch das gütigste, treueste und ehrlichste Herz, das je ein Hund besessen hat. Und er hatte die seelenvollsten Augen, die man sich denken kann. Jeder auf Ingleside mochte ihn, sogar Susan, auch wenn seine Vorliebe, sich ins Gästezimmer zu schleichen, um dort auf dem Bett sein Schläfchen zu halten, ihre Zuneigung empfindlich auf die Probe stellte.

An diesem Nachmittag saß Rilla im Garten und brauchte sich um nichts zu sorgen.

„War es nicht ein wunderschöner Juni?“ sagte sie und blickte verträumt in die Ferne, wo kleine silberne Wölkchen friedlich über dem Regenbogental hingen. „Wir haben soviel Spaß gehabt. Und so schönes Wetter. Es war einfach alles wunderschön.“

„Irgendwie gefällt mir das nicht“, sagte Miss Oliver und seufzte. „Das kann nichts Gutes bedeuten. Wenn alles wunderschön ist, ist das ein Geschenk der Götter, eine Art Ausgleich für das, was hinterher kommt. Mir ist das schon so oft aufgefallen, daß ich nichts darum gebe, wenn jemand sagt, es sei alles wunderschön gewesen. Der Juni war ganz nett, ja, das stimmt.“

„Ich gebe zu, es ist nichts besonders Aufregendes passiert“, sagte Rilla. „Das einzig Aufregende, was im ganzen letzten Jahr in Glen passiert ist, war, als die alte Miss Mead in der Kirche in Ohnmacht gefallen ist. Manchmal wünschte ich, es würde mal etwas richtig Dramatisches passieren.“

„Wünsch dir das lieber nicht! Irgend jemand muß immer unter dem Drama leiden. Was für einen schönen Sommer werdet ihr junges Volk dieses Mal haben! Und ich hocke in Lowbridge und blase Trübsal!“

„Sie kommen uns aber so oft wie möglich besuchen, ja? Ich glaube, wir werden diesen Sommer viel Spaß haben, obwohl ich wahrscheinlich wie üblich wieder nur den Zaungast spielen darf. Ist es nicht furchtbar, wenn die Leute einen immer noch für ein kleines Kind halten, auch wenn man das längst nicht mehr ist?“

 

„Du hast noch genug Zeit zum Erwachsenwerden, Rilla. Sei froh, daß du jung bist. Die Jugend geht viel zu schnell vorbei. Du wirst bald einen Vorgeschmack vom Leben bekommen.“

„Vorgeschmack! Aufessen will ich es!“ lachte Rilla. „Ich will alles! Alles, was ein Mädchen haben kann. In einem Monat bin ich fünfzehn, und dann kann niemand mehr sagen, ich wäre noch ein Kind. Jemand hat mal gemeint, das Alter zwischen fünfzehn und neunzehn wäre das beste für ein Mädchen. Ich werde eine großartige Zeit daraus machen und einfach nur Spaß haben!“

„Es hat gar keinen Zweck, sich auszumalen, was man machen will, es kommt doch nicht dazu.“

„Aber das Ausmalen allein macht doch schon Spaß!“ rief Rilla ausgelassen.

„Du denkst wohl an nichts anderes als an Spaß, du kleiner Dummkopf“, sagte Miss Oliver nachsichtig und bewunderte dabei heimlich Rillas hübsches Kinn. „Was soll einem mit fünfzehn auch sonst einfallen? Denkst du denn überhaupt nicht daran, diesen Herbst aufs College zu gehen?“

„Nein, diesen Herbst nicht und auch keinen anderen. Ich will einfach nicht. Mich interessieren diese schlauen Wörter nicht, auf die Nan und Di so versessen sind. Außerdem gehen schon fünf von uns aufs College. Das reicht doch wohl. Einen Dummkopf muß schließlich jede Familie haben. Ich bin gern bereit, der Dummkopf zu sein, solange ich hübsch bin und begehrt. Ich kann nicht klug sein. Ich habe für nichts Talent, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie bequem das ist. Niemand erwartet etwas von mir, keiner belästigt mich. Und für hausfrauliche Sachen eigne ich mich auch nicht. Ich hasse Nähen und Staubwischen, und wenn Susan es schon nicht fertigbringt, mir Plätzchenbacken beizubringen, dann lerne ich das auch nie. Vater sagt, ich hätte zwei linke Hände. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als nur schön zu sein“, schloß Rilla und lachte.

„Du bist zu jung, um überhaupt nichts mehr zu lernen, Rilla.“

„Keine Sorge, Mutter will mich im Winter in einen Vorlesekurs schicken. Sie will wohl ihr Ansehen auffrischen. Zum Glück lese ich gern. Jetzt sehen Sie mich doch nicht so traurig und so mißbilligend an. Ich kann eben nicht vernünftig und ernst sein. Alles sieht in meinen Augen so rosarot und himmelblau aus. Nächsten Monat bin ich fünfzehn. Und nächstes Jahr sechzehn. Und übernächstes Jahr siebzehn. Gibt es denn etwas Aufregenderes als das?“

„Hals- und Beinbruch“, sagte Gertrude Oliver halb scherzhaft, halb im Ernst. „Hals- und Beinbruch, Rilla-meine-Rilla!“

Mondscheinparty

Rilla gähnte, reckte und streckte sich und lächelte dann Gertrude Oliver zu. Miss Oliver war gestern abend von Lowbridge herübergekommen, und sie hatte sich dazu überreden lassen, noch bis zur Tanzparty im Leuchtturm von Four Winds dazubleiben.

„Der neue Tag klopft ans Fenster. Was er uns wohl bringen mag?“

Miss Oliver zitterte ein wenig. Ihr gelang es nie, einen Tag mit einer solchen Begeisterung zu begrüßen wie Rilla. Sie war alt genug, um zu wissen, daß ein Tag auch etwas Schreckliches mit sich bringen kann.

„Ich finde, das reizvollste an einem Tag ist das Unerwartete“, sagte Rilla. „Es ist doch lustig, an so einem schönen, sonnigen Morgen aufzuwachen und sich zu fragen, was für ein Überraschungspaket der Tag dir überbringen wird. Ich döse immer noch zehn Minuten vor mich hin, bevor ich aufstehe, und male mir all die wunderbaren Dinge aus, die passieren könnten, bevor es Abend wird.“

„Ich hoffe, daß heute etwas ganz Unerwartetes passiert“, sagte Gertrude. „Ich hoffe nämlich, daß die Post uns die Nachricht überbringt, daß der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich abgewendet worden ist.“

„Ach so – ja“, sagte Rilla etwas unsicher. „Wenn nicht, ist das wahrscheinlich schrecklich, nehme ich an. Aber was wäre eigentlich so schrecklich daran? Ein Krieg wäre vielleicht ganz aufregend. Der Burenkrieg soll doch so spannend gewesen sein, aber das habe ich natürlich alles wieder vergessen. Miss Oliver, soll ich heute abend mein weißes Kleid anziehen oder mein neues grünes? Das grüne ist natürlich viel hübscher, aber ich getraue mich fast nicht, es zu einer Strandparty anzuziehen, es könnte ja kaputtgehen. Würden Sie mir diese neue Frisur machen? Von den Mädchen aus Glen trägt sie bis jetzt keine, das wäre doch die Sensation!“

„Wie hast du denn deine Mutter dazu überredet, daß sie dich zu der Tanzparty gehen läßt?“

„Walter hat sie ein bißchen um den Finger gewickelt. Er wußte, daß ich todunglücklich wäre, wenn ich nicht hingehen dürfte. Das ist meine erste richtige Erwachsenenparty, Miss Oliver, und ich bringe schon seit einer Woche schlaflose Nächte zu, weil ich immer daran denken muß. Als ich heute morgen die Sonne gesehen habe, hätte ich am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. Wäre es nicht schrecklich, wenn es heute abend regnen würde? Ich glaube, ich riskiere es, das grüne Kleid anzuziehen. Auf meiner ersten Party will ich so schön wie möglich aussehen. Außerdem ist es zweieinhalb Zentimeter länger als das weiße. Und meine Silberschuhe werde ich auch anziehen. Mrs. Ford hat sie mir zu Weihnachten geschickt, und ich habe bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sie anzuziehen. Sie sehen wirklich hübsch aus. Ach, Miss Oliver, ich hoffe, daß mich ein paar Jungen zum Tanzen auffordern! Diese Demütigung würde ich nicht überleben, wenn mich keiner auffordern würde und ich den ganzen Abend als Mauerblümchen herumsitzen müßte. Wie dumm, daß Carl und Jerry nicht mittanzen können, weil sie Pfarrerssöhne sind, sonst könnte ich mich wenigstens auf die verlassen und müßte mich nicht so sehr blamieren.“

„Du wirst eine Menge Tanzpartner haben. Alle Jungen aus Overharbour kommen herüber. Es werden sehr viel mehr Jungen sein als Mädchen.“

„Bin ich froh, daß ich keine Pfarrerstochter bin“, lachte Rilla. „Die arme Faith ist so wütend. Sie wird es wohl kaum wagen, heute abend zu tanzen. Una ist es egal. Die macht sich nichts aus Tanzen. Irgend jemand hat zu Faith gesagt, wer nicht mittanzen darf, der darf sich dafür in der Küche Toffees machen, da hätten Sie mal ihr Gesicht sehen sollen! Wahrscheinlich wird sie mit Jem den ganzen Abend draußen auf den Felsen hocken. Übrigens, wissen Sie, daß wir uns alle an dem kleinen Bach unterhalb von unserem Traumhaus treffen und dann zum Leuchtturm hinübersegeln? Ist das nicht absolut himmlisch?“

„Als ich fünfzehn war, habe ich auch so geschwärmt wie du“, sagte Miss Oliver mürrisch. „Für euch junge Leute wird die Party bestimmt ganz lustig. Aber ich werde mich dort langweilen. Keiner von den Jungen wird sich die Mühe machen und mit so einer alten Jungfer wie mir tanzen. Jem und Walter werden mich vielleicht einmal auffordern, aber nur aus Mitleid. Und zum Reden werde ich auch niemanden haben. Also kannst du wohl kaum von mir erwarten, daß ich deine rührende Begeisterung teile.“

„Aber als Sie das erste Mal auf eine Party gingen, hat Ihnen das keinen Spaß gemacht, Miss Oliver?“

„Nein. Es war schrecklich. Ich war so schäbig angezogen und so hausbacken, daß niemand mich zum Tanzen aufgefordert hat, bis auf einen Jungen, der noch schäbiger aussah als ich. Er war so unbeholfen, daß ich ihn haßte, aber selbst der hat mich kein zweites Mal aufgefordert. Ich habe keine richtige Jugend gehabt, Rilla. Das ist schlimm. Deswegen wünsche ich dir eine wunderbare, glückliche Jugend. Und ich hoffe, daß du später mit Freuden an deine erste Party zurückdenkst.“

„Heute nacht habe ich geträumt, ich wäre auf der Tanzparty gewesen und hätte mittendrin plötzlich gemerkt, daß ich meinen Schlafanzug und meine Hausschuhe anhabe“, seufzte Rilla. „Da bin ich vor Schreck aufgewacht.“

„Apropos Traum. Ich habe einen komischen Traum gehabt“, sagte Miss Oliver nachdenklich. „Es war einer dieser sehr lebhaften Träume, die ich manchmal habe. Nicht so ein Wirrwarr wie die üblichen Träume, die man so hat, sondern klar und deutlich wie die Wirklichkeit.“

„Was haben Sie denn geträumt?“

„Ich stand hier auf der Verandatreppe und ließ meinen Blick über die Felder von Glen schweifen. Plötzlich sah ich weit draußen eine breite, silbrig glitzernde Welle, die sich langsam über die Felder ergoß. Das Wasser kam näher und näher. Es waren lauter kleine weiße Wellen, wie sie manchmal an den Strand gespült werden. Ganz Glen wurde nach und nach verschluckt. Ich dachte noch: Die Wellen werden doch wohl nicht bis Ingleside herankommen? Aber sie kamen immer näher, ganz schnell. Bevor ich aufstehen konnte, hatten sie schon meine Füße erreicht. Und alles war weg, nur noch ein aufgewühltes Meer war dort, wo vorher Glen gewesen war. Ich versuchte zurückzuweichen. Dabei sah ich, daß der Saum meines Kleides blutgetränkt war. Und da wachte ich endlich auf – und zitterte. Der Traum gefällt mir nicht. Er hat irgendeine schlimme Bedeutung. Solche lebhaften Träume sind bei mir bisher immer, ‚wahr‘ geworden.“

„Na, hoffentlich bedeutet er nicht, daß sich heute abend ein Sturm zusammenbraut und die Party ins Wasser fällt“, murmelte Rilla besorgt.

„Du unverbesserlicher Kindskopf!“ sagte Miss Oliver trocken. „Nein, Rilla-meine-Rilla, mit so etwas Schlimmem brauchst du wohl nicht zu rechnen.“

Seit einigen Tagen herrschte auf Ingleside eine unausgesprochene Spannung. Nur Rilla bemerkte vor lauter Aufregung nichts davon. Gilbert machte ein ernstes Gesicht und sprach wenig, wenn er die Zeitung las. Jem und Walter waren höchst interessiert an den Neuigkeiten, die darin standen. An diesem Abend kam Jem aufgeregt zu Walter gelaufen.

„Hast du gehört, Deutschland hat Frankreich den Krieg erklärt! Das bedeutet, daß England wahrscheinlich beteiligt sein wird. Und wenn dem so ist, na, dann kommt der Pfeifer aus deinem alten Traum wohl doch noch zum Zuge.“

„Das war kein Traum“, sagte Walter versonnen. „Das war eine Vorahnung, eine Vision. Jem, ich habe ihn damals wirklich einen Augenblick lang gesehen! Was ist, wenn England wirklich mitkämpft?“

„Na, dann werden wir wohl helfen müssen!“ rief Jem erfreut. „Wir können doch nicht die ‚alte graue Mutter des Nordmeeres‘ im Stich lassen, oder? Aber du kannst sowieso nicht mitmachen. Der Typhus hat schon dafür gesorgt. Schade, oder?“

Walter gab keine Antwort. Er blickte nachdenklich hinaus auf das glitzernde blaue Meer am Horizont.

„Wir sind die Abkömmlinge. Wir müssen mit Händen und Füßen kämpfen, falls es zu einem Familienkrach kommt“, redete Jem munter weiter und fuhr sich mit seiner starken, feinnervigen Hand durchs Haar, die Hand des geborenen Chirurgen, wie sein Vater oft dachte. „Das wäre doch ein Abenteuer! Aber wahrscheinlich werden Grey oder ein paar andere von diesen alten, besonnenen Burschen kurz vor Toresschluß die Dinge schlichten. Aber es wäre schon eine Schande, wenn sie Frankreich im Stich ließen. Wenn nicht, dann kann es heiter werden. So, wir sollten uns langsam für die Leuchtturmparty fertigmachen.“

Damit ging Jem fröhlich pfeifend hinaus, während Walter noch eine ganze Weile regungslos dastand. Er machte ein ernstes Gesicht. Das alles war über ihn hereingebrochen wie eine schwarze Gewitterwolke. Vor wenigen Tagen hatte noch kein Mensch an so etwas gedacht. Es war auch unsinnig, jetzt daran zu denken. Irgendeinen Ausweg würde man doch finden! Krieg – das war doch etwas ganz Entsetzliches. So etwas Entsetzliches konnte doch unmöglich im zwanzigsten Jahrhundert unter zivilisierten Völkern vorkommen! Der Gedanke allein war schon entsetzlich und machte Walter ganz unglücklich. Das Leben mit all seiner Schönheit stand auf dem Spiel. Er würde einfach nicht daran denken, den Gedanken aus seinem Gehirn ausschalten. Wie schön die reifen Getreidefelder von Glen aussahen, die laubenähnlichen alten Gehöfte, die Heu wiesen und stillen Gärten! Der Himmel sah im Westen aus wie eine große goldene Perle, und weit draußen senkte sich der Mondschein auf den Hafen herab. Die Luft war angefüllt mit den wohlklingendsten Tönen: dem Pfeifen der schläfrigen Rotkehlchen, dem traurigen, sanften Murmeln des Windes in den schattenhaften Bäumen, dem Rascheln der Zitterpappeln, die einander zuwisperten und ihre zierlichen, herzförmigen Blätter schüttelten, und dem fröhlichen Lachen aus den Fenstern, hinter denen sich die Mädchen auf die bevorstehende Tanzparty vorbereiteten. Die Welt war so voller unglaublich lieblicher Klänge und Farben! Nur daran wollte er denken und sich mit ganzem Herzen daran erfreuen. Von mir wird sowieso niemand erwarten, daß ich gehe, dachte er. Wie Jem schon sagte, der Typhus hat dafür gesorgt.

Rilla lehnte sich aus ihrem Zimmerfenster, bereit zum Ausgehen. Ein gelbes Stiefmütterchen löste sich aus ihrem Haar und fiel wie ein goldener Stern über das Fensterbrett hinaus. Sie versuchte vergeblich, es noch zu erhaschen. Aber es waren noch genug andere übrig. Miss Oliver hatte ihrem kleinen Liebling einen Blumenkranz fürs Haar geflochten.

 

„Ist es nicht herrlich ruhig und still? Es wird ein wunderbarer Abend werden. Hören Sie doch mal, Miss Oliver! Die alten Glocken im Regenbogental, ich höre sie ganz deutlich! Seit mehr als zehn Jahren hängen sie nun schon dort.“

„Ihr Windspiel erinnert mich immer an die überirdische Musik, die Adam und Eva in Miltons Paradise lost hörten“, sagte Miss Oliver.

„Wir hatten soviel Spaß im Regenbogental, als wir noch Kinder waren“, sagte Rilla verträumt.

Jetzt spielte niemand mehr im Regenbogental: keine Meredith-Kinder mehr und keine Blythe-Kinder. Im Sommer war es abends ganz still dort. Walter ging gern dorthin, um zu lesen. Jem und Faith trafen sich oft dort, und Jerry und Nan führten im Regenbogental endlose Diskussionen über irgendwelche tiefgründigen Themen, was anscheinend ihre bevorzugte Art des Flirtens war. Auch Rilla hatte sich dort eine hübsche bewaldete Stelle ausgesucht, wo sie sich einfach gern alleine hinsetzte und träumte.

„Bevor ich gehe, muß ich unbedingt noch schnell in die Küche und mich Susan zeigen. Sie würde mir das nie verzeihen, wenn ich es vergesse.“

Damit wirbelte Rilla hinunter in die dämmerige Küche, wo Susan mit Strümpfestopfen beschäftigt war, und erhellte den Raum mit ihrer strahlenden Schönheit. Sie trug ihr grünes Kleid mit den kleinen rosaroten Gänseblümchengirlanden, ihre Seidenstrümpfe und ihre silbernen Stöckelschuhe. Im Haar und um den Hals trug sie goldene Stiefmütterchen. Sie sah so schön und jung aus, daß selbst Sophia Crawford nicht umhinkonnte, sie zu bewundern. Und Sophia Crawford bewunderte nur sehr wenige irdische und vergängliche Dinge. Cousine Sophia und Susan hatten mittlerweile ihren alten Streit beigelegt, das heißt, sie sprachen einfach nicht mehr darüber, seit Cousine Sophia nach Glen gezogen war. Cousine Sophia kam sogar häufig abends auf ein nachbarschaftliches Schwätzchen herüber. Susan war davon nicht immer begeistert, denn Cousine Sophia sorgte nicht eben für Erheiterung. „Es gibt kurzweilige und langweilige Besuche, liebe Frau Doktor“, sagte Susan einmal und legte damit die Vermutung nahe, daß letztere sich auf Cousine Sophia bezogen.

Cousine Sophia hatte ein langes, blasses, faltiges Gesicht, eine lange, dünne Nase, einen langen, dünnen Mund und sehr lange, dünne, blasse Hände, die sie gottergeben auf ihrem schwarzgekleideten Schoß zu falten pflegte. Alles an ihr wirkte lang und dünn und blaß. Jetzt musterte sie Rilla mit trübsinnigem Blick und sagte düster: „Sind deine Haare alle echt?“

„Was glaubst du denn!“ rief Rilla empört.

„Oje!“ seufzte Cousine Sophia. „Es wäre besser für dich, wenn das nicht alles deine wären. So viele Haare zehren an der Kraft. Das deutet auf Schwindsucht hin, habe ich gehört, aber ich hoffe, daß das bei dir nicht stimmt. Ich nehme an, ihr geht heute abend alle tanzen, wahrscheinlich auch die Pfarrers jungen. Ich kann nur hoffen, daß die Pfarrerstöchter nicht so weit gehen. Oje, ich habe noch nie viel vom Tanzen gehalten. Ich kenne ein Mädchen, das ist tot umgefallen, während es tanzte. Wie jemand nach einer solchen Strafe Gottes noch tanzen gehen kann, ist mir schleierhaft.“

„Ist sie denn wieder tanzen gegangen?“ fragte Rilla vorlaut.

„Ich habe dir doch gesagt, daß sie tot umgefallen ist. Natürlich ist sie nie wieder tanzen gegangen, du Dummkopf. Sie war eine Circe und stammte aus Lowbridge. Du willst doch wohl nicht mit so nackigem Hals unter die Leute gehen, oder?“

„Es ist heiß draußen!“ protestierte Rilla. „Aber auf dem Wasser werde ich mir einen Schal umlegen.“

„Vor vierzig Jahren ist schon mal ein Boot voller junger Leute über den Hafen gesegelt, es war genauso ein Abend wie heute – ganz genauso ein Abend wie heute“, sagte Cousine Sophia mit kummervoller Stimme. „Und dann sind sie umgekippt und ertrunken, allesamt. Nun ja, ich hoffe, daß euch so was heute abend nicht auch passiert. Unternimmst du denn gar nichts gegen deine Sommersprossen? Ich fand Wegerichsaft immer ganz gut.“

„Du mußt dich ja auskennen mit Sommersprossen, Cousine Sophia“, sagte Susan zu Rillas Verteidigung. „Du warst doch als junges Mädchen scheckiger als jede Kröte. Rillas Sommersprossen kommen wenigstens nur im Sommer zum Vorschein, aber deine klebten doch jahraus, jahrein an dir. Und du hattest nicht so eine schöne Gesichtsfarbe darunter wie sie. Du siehst wirklich hübsch aus, Rilla, und deine Frisur steht dir gut. Aber du hast doch nicht vor, in diesen Stöckelschuhen zum Hafen zu laufen, oder?“

„Nein, nein. Bis ans Wasser tragen wir alle unsere alten Schuhe, und die guten nehmen wir mit. Gefällt dir mein Kleid, Susan?“

„Es erinnert mich an ein Kleid, das ich als junges Mädchen getragen habe“, seufzte Cousine Sophia, ehe Susan antworten konnte. „Es war auch grün mit rosaroten Blumensträußchen, und es war von der Taille bis zum Saum mit Volants besetzt. Wir trugen damals nicht solche Fähnchen wie die Mädchen heutzutage. Oje, die Zeiten haben sich geändert, und das nicht zum Besten, fürchte ich. An jenem Abend riß ich mir ein großes Loch in das Kleid, und jemand verschüttete eine Tasse Tee darauf. Es war völlig ruiniert. Aber ich hoffe, daß dir mit deinem Kleid nichts passiert. Ein bißchen länger könnte es allerdings sein, finde ich, deine Beine sind so furchtbar lang und dünn.“

„Mrs. Blythe mag es nicht, wenn kleine Mädchen sich wie Erwachsene anziehen“, sagte Susan, nur um Cousine Sophia zurechtzuweisen. Aber Rilla war gekränkt. Kleine Mädchen, ha! Wütend rauschte sie aus der Küche. Noch mal würde sie nicht auf die Idee kommen, sich vor Susan zu zeigen, bevor sie ausging. Für die war man doch erst mit sechzig erwachsen! Und diese schreckliche Cousine Sophia erst mit ihren Sticheleien von wegen Sommersprossen und langen Beinen! Wie kam so eine alte – so eine alte Bohnenstange wie die dazu, bei jemand anders etwas lang und dünn zu finden! Rillas gute Laune und Vorfreude auf den Abend waren dahin. Sie war so getroffen, daß sie sich am liebsten hingesetzt und losgeheult hätte.

Doch später, als sie sich zu der fröhlichen Gruppe gesellte, die zur Leuchtturmparty aufbrach, hob sich ihre Stimmung wieder sehr schnell.

Begleitet von Mondays traurigem Geheul – man hatte ihn in der Scheune festgebunden – verließen die Blythes Ingleside. Im Dorf holten sie die Merediths ab, und andere schlossen sich nach und nach an, während sie die alte Hafenstraße hinabmarschierten. An Miss Cornelias Tor kam, ganz in blauen Spitzenkrepp gehüllt, Mary Vance hinzu und hängte sich an Rilla und Miss Oliver, die nebeneinander hergingen und Mary nicht gerade herzlich begrüßten. Rilla konnte Mary Vance nicht sonderlich gut leiden. Sie hatte ihr nie verziehen, daß Mary sie einmal mit einem getrockneten Dorsch durchs ganze Dorf gejagt und schrecklich blamiert hatte. Um die Wahrheit zu sagen, Mary Vance war bei keinem Mädchen besonders beliebt. Aber ihre Gesellschaft war trotzdem oft ein Genuß, weil sie so eine derart scharfe Zunge hatte, daß es eine Freude war. „Mary Vance ist wie eine Angewohnheit: Wir kommen ohne sie nicht aus, selbst wenn wir wütend auf sie sind“, hatte Di Blythe einmal gesagt.

Die meisten aus der Gruppe gingen aus Gewohnheit paarweise. Jem ging natürlich mit Faith Meredith, und Jerry Meredith mit Nan Blythe. Di und Walter waren in ein vertrauliches Gespräch vertieft, was Rillas Neid hervorrief.