Abend im Paradies

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Aus der Reihe: Kampa Pocket
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Es war dunkel, kühl und still, obwohl alle redeten und jemand sang. Das Lachen war ungezwungen, privat, intim.

Wir saßen auf Hockern an der Bar. Eine Kellnerin kam, sie trug ein Tablett mit einem blaulila Pfau darauf. Ihr hennagefärbtes, an den Wurzeln schwarzes Haar war zu welligen Hügeln aufgetürmt, festgesteckt mit Kämmen aus Gold, gehauenem Silber und zerbrochenen Spiegeln. Fuchsiafarben vergrößerter Mund. Grüne Augenlider … ein Kruzifix aus blaugrünen Schmetterlingsflügeln glitzerte zwischen ihren konischen, gelben Satinbrüsten. »Hola!« Sie lächelte. Glanz der Goldkopfzähne, roter Gaumen. Umwerfender Paradiesvogel!

»¿Qué quieren, lindas?«

»Tortillas«, sagte Hope.

Die Vogeldame-Kellnerin lehnte sich vor, fegte Krümel mit ihren blutroten Nägeln weg, murmelte uns immer noch in ihrem grünen Spanisch zu.

Hope schüttelte den Kopf … »No sé.«

»¿Son gringas?«

»Nein.« Hope zeigte auf sich. Syrisch. Dann redete sie syrisch, und die Kellnerin hörte zu, ihr fuchsiafarbener Mund bewegte sich zu den Worten. »He!«

»Sie ist eine gringa«, sagte Hope über mich. Sie lachten. Ich beneidete ihre dunklen Sprachen, ihre dunklen Augen.

»¡Son gringas!«, sagte die Kellerin zu den Leuten im Café.

Ein alter Mann kam zu uns herüber, er trug sein Glas und eine Flasche Corona Bier. Aufrecht … er stand und ging aufrecht, spanisch, und trug einen weißen Anzug. Sein Sohn kam in einem schwarzen Anzug mit wattierten Schultern und eng zulaufender Hose hinter ihm her, dunkle Brille, Uhrenkette. Es war die Zeit des Bebop, die Zeit des pachuco … Die Schultern des Sohnes fielen nach vorn, wie es Mode war, der Kopf gesenkt bis hinunter zu Vaters Stolz.

»Wie heißt ihr?«

Hope nannte ihm ihren syrischen Namen … Sha-a-hala. Ich nannte ihm den Namen, den die Syrer mir gegeben hatten … Luchaha. Nicht Lucia oder Lucha, sondern Lu-cha-a. Er sagte allen, wie wir hießen.

Die Kellnerin hieß Chata, weil ihre Nase sich wie eine Regenrinne nach oben bog. Wörtlich bedeutet es »hocken«. Oder »Schieber«. Der alte Mann war Fernando Velasquez, und er schüttelte uns die Hand.

Nachdem sie uns begrüßt hatten, ignorierten uns die Menschen im Café wieder wie zuvor, sie akzeptierten uns in ihrem lässigen Gleichmut. Wir hätten uns an jeden von ihnen anlehnen und einschlafen können.

Velasquez trug unsere Schüsseln mit grünem Chili hinüber an einen Tisch. Chata brachte uns Limettenlimonade.

Er hatte Englisch gelernt in El Paso, wo er arbeitete. Auch sein Sohn arbeitete dort auf dem Bau.

»Oye, Raúl … diles algo … Er spricht gut Englisch.«

Der Sohn blieb stehen, hielt sich elegant hinter seinem Vater. Seine Wangenknochen leuchteten bernsteinfarben über dem Bebop-Bart.

»Was macht ihr Kinder hier?«, fragte sein Vater.

»Verkaufen.«

Hope hielt den Kartenstapel hoch. Fernando schaute sie an, drehte jede von ihnen um. Hope fing mit ihrem Verkaufsspruch zu den Schminkkästchen an … »Der Name, der gewinnt, bekommt ein Spieluhr-Schminkkästchen.«

»Válgame Dios …« Er brachte die Karte zum nächsten Tisch, erklärte sie, gestikulierte, schlug auf den Tisch. Alle sahen die Karte und uns an, unsicher.

Eine Frau in einem Bandana-Turban gab mir ein Zeichen. »Oye, jemand gewinnt die Dosen, oder?«

»Sí.«

Raúl war näher gekommen, schweigend, um sich eine der Karten zu nehmen, schaute zu mir herunter. Seine Augen waren weiß unter der dunklen Brille.

»Wo sind die Dosen?«

Ich sah Hope an.

»Raúl …«, sagte ich. »Natürlich gibt es keine Spieluhr-Schminkkästchen. Die Person, deren Name gewinnt, gewinnt das ganze Geld

Er verbeugte sich vor mir mit der Grazie eines Matadors. Hope senkte ihren nassen Kopf und fluchte auf Syrisch. Auf Englisch sagte sie: »Warum haben wir nie daran gedacht?« Sie lächelte mich an.

»Okay, chulita … gib mir zwei Namen.«

Velasquez erklärte das Spiel den Leuten an den Tischen, Chata einer Gruppe von Männern mit starken, nassen Rücken an der Bar. Sie schoben zwei Tische zu unseren heran. Hope und ich saßen jeweils am Kopfende. Raúl stand hinter mir. Chata schenkte allen, die am Tisch saßen, Bier ein, wie bei einem Bankett.

»¿Cuánto es?«

»Ein Vierteldollar.«

»No tengo … ¿un peso?«

»Okay.«

Hope türmte das Geld vor sich zu einem Stapel. »Hey … wir kriegen noch unseren Anteil von einem Vierteldollar.« Raúl sagte, das wäre fair. Ihre Augen glitzerten unter dem Pony, das ihr in die Stirn hing. Raúl und ich schrieben die Namen auf.

Die Namen selbst machten auf Spanisch mehr Spaß, niemand konnte sie richtig aussprechen, und sie hörten nicht auf zu lachen. BOB. Verschüttetes Bier. In drei Minuten war eine Karte ausgefüllt. Raúl öffnete das Siegel. Ignacio Sanchez gewann mit TED. Bravo! Raúl sagte, er verdiente ziemlich genau das Gleiche, wenn er den ganzen Tag arbeitete. Überschwänglich streute er die Münzen und zerknitterten Scheine auf Chatas Pfauentablett. ¡Cerveza!

»Warte …« Hope nahm unseren Vierteldollar Beteiligung heraus.

Zwei Hausierer waren hereingekommen, zogen Stühle an den Tisch.

»¿Qué pasa?«

Sie hielten im Sitzen ihre Strohkörbe im Schoß. »¿Cuanto es?«

»Un peso … ein Vierteldollar.«

»Lass uns zwei draus machen«, sagte Raúl. »Dos pesos, fifty cents.« Die neuen Männer mit den Körben konnten sich das nicht leisten, also beschlossen alle, dass sie diesmal, weil sie neu waren, nur einen setzen sollten. Beide legten einen Peso auf den Stapel. Raúl gewann. Die Männer standen auf und gingen, ohne ein Bier getrunken zu haben.

Als wir vier Karten verkauft hatten, waren alle betrunken. Keiner der Gewinner hatte das Geld behalten, nur weitere Lose gekauft, mehr Essen, jetzt Tequila.

Die meisten Verlierer gingen. Wir alle aßen Tamales. Chata brachte die Tamales in einem Waschbottich, eine Kasserole mit Bohnen, in die wir unsere warmen Tortillas dippten.

Hope und ich gingen zum Plumpsklo hinter dem Café. Stolperten, schützten die Kerze vor dem Wind, die uns Chata geliehen hatte.

Gähnen … man wird nachdenklich beim Pinkeln, reflektiert, wie an Silvester.

»Hey, wie spät ist es?«

»Oh.«

Es war fast Mitternacht. Alle im Gavilán-Café küssten uns zum Abschied. Raúl brachte uns zur Brücke, hielt uns beide an den winzigen Händen. Sanft, wie das Ziehen einer Wünschelrute, brachte er unsere knochigen Körper in den pachuco-Rhythmus seines Gangs, so leicht, langsam, schaukelnd.

Unter der Brücke waren auf der Seite von El Paso die Schuhputzer-Strichjungen, die wir am Nachmittag gesehen hatten, sie standen im schlammigen Rio Grande und hielten Eistüten in die Höhe, um Geld aufzufangen, tauchten im Schlamm danach, wenn es danebenfiel. Soldaten warfen Pennys, Kaugummipapier. Hope ging hinüber ans Geländer. »¡Hola pendejos!«, brüllte sie und warf ihnen Vierteldollars zu. Finger in die Luft. Gelächter.

Raúl setzte uns in ein Taxi und bezahlte den Fahrer. Wir winkten ihm aus dem Rückfenster, sahen zu, wie er schaukelnd in Richtung Brücke ging. Auf die Rampe sprang wie ein Reh.

Hopes Vater fing in dem Moment an, sie zu schlagen, als sie aus dem Taxi stieg, peitschte sie mit einem Gürtel die Treppe hinauf, schrie auf Syrisch.

Niemand außer Mamie war zu Hause, die einen Kniefall zum Dank für meine sichere Rückkehr machte. Das Taxi bereitete ihr mehr Sorgen als Juarez. Ohne eine Tüte mit schwarzem Pfeffer fuhr sie nie irgendwo mit einem Taxi hin aus Angst, überfallen zu werden.

Im Bett. Kissen hinter mir. Sie brachte mir Vanillepudding und Kakao, das Essen, das sie den Kranken oder den Verdammten reichte. Der Pudding schmolz wie eine Hostie in meinem Mund. Ich trank das Blut ihrer versöhnlichen Liebe, während sie dastand, am Fußende meines Bettes, und in einem rosafarbenen Engelskittel betete. Matthäus und Markus, Lukas und Johannes.

Manchmal im Sommer

Hope und ich waren sieben. Ich glaube nicht, dass wir wussten, welcher Monat oder auch nur welcher Tag es war, außer es war Sonntag. Der Sommer war schon so heiß und lang gewesen und jeder Tag genau wie der nächste, dass wir uns nicht daran erinnerten, dass es im Jahr zuvor geregnet hatte. Wir baten Onkel John, wieder ein Ei auf dem Gehweg zu braten, daran immerhin erinnerten wir uns.

Hopes Familie war aus Syrien gekommen. Es war unwahrscheinlich, dass sie herumsitzen und über das Sommerwetter in Texas reden würden. Oder erklären würden, dass die Tage im Sommer länger waren, aber dann begannen, kürzer zu werden. In meiner Familie redete man überhaupt nicht miteinander. Manchmal aßen Onkel John und ich zusammen. Meine Großmama Mamie aß mit meiner kleinen Schwester Sally in der Küche. Meine Mutter und Großpapa aßen, wenn sie überhaupt aßen, jeder in seinem Zimmer oder auswärts.

Manchmal waren alle im Wohnzimmer. Um Jack Benny oder Bob Hope oder Fibber McGee und Molly zuzuhören. Aber auch dann redete niemand. Jeder lachte allein und starrte das grüne Auge des Radios an, so wie die Leute heutzutage den Fernseher anstarren.

Was ich sagen will, ist, dass Hope oder ich noch nie etwas von der Sommersonnenwende gehört hatten oder davon, dass es in El Paso im Sommer immer regnete. Niemand redete bei mir zu Hause je von den Sternen, sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass es im Sommer manchmal Sternschnuppenschwärme am nördlichen Himmel gab.

Schwere Regenfälle überfluteten die Arroyos und die Abflussgräben, zerstörten Häuser in Smeltertown und spülten Hühner und Autos davon.

 

Als es anfing zu blitzen und zu donnern, reagierten wir mit simpler Angst. Zusammengekauert auf Hopes Vorderveranda, in Decken gewickelt, lauschten wir voller Furcht und Fatalismus dem Krachen und Grollen. Wir konnten allerdings auch nicht wegsehen, drängten uns zitternd aneinander und ließen uns gegenseitig hinschauen, wenn die Pfeile über der ganzen Länge des Rio Grande aufleuchteten und ins Kreuz von Mount Cristo Rey einschlugen, im Zickzack in den Schornstein der Schmelzhütte fuhren, blitz blitz. Wumm. Zur gleichen Zeit brach die Straßenbahn durch einen Kurzschluss in eine Funkenkaskade aus, und alle Passagiere kamen herausgerannt, als es gerade anfing zu regnen.

Es regnete und regnete. Es regnete die ganze Nacht. Die Telefone fielen aus, und die Lichter gingen aus. Meine Mutter kam nicht nach Hause, und Onkel John kam nicht nach Hause. Mamie machte im Holzofen ein Feuer an, und als Großpapa nach Hause kam, nannte er sie eine Idiotin. Der Strom ist ausgefallen, du Dummkopf, nicht das Gas, doch sie schüttelte den Kopf. Das verstanden wir vollkommen. Keiner Sache war zu trauen.

Wir schliefen auf Pritschen auf Hopes Veranda. Wir schliefen tatsächlich, obwohl wir beide schworen, wir wären die ganze Nacht wach gewesen und hätten den Regenvorhängen zugesehen, die herunterkamen wie Fenster aus Glasbaustein.

Wir frühstückten in beiden Häusern. Mamie machte Biskuit und Soße, bei Hope aßen wir kibbe und syrisches Brot. Ihre Großmutter flocht unsere Haare in feste französische Zöpfe, sodass unsere Augen für den Rest des Vormittags nach außen gezogen wurden, als wären wir Asiaten. Wir verbrachten den Morgen damit, im Regen herumzuwirbeln, bis uns kalt wurde, wir uns abtrockneten und wieder hinausgingen. Unsere beiden Großmütter kamen heraus, um zuzuschauen, wie ihr Garten gänzlich weggespült wurde, die Mauern hinab, hinaus auf die Straße. Rotes kalkhaltiges Lehmwasser schwoll rasch bis über den Gehweg an und stieg bis zur fünften Stufe der Betontreppen unserer Häuser hoch. Wir sprangen ins Wasser, das warm und dick wie Kakao war und uns mehrere Seitenstraßen weit mit sich trug, schnell, unsere Zöpfe trieben oben. Wir sprangen raus, rannten im kalten Regen zurück, an unseren Häusern vorbei und bis zum Ende der Straße, sprangen zurück in den Fluss der Straße und wurden wieder fortgerissen, noch mal und noch mal.

Die Stille verlieh dieser Flut eine besonders gespenstische Magie. Die Straßenbahnen fuhren nicht, und tagelang sah man keine Autos. Hope und ich waren die einzigen Kinder in der Straße. Sie hatte sechs Brüder und Schwestern, die aber größer waren und entweder im Möbelladen helfen mussten oder einfach immer irgendwo anders waren. Auf der Upson Avenue wohnten hauptsächlich Schmelzhüttenarbeiter im Ruhestand oder mexikanische Witwen, die kaum Englisch sprachen, frühmorgens und abends in die Holy Family zur Messe gingen.

Hope und ich hatten die Straße für uns allein. Zum Rollschuhfahren und Himmel-und-Hölle und Jacks spielen. Früh am Morgen oder abends gossen die Frauen ihre Pflanzen, aber die übrige Zeit blieben sie drinnen, hielten Fenster und Fensterläden fest geschlossen, damit die furchtbare texanische Hitze, vor allem aber der rote Kalkstaub und der Rauch der Schmelzhütte nicht hineindrangen.

Jede Nacht verbrannten sie in der Schmelzhütte Holz. Wir saßen draußen unter den Sternen, und dann schossen die Flammen aus dem Schornstein, gefolgt von gewaltigen, üblen Ausstößen schwarzer Rauchwolken, die den Himmel verdunkelten und über alles um uns herum einen Schleier legten. Eigentlich war es ziemlich entzückend, die Schwaden und Wogen am Himmel, aber unsere Augen brannten, und der Geruch nach Schwefel war so stark, dass wir würgen mussten. Hope machte das immer, aber sie tat nur so. Damit man eine Vorstellung davon hat, wie beängstigend das jede Nacht war: Als in der Wochenschau im Plaza Kino die erste Atombombe gezeigt wurde, brüllte ein mexikanischer Witzbold: »Mira, die esmelter

Der Regen hörte kurz auf, und da geschah die zweite Sache. Unsere Großmütter schaufelten den Sand weg und fegten ihre Gehwege. Mamie war eine furchtbare Haushälterin. »Sie war an farbige Haushaltshilfen gewöhnt, deshalb«, sagte meine Mutter.

»Und du hattest Daddy!«

Sie fand das nicht lustig. »Ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, diese kakerlakenverseuchte Bude sauberzumachen.«

Aber Mamie gab sich Mühe mit dem Hof, fegte Stufen und Gehweg, goss ihren kleinen Garten. Manchmal stand sie direkt dort am Zaun, wo auf der anderen Seite Mrs. Abraham stand, aber sie ignorierten einander komplett. Mamie traute Ausländern nicht, und Hopes Großmutter hasste Amerikaner. Mich mochte sie, weil ich sie zum Lachen brachte. Eines Tages standen alle Kinder in einer Reihe am Herd, und sie gab ihnen kibbe auf frischgebackenem warmem Brot. Ich stellte mich einfach an, und bevor es ihr klar wurde, hatte sie mir ein Stück gegeben. Auf diese Weise wurde auch mein Haar jeden Morgen gekämmt und geflochten. Beim ersten Mal tat sie so, als würde sie es nicht bemerken, sagte auf Syrisch zu mir, ich solle stillhalten, schlug mir mit der Bürste auf den Kopf.

Neben dem Haus der Haddads gab es einen leeren Platz. Im Sommer war er von Unkraut überwuchert, schlimme Disteln, durch die man nicht hindurchlaufen wollte. Im Herbst und im Winter sah man, dass der Platz mit zerbrochenem Glas bedeckt war. Blau, braun, grün. Meistens von Hopes Bruder und seinen Freunden, die mit Luftgewehren auf Flaschen schossen, aber auch von weggeworfenen Flaschen. Hope und ich suchten nach Flaschen, die wir gegen Pfand zurückbringen konnten, und die alten Frauen trugen Flaschen in ihren ausgebleichten mexikanischen Körben zum Sunshine-Lebensmittelmarkt. Aber damals warfen die meisten, wenn sie eine Limonade getrunken hatten, die Flasche irgendwohin. Ständig flogen Bierflaschen aus Autofenstern, gefolgt von kleinen Explosionen.

Ich verstand jetzt, dass es mit der Sonne zusammenhing, die so spät unterging, erst, nachdem wir beide Abendbrot gegessen hatten. Wir waren wieder draußen, hockten auf dem Gehweg und spielten Jacks. Nur wenige Tage lang konnten wir von unserer Position dicht am Boden in dem Augenblick unter das Unkraut auf dem Platz sehen, in dem die Sonne den Mosaikteppich aus Glas traf. Sie schien in einem bestimmten Winkel durch das Glas wie durch das Fenster einer Kathedrale. Diese magische Vorführung dauerte nur wenige Minuten, ereignete sich nur an zwei Tagen. »Schau!«, sagte sie beim ersten Mal. Wir saßen da, gebannt. Ich hielt die Metallsternchen fest umschlossen in meiner verschwitzten Hand. Sie hielt den Golfball hoch in die Luft, wie die Freiheitsstatue. Wir sahen zu, wie sich das Kaleidoskop aus Farben schillernd vor uns ausbreitete, dann weich und verschwommen wurde, dann verschwand. Am nächsten Tag geschah es wieder, aber am Tag darauf wurde die Sonne nur still zu Staub.

Irgendwann, kurz nach dem Glas, oder vielleicht war es auch vorher, machten sie die Feuer in der Schmelzhütte frühzeitig. Natürlich machten sie sie immer zur selben Zeit. Um neun Uhr abends, aber das war uns nicht klar.

Am Nachmittag hatten wir bei mir auf den Stufen gesessen und die Rollschuhe abgeschnallt, als das große Auto vorgefahren war. Ein glänzend schwarzer Lincoln. Ein Mann saß auf dem Fahrersitz, er trug einen Hut. Er ließ das Fenster an unserer Seite heruntergleiten. »Elektrische Fenster«, sagte Hope. Er fragte, wer im Haus wohnen würde. »Sag’s ihm nicht«, sagte Hope, aber ich sagte es ihm. »Dr. Moynahan.«

»Ist er zu Hause?«

»Nein. Niemand ist zu Hause, außer meiner Mutter.«

»Ist das Mary Moynahan?«

»Mary Smith. Mein Vater ist ein Leutnant im Krieg. Wir bleiben solange hier«, sagte ich.

Der Mann stieg aus dem Auto. Er trug einen Anzug mit Weste und einer Uhrenkette, ein gestärktes weißes Hemd. Er gab jedem von uns einen Silberdollar. Wir hatten keine Ahnung, was das war. Er sagte uns, dass es Dollars waren.

»Werden sie das als Geld in einem Laden annehmen?«, fragte Hope. Er sagte ja. Er ging die Treppe hinauf und klopfte an die Tür. Als niemand antwortete, drehte er an der Metallkurbel, die ein kratzendes Klingeln auslöste. Nach einer Weile ging die Tür auf. Meine Mutter sagte wütende Dinge, die wir nicht hören konnten, und schlug die Tür zu.

Als er wieder nach unten kam, gab er jeder von uns noch zwei Silberdollars.

»Ich muss mich entschuldigen. Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin F.B. Moynahan, dein Onkel.«

»Ich bin Lu. Das ist Hope.«

Dann fragte er, wo Mamie sei. Ich sagte ihm, dass sie in der First-Texan-Baptist-Kirche im Stadtzentrum gegenüber der Bibliothek wäre. »Danke«, sagte er und fuhr weg. Wir stopften die Dollars in unsere Socken. Gerade rechtzeitig, denn meine Mutter kam die Stufen hinuntergerannt, Lockenwickler in den Haaren.

»Das war dein Onkel Fortunatus, die Schlange. Wag es nicht, auch nur einer Menschenseele zu sagen, dass er da war. Hörst du mich?« Ich nickte. Sie schlug mir auf Schulter und Rücken. »Sag kein Wort zu Mamie. Er hat ihr das Herz gebrochen, als er weggegangen ist. Hat sie alle dem Hunger überlassen. Es wird sie aufregen. Kein Wort. Verstanden?« Ich nickte noch einmal.

»Antworte mir!«

»Ich sag kein Wort.«

Zur Sicherheit gab sie mir noch einen Klaps und ging wieder hinauf.

Später waren alle zu Hause, jeder in seinem Zimmer, wie üblich. Das Haus hatte vier Schlafzimmer, die auf der linken Seite des Flurs lagen, ein Badezimmer am Ende, und auf der anderen Seite waren die Küche, das Speisezimmer und das Wohnzimmer. Der Flur war immer dunkel. Pechschwarz in der Nacht, blutrot von den Buntglasspiegeln tagsüber. Ich hatte Angst, auf die Toilette zu gehen, bis Onkel John mir beibrachte, an der Haustür zu beginnen und mir immer wieder zuzuflüstern »Gott wird mich beschützen. Gott wird mich beschützen« und wie der Teufel zu rennen. An diesem Tag ging ich auf Zehenspitzen, weil meine Mutter im vorderen Schlafzimmer Onkel John erzählte, dass Fortie hergekommen war. Onkel John sagte, er wünschte, er wäre da gewesen, damit er ihn hätte erschießen können. Dann blieb ich vor der Tür zu Mamies Zimmer stehen. Sie sang Sally in den Schlaf. So süß. »Way down in Missoura when my mammy sang to me.« Als ich aus dem Bad kam, war Onkel John in Großpapas Zimmer. Ich lauschte, als Großpapa zu Onkel John sagte, dass Fortunatus versucht hatte, in den Elks Club hineinzukommen. Großpapa hatte ihm ausrichten lassen, er solle verschwinden, sonst würde er die Polizei rufen. Sie redeten noch ein bisschen weiter, was ich aber nicht hören konnte. Nur Bourbon, der in die Gläser gluckerte.

Schließlich kam Onkel John in die Küche. Ich bekam Eistee, während er trank. Er tat sich Minze ins Glas, damit Mamie glaubte, auch er würde Eistee trinken. Er sagte mir, dass Onkel Fortunatus vor vielen Jahren von zu Hause weggegangen war, als sie ihn gerade wirklich brauchten. Sowohl John als auch Großpapa hatten heftig gesoffen und konnten nicht arbeiten. Onkel Tyler und Fortunatus unterstützten die Familie, bis Fortunatus mitten in der Nacht nach Kalifornien gegangen war. Hatte eine Nachricht hinterlassen, in der stand, dass er genug hätte vom Moynahan-Gesindel. Er hatte nie Geld oder auch nur einen Brief geschickt, kam nicht nach Hause, als Mamie beinahe gestorben wäre. Jetzt war er der Präsident irgendeiner Eisenbahngesellschaft. »Besser, du erwähnst nicht, dass du ihn getroffen hast«, sagte Onkel John zu mir.

Wegen Jack Benny waren alle im Wohnzimmer. Sally schlief weiter. Mamie saß auf ihrem kleinen Stuhl, die Bibel wie immer aufgeschlagen vor sich. Aber sie las nicht darin. Sie sah auf das Buch, und in ihrem alten Gesicht lag ein Ausdruck von Glück. Ich begriff, dass Onkel Fortunatus sie gefunden und mit ihr gesprochen hatte. Als sie aufsah, lächelte ich. Sie lächelte zu mir zurück und schaute wieder nach unten. Meine Mutter stand im Türrahmen, rauchte. Das Lächeln machte sie nervös, und hinter Mamies Rücken warf sie mir lauter Shh!-Zeichen zu und machte Gesichter. Ich schaute sie einfach mit einem ausdruckslosen Blick an, so, als hätte ich keine Ahnung, was sie meinte. Großpapa hörte Radio und lachte über Jack Benny. Er war schon betrunken. Er schwang heftig in seinem Schaukelstuhl vor und zurück und zerriss Zeitungspapier in kleine Streifen, verbrannte sie in dem großen roten Aschenbecher. Onkel John stand trinkend und rauchend im Türrahmen des Speisezimmers, nahm alles in sich auf. Er ignorierte die Zeichen, die meine Mutter ihm gab, damit er mich aus dem Zimmer brachte. Ich nahm an, dass auch er sah, wie Mamie lächelte. Meine Mutter machte husch! zu mir, damit ich ging. Ich gab vor, es nicht zu bemerken, und sang die Werbung von Fitch mit: »Wenn dein Kopf juckt, nicht kratzen! Fitch nehmen! Benutz deinen Kopf! Rette dein Haar! Nimm Fitch Shampoo!« Sie schaute mich so böse an, dass ich es nicht aushielt, also holte ich einen Silberdollar aus meiner Socke.

 

»Hey, guck mal, was ich gekriegt habe, Großpapa!«

Er hörte auf zu schaukeln. »Wo hast du das her? Du und die blöden Araber, habt ihr das gestohlen?«

»Nein. Es ist ein Geschenk!«

Meine Mutter schlug mir ins Gesicht. »Du miese kleine Göre!« Sie schleifte mich aus dem Zimmer und warf mich zur Tür hinaus. In der Erinnerung kommt es mir so vor, als hätte sie mich am Schlafittchen gepackt wie eine Katze, aber ich war schon sehr groß, also kann das nicht stimmen.

Sobald ich draußen war, rief Hope, ich sollte schnell rüberkommen. »Sie verbrennen heute frühzeitig!« Das meine ich damit, dass wir dachten, es wäre frühzeitig. Es war einfach noch nicht dunkel gewesen.

Gewaltige Schwaden und Fahnen schwarzen Rauchs stiegen aus dem Schornstein hoch in die Luft, drehten sich und wirbelten mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit herum, die Schwaden breiteten sich über unserem Viertel aus, und es war, als wäre schon Nacht, mit nebligen Rauchfahnen, die über die Dächer und in die Gassen hinunterkrochen. Der Rauch wurde dünner und tanzte und breitete sich weiter über dem gesamten Zentrum aus. Wir konnten uns nicht bewegen. Tränen rannen uns aus den Augen wegen des übelriechenden Brennens und Gestanks der Schwefelabgase. Aber als der Rauch sich über dem Rest der Stadt auflöste, war er genauso von unten beleuchtet wie das Glas von der Sonne, und so wurde sogar Rauch zu Farben. Schönes Blau und Grün und das schillernde Violett und Säuregrün von Benzin in Pfützen. Ein flackerndes Gelb und ein rostiges Rot und dann vor allem ein weiches, moosiges Grün, das sich auf unseren Gesichtern spiegelte. Hope sagte: »Igittigitt, deine Augen haben diese ganzen Farben angenommen.« Ich log und sagte, ihre auch, dabei waren ihre Augen so schwarz wie immer. Meine hellen Augen wechseln wirklich die Farbe, also haben sie sich wahrscheinlich tatsächlich in den Spiralen des Rauchs verfärbt.

Wir schnatterten nie wie die meisten kleinen Mädchen. Wir redeten überhaupt nicht viel. Ich weiß, dass wir kein Wort über die schreckliche Schönheit des Rauches oder des glühenden Glases sagten.

Auf einmal war es dunkel und spät. Wir gingen beide ins Haus. Onkel John schlief auf der Verandaschaukel. Im Haus war es heiß, und es roch nach Zigaretten, Schwefel und Bourbon. Ich kroch zu meiner Mutter ins Bett und schlief ein. Es schien mitten in der Nacht zu sein, als Onkel John mich wachrüttelte und nach draußen mitnahm. »Weck deine Freundin Hope«, flüsterte er. Ich warf einen Stein an ihr Fliegengitter, und innerhalb von Sekunden war sie draußen bei uns. Er führte uns zum Rasen und wollte, dass wir uns hinlegten. »Macht eure Augen zu. Zu?«

»Ja.«

»Ja.«

»Okay, macht die Augen auf und guckt Richtung Randolph Street zum Himmel.« Wir öffneten die Augen in die klare texanische Nacht hinein. Sterne. Der Himmel war voller Sterne, und es war, als wären es so viele, dass einige vom Rand zu springen schienen, sich hinabstürzten, ausgeschüttet wurden in die Nacht. Dutzende, Hunderte, Tausende vorüberschießender Sterne, bis sie schließlich ein Wolkenband verbarg und langsam weitere Wolken den Himmel über uns bedeckten.

»Träumt süß«, flüsterte er, als er uns zurück ins Bett schickte.

Am Morgen regnete es wieder. Es regnete und flutete die ganze Woche lang, und schließlich hatten wir genug vom Frieren und vom Schlamm und gaben unsere Dollars aus, um ins Kino zu gehen. An jenem Tag, an dem wir von »Die Seeteufel von Cartagena« zurückkamen, kehrte mein Vater gesund aus dem Krieg zurück. Kurz darauf zogen wir nach Arizona, weshalb ich nicht weiß, was in dem Sommer, der diesem folgte, in Texas geschah.