Pechschwarzer Sand

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5. Fort Chipewyan

Am nächsten Morgen saß Eric im Bus nach Fort McKay. Bei diesem Ort handelte es sich um eine kleine Gemeinde, die mitten im Abbaugebiet für Ölsande lag. Der Bus war bevölkert von Arbeitern. Einige unterhielten sich, doch die meisten blickten müde vor sich hin.

Eric hingegen sog den Anblick der vorbeiziehenden Landschaft in sich auf. Zunächst fuhren sie durch endlos erscheinende Wälder. Dann änderte sich die Szenerie schlagartig. Der Bus verließ den Wald und sie befanden sich in einer Wüste aus grauem Sand. Es gab keinen einzigen Baum. Am Horizont erblickte Eric ein merkwürdiges gelbes Gebilde. Er konnte sich nicht erklären, was das war. Fabrikschlote kamen in sein Blickfeld. Sie gehörten zu riesigen Industrieanlagen und waren in ein Gewirr aus Rohren eingebettet. Aus den Schornsteinen quoll dunkler Qualm in den Himmel und schien sich mit den Wolken zu vermischen. Etwas Oranges zog Erics Blick auf sich. Er sah eine Warnweste aufleuchten. Doch diese Weste trug kein Mensch, wie er zunächst erwartet hatte. Sie hing an einer Vogelscheuche. In regelmäßigem Abstand waren solche Vogelscheuchen aufgestellt worden. Sie passierten einen See. Auch auf diesem befanden sich Vogelscheuchen. Sie waren auf Ölfässern befestigt und schwankten im Wind hin und her.

Schließlich erreichten sie Fort McKay. Der Bus leerte sich und auch Eric stieg aus. Er blickte sich neugierig um und sah einen Mann auf sich zukommen. Er hatte braunes Haar, das schon etwas schütter wurde und von grauen Strähnen durchzogen war.

»Sie müssen Eric Bergmann sein«, begrüßte er Eric mit einem interessierten Blick aus braunen Augen und schüttelte ihm die Hand.

»Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Sie sind Dr. Lamers?«

»Ja, der bin ich, aber nennen Sie mich bitte William. Kommen Sie, gehen wir zu meinem Boot. Wir haben heute noch eine weite Reise vor uns.«

Die beiden Männer verließen den Busbahnhof von Fort McKay. Einige misstrauische Blicke folgten ihnen.

»Da wären wir, am wunderschönen Athabasca River«, bemerkte Willam Lamers.

Eric betrachtete das schmutzig braune Wasser skeptisch.

»Na ja, vielleicht war er das mal, als meine Großeltern jung waren«, lenkte William ein.

Eric überlegte, wie alt der Arzt wohl sein mochte. Er schätzte ihn auf Mitte 40. William betrat ein gepflegtes Holzboot mit einem Segel. Er forderte Eric auf, die Leinen loszumachen, um abzulegen. Er manövrierte das Boot in die Strömung und setzte das Segel. Erics Hilfe schien er dabei nicht zu benötigen. Sie waren den ganzen Tag flussabwärts unterwegs, bis sie am Abend Fort Chipewyan erreichten.

Eric folgte dem Arzt in das Dämmerlicht der Hütte. William durchquerte das kleine Wohnzimmer und öffnete die Tür zu einem weiteren Raum. Eric blickte dem Arzt über die Schulter und sah ein kleines Schlafzimmer. In einem Doppelbett lag ein ausgezehrter Mann, der sehr krank zu sein schien.

»Hallo Harvey. Ich habe dir Besuch mitgebracht«, sagte der Arzt sanft.

Eric trat an das Bett. »Ich bin Eric. Ich komme aus Berlin. Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn wohnen bei mir.«

Eric konnte sehen, wie die Augen des kranken Mannes aufleuchteten.

»Sie sind also in Sicherheit?«, erkundigte er sich mit leiser Stimme.

»Ja, es geht ihnen gut und sie haben eine kleine Tochter.« Eric war näher an das Bett getreten. »Ich habe ein paar Bilder für Sie, warten Sie einen Moment.« Eric suchte in seinem Rucksack nach den Fotos, die sie extra für Renas Vater gemacht und ausgedruckt hatten. Er reichte sie Harvey und dieser schien den Anblick geradezu in sich aufzusaugen. Eine Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Schließlich sah er Eric an.

»Ich danke Ihnen.«

»Das habe ich gerne gemacht. Chris ist einer meiner ältesten Freunde. Ich kenne ihn schon seit meiner Schulzeit. Ihre Tochter ist wirklich eine liebenswerte Frau und die kleine Melissa ist das niedlichste Baby, das ich seit langem gesehen habe.«

»Melissa heißt sie? Wie meine Frau«, sagte Harvey scheinbar zu sich selbst. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Eric. »Was machen Sie in Kanada? Sie sind doch bestimmt nicht den weiten Weg hierhergekommen, um mir ein paar Fotos und Grüße von meiner Familie zu bringen.«

»Chris und Rena haben mir von den Problemen erzählt, die der Abbau der Ölsande mit sich bringt. Ein Freund von mir leitet eine Umweltorganisation. In dessen Auftrag bin ich hier. Wir wollen sehen, ob wir helfen können.«

»ENTAL ist sehr mächtig. Schon viele Menschen haben versucht, diese Firma davon zu überzeugen, sich aus dem Gebiet zurückzuziehen. Auch ich habe viele Jahre meines Lebens mit dem Kampf gegen die Ölfirma zugebracht. Chris und Rena haben sich engagiert. Sie waren denen ein Dorn im Auge, denn sie haben den Touristen, die ins Land gekommen sind, die Missstände hier vor Augen geführt. Aber bis jetzt konnte niemand ENTAL zum Rückzug zwingen. Ich will nicht unhöflich sein, denn ich bin Ihnen für Ihren Besuch wirklich dankbar, aber warum glauben Sie, dass Sie etwas ausrichten können?«

Eric mochte diesen Mann. Er sprach aus, was er dachte.

»Ich denke, es ist wichtig, niemals aufzugeben. ENTAL soll wissen, dass es Menschen gibt, die sich nicht alles gefallen lassen«, antwortete Eric.

»Harvey, es ist an der Zeit, dass ich dich untersuche«, schaltete sich der Arzt ein. »Eric, wären Sie so freundlich, im Wohnzimmer zu warten?«

Eric verließ das Schlafzimmer und ging ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch und sah sich um. Der Raum strahlte eine rustikale Gemütlichkeit aus. Er war aufgeräumt und sauber, also musste Harvey jemanden haben, der sich um ihn kümmerte. Eric war erleichtert, dass er Renas Vater noch lebend angetroffen hatte.

Eric dachte darüber nach, wie der Ölsandabbau diese Familie zerstört hatte. Doch es war nicht nur diese eine Familie. Dieses Schicksal teilten viele.

Erics grüblerische Gedanken wurden unterbrochen, als der Arzt das Wohnzimmer betrat. Er setzte sich auf einen Sessel.

»Es ist gut, dass Sie Harvey Nachricht von seiner Familie gebracht haben. Es ist sehr wichtig für ihn zu wissen, dass es ihnen gut geht und sie in Sicherheit sind.«

»Wie geht es ihm? Wird er wieder gesund?«, fragte Eric zögernd.

William Lamers schüttelte bedauernd den Kopf. »Er hat Gallenblasenkrebs. Das ist eine sehr tückische Art von Krebs, denn er bildet schnell Metastasen in den umliegenden Organen. Die Symptome treten erst auf, wenn es zu spät ist. Gallenblasenkrebs ist fast immer tödlich.«

»Kann man ihm denn gar nicht helfen?«, fragte Eric, schockiert über diese düstere Prognose.

»Das Einzige, womit man ihm noch helfen kann, sind starke Schmerzmittel, damit er nicht zu sehr leiden muss.«

William erhob sich. »Ich muss jetzt weiter. Ich habe noch andere Patienten, die auf mich warten. Harvey möchte Sie noch einmal sprechen, aber machen Sie nicht mehr zu lange. Er braucht viel Ruhe.« Der Arzt verließ das Haus.

Durch das Fenster sah Eric ihn die Straße entlang eilen. Er schaute William Lamers nach, bis dieser aus seinem Blickfeld verschwand. Dann betrat er das Schlafzimmer.

»Eric, da sind Sie ja. Nehmen Sie Platz.«

Eric setzte sich auf einen Holzstuhl, der neben dem Bett stand.

»Wie lange werden Sie in Fort Chipewyan bleiben?«, erkundigte sich Harvey.

»Das weiß ich noch nicht so genau. Es kommt darauf an, wann ich eine Rückfahrgelegenheit finde.«

»Können Sie morgen noch einmal zu mir kommen? Ich möchte Ihnen einen Brief für meine Tochter mitgeben.«

»Natürlich«, willigte Eric ein.

Er verabschiedete sich und ließ Harvey allein, damit dieser sich ausruhen konnte.

Eric verließ die kleine Pension, in der er ein Zimmer bezogen hatte. Es war die einzige ihrer Art in Fort Chipewyan und genügte für die wenigen Fremden, die sich noch in diese Gegend verirrten. Er brauchte nur einige Minuten, um Harveys Haus zu erreichen. Er klopfte an die Tür und vernahm eine Frauenstimme, die ihn herein bat.

Im Wohnzimmer traf er auf eine Frau, die geschäftig hin und her eilte. Sie hielt kurz inne und musterte den Gast.

»Hallo, ich bin Eric.«

»Ich habe schon von Ihnen gehört. Ich bin Ivy. Eigentlich bin ich Hebamme, aber ich kümmere mich mehr und mehr um die Kranken, wenn kein Arzt vor Ort ist«, stellte die Frau sich vor. »Harvey erwartet Sie.«

»Guten Morgen. Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sich Eric, nachdem er das Schlafzimmer betreten hatte.

Das traurige Lächeln, das er auf dem Gesicht des kranken Mannes sah, war Antwort genug.

»Nehmen Sie Platz«, forderte Harvey seinen Gast auf. Eric setzte sich auf den einfachen Holzstuhl und sah den Mann unsicher an, der im Bett vor ihm lag. Er fragte sich, worüber er sprechen konnte. Harvey nahm ihm diese Mühe ab.

»Ich habe Sie noch einmal zu mir gebeten, weil ich Sie besser kennen lernen wollte. Sie haben meiner Tochter und ihrer Familie sehr geholfen und sie bei sich aufgenommen.«

»Das habe ich gern gemacht.«

»Warum sind Sie nach Alberta gekommen?«

»Ich wollte Rena helfen. Ich hoffe, dass es für Sie etwas leichter ist, wenn Sie wissen, dass es ihr gut geht. Außerdem sollten Sie Ihre Enkelin wenigstens einmal auf einem Foto sehen.«

»Sie haben gestern angedeutet, dass Sie uns gegen ENTAL unterstützen wollen. Haben Sie eine Idee, was man unternehmen könnte?«

»Wir haben noch keine genaue Strategie. Ich bin hier, um Fakten zu sammeln und Eindrücke vor Ort zu gewinnen. Ich hoffe, dass wir dann eine Idee bekommen, was wir unternehmen können.«

»Warum interessieren Sie sich dafür, was am anderen Ende der Welt vor sich geht? Ob hier Ölsand abgebaut wird oder nicht, berührt Ihr Leben in Berlin nicht.«

 

»Es hat das Leben meines Freundes und seiner Familie beeinflusst. Deshalb ist es mir nicht egal«, erklärte Eric nachdrücklich.

»Vor Ihnen sind schon andere Umweltschützer aus Europa gekommen. Jeder von ihnen dachte, er habe die richtige Idee, um ENTAL zum Aufhören zu bewegen. Doch bisher hat es keiner geschafft und alle sind nach einiger Zeit wieder verschwunden. Aber wir mussten bleiben mit dem Dreck, dem Gift, den Krankheiten und dem Tod, der allgegenwärtig ist.«

»Ich behaupte nicht, dass ich die Situation besser verstehe als die Menschen, die hier leben. Ich bin nur gekommen, um meine Hilfe anzubieten. So wie ich es in der Vergangenheit schon häufiger getan habe. Es geht darum, sich zusammenzuschließen und die Kräfte zu bündeln. Es geht darum Gedanken auszutauschen, um gemeinsam bessere Ideen zu entwickeln und wirksamer zuzuschlagen«, sagte Eric eindringlich. »Außerdem kostet alles Geld und das ist in Europa vielleicht leichter zu beschaffen als bei den Menschen, die hier leben.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Ich verstehe«, sagte Harvey nachdenklich. »Wenn das so ist, dann sollten wir tatsächlich unsere Kräfte bündeln.«

Sie wurden von einem leisen Klopfen unterbrochen.

Dr. Lamers betrat das Zimmer und begrüßte sie. Eric erhob sich von seinem Stuhl, um Harvey mit seinem Arzt allein zu lassen.

Eric verließ das Haus. Er schlenderte durch den Ort und gelangte schließlich an einen See. Er setzte sich ins Gras, lehnte sich an einen Baum und beobachtete, wie die Sonne im Wasser glitzerte. Es war ein friedlicher Anblick. Doch dieses Wasser hatte bereits vielen Menschen den Tod gebracht, denn es führte Gift mit sich.

»Hallo Harvey. Haben Sie Lust auf ein bisschen Gesellschaft?«, fragte Eric.

Zunächst hatte er geplant, ein bisschen in der Umgebung von Fort Chipewyan zu wandern. Doch er hatte das Gespräch mit Harvey nicht aus dem Kopf bekommen und wollte diesen Mann näher kennen lernen.

»Wie war Chris eigentlich als Junge?«, erkundigte sich Harvey.

»Er war ein großer, schlaksiger Bursche mit roten Haaren. Er war draufgängerisch und abenteuerlustig. Kanada verkörperte für ihn Freiheit. Während unserer Schulzeit hat er immer davon geredet, wie es wäre, hier zu leben. Seine Eltern waren nicht begeistert von dieser Idee. Vor allem sein Vater war dagegen. Sobald er seinen Schulabschluss in der Tasche hatte, kehrte er Deutschland den Rücken.«

»Als meine Tochter Chris zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hat, habe ich mich gefragt, was sie bloß an diesem großen, blassen Deutschen findet. Es hat nicht lange gedauert und ich habe es verstanden. Er ist warmherzig und fröhlich. Er hat die Natur hier geliebt. Er hat dafür gekämpft, sie zu erhalten. Doch er stand auf verlorenem Posten, so wie wir alle«, sagte Harvey traurig.

»Es ist wirklich eine Schande, dass schon so viel unberührte Natur dem Ölsandabbau zum Opfer gefallen ist.«

»Ja, das ist wahr«, sagte Harvey in sich gekehrt.

Eric sah aus dem Fenster und beobachtete ein Streifenhörnchen, das von Ast zu Ast hüpfte.

Er hörte einen undefinierbaren Laut und löste seinen Blick von dem Streifenhörnchen. Harvey krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht in seinem Bett.

»Was ist los?«, fragte Eric erschrocken. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Doch Harvey war nicht in der Lage zu antworten.

»Soll ich den Arzt holen?«

Eric glaubte, ein leichtes Nicken zu erkennen und rannte los.

Zehn Minuten später kam er mit William Lamers im Schlepptau wieder in das Zimmer geeilt. Der Arzt holte sofort eine Spritze aus seiner Tasche und gab sie Harvey. Kurze Zeit später begann dieser, sich zu entspannen.

»Es ist alles gut. Ruh dich jetzt ein wenig aus«, sprach der Arzt beruhigend auf Harvey ein. Dann bedeutete er Eric, ihm zu folgen.

»Was war los mit ihm?«, fragte Eric immer noch erschrocken.

»Der Krebs löst bei Harvey immer wieder sehr schwere Schmerzattacken aus. Ich tue, was ich kann, aber es reicht einfach nicht«, sagte der Arzt resigniert. »So viele Menschen sind hier krank, aber ich kann ihnen nicht helfen.« Er setzte sich auf das Sofa und schloss für einen Moment erschöpft seine Augen.

»Wir sollten aufbrechen. Ich muss heute noch zurück nach Fort McKay«, sagte der Arzt nach einigen Minuten des Schweigens.

»Okay«, willigte Eric ein.

Beide verließen das Haus und Eric ging zur Pension, um sein Gepäck zu holen. Doch plötzlich erschien ihm der Gedanke unerträglich, Renas Vater allein zu lassen.

In Harveys Haus traf er den Arzt wieder.

»Ich werde hierbleiben«, sagte Eric.

»Ich muss Fort Chipewyan heute verlassen. Ich habe auch in Fort McKay Patienten, die auf mich warten.«

»Ich weiß, aber ich bleibe.«

»Die Leute hier im Ort kümmern sich um Harvey. Aber wenn Sie bei ihm sind, sollten Sie wissen, wie Sie mit den Medikamenten umgehen müssen.« Er erklärte Eric die richtige Handhabung der Medikamente.

»Können Sie…« Eric brauchte einen Moment bis ihm Isabellas Deckname einfiel. »Können Sie Amy und Tom Bescheid geben, dass ich noch eine Weile bleibe?«

»Natürlich, das mache ich. Eric, es hat mich gefreut Ihre Bekanntschaft zu machen«, verabschiedete sich der Arzt.

»Mich hat es auch gefreut«, antwortete Eric. Er war tief beeindruckt von William, der sich so engagiert um die vielen kranken Menschen kümmerte.

»Was machen Sie denn noch hier? Sie sollten doch schon längst mit William davongesegelt sein«, erkundigte sich Harvey.

»Ich wollte noch ein bisschen Ihre Gesellschaft genießen«, antwortete Eric und bemühte sich um einen lockeren Ton.

»Das freut mich. Ich mag Sie. Erzählen Sie mir etwas über sich, Eric«, forderte Harvey ihn auf.

Eric berichtete ihm von seiner Arbeit als Umweltberater, von seinem Leben in Berlin und von seinen geheimen Projekten, die er in regelmäßigen Abständen für Marc ausführte.

»Warum haben Sie sich für den Umweltschutz entschieden?«, fragte Harvey.

Darüber musste Eric nachdenken. Schließlich antwortete er: »Ein Teil meiner Familie kommt aus Norwegen. Das ist ein wunderschönes Land. In den Ferien habe ich regelmäßig meine Verwandten besucht. Wir sind gewandert, Kanu gefahren, haben geangelt und uns die Fische am Lagerfeuer gebraten. Danach sind wir in unsere Schlafsäcke gekrochen und haben uns die Sterne angesehen, bis wir eingeschlafen sind. Ich habe dort eine Freiheit gespürt, wie ich sie in der Stadt niemals gefunden habe. Kanada erinnert mich an Norwegen. Nur dass hier alles größer und gewaltiger ist. Ich wollte die Natur schützen und ihre ursprüngliche Schönheit bewahren. Aber das ist nicht alles«, sagte er nachdenklich. »Unter der Zerstörung der Umwelt leiden Menschen und Tiere und denen möchte ich helfen.«

»Ein guter Grund. Ich wollte einfach nur meine Heimat bewahren und unsere althergebrachten Traditionen und Bräuche fortführen. Ich wollte das Land, das meiner Familie schon seit Generationen gehört, an meine Tochter und meine Enkelin weitergeben. Doch sie mussten fliehen, denn das Land hätte ihnen sonst den Tod gebracht. ENTAL rückt immer näher und wir sind machtlos. Egal, was wir tun, wir können sie nicht aufhalten. Ich habe es schon mein Leben lang gehasst, schwach zu sein und nichts gegen die Ölfirma unternehmen zu können. Jetzt weiß ich, was schwach sein wirklich bedeutet. Ich kann kaum noch aus diesem Bett aufstehen, weil ich zu krank dafür bin. Die Gifte, die aus den Ölfeldern in den Athabasca River gespült werden, haben mich krank und gebrechlich gemacht. Ich bin 58 Jahre. In diesem Alter war mein Vater ein stolzer Mann in seinen besten Jahren. Ich bin nur noch ein schwacher gebrechlicher Schatten«, erklärte Harvey bitter.

Eric war entsetzt. Er hatte sich bisher keine Gedanken über Harveys Alter gemacht. Dieser Mann war jünger als Erics Vater und sein Vater ging immer noch wandern, wenn sie gemeinsam in Norwegen waren.

Die Tage vergingen und Eric verbrachte viel Zeit mit Renas Vater. Wenn Harvey wach war, unterhielten sie sich. Wenn er seine Ruhepausen brauchte, ging Eric im Ort spazieren und kam mit den Einheimischen in Kontakt. Ihm fiel auf, dass regelmäßig jemand nach Harvey sah. Besonders häufig traf er Harveys besten Freund Fred an.

Eric begann ab und zu auf Harveys Sofa zu schlafen. Ihm behagte der Gedanke nicht, den kranken Mann in der Nacht mehrere Stunden alleine zu lassen. Fred schien es ähnlich zu gehen. Er versuchte Harvey immer wieder davon zu überzeugen, zu ihm zu ziehen. Doch Harvey lehnte dieses Angebot vehement ab. Er wollte sein Haus nicht verlassen. Eric löste das Problem, indem er die Pension verließ und bei Harvey übernachtete.

Sie sprachen noch häufiger über den Ölsandabbau und ENTAL. In Erics Gegenwart konnte Harvey endlich seinem Ärger und seiner Wut Luft machen. In Anwesenheit seiner Familie und seiner Freunde hatte er das nie gewagt. Sie sprachen über Rena und Harvey berichtete Eric aus ihrer Kindheit. Er erzählte ihm von seiner Frau Melissa und davon, wie das Leben mit ihr gewesen war. Eric beschrieb ihm im Gegenzug seine Enkelin Melissa in allen Einzelheiten, die ihm einfielen. Manchmal plauderten sie über das Wetter oder über die schönsten Plätze, die sie kannten. Die Ruhepausen, die Harvey benötigte, wurden von Tag zu Tag länger. Eines Morgens betrat Eric Harveys Schlafzimmer, um nach ihm zu sehen. Dieser lag reglos in seinem Bett. Eric berührte ihn an der Schulter und sprach ihn an, aber Harvey reagierte nicht. Eric überprüfte hektisch Atmung und Puls des Mannes. Doch Harvey atmete nicht mehr. Er war in der Nacht gestorben.

Eric setzte sich an das Bett und weinte. Er trauerte um diesen großartigen Mann, der in den letzten Tagen zu einem Freund geworden war.

Nach Harveys Tod wurde Eric auf einmal von Eile getrieben. Er wollte so schnell wie möglich zurück zu Isabella. Doch es gab nicht jeden Tag Mitfahrgelegenheiten von Fort Chipewyan nach Fort McKay und Eric war zu ungeduldig, darauf zu warten. Er entschloss sich, zu Fuß zurück nach Fort McKay zu gehen. Fred besorgte ihm einen Schlafsack, ein Zelt und was er sonst noch für eine mehrtägige Wanderung benötigte. Als Eric bezahlen wollte, weigerte Fred sich, das Geld anzunehmen. Eric hatte so viel für seinen Freund Harvey getan. Ihm die Ausrüstung für seinen Rückweg zu geben, war das mindeste, was Fred tun konnte, um seinen Dank zu zeigen.

Eric wanderte durch einen lichten Nadelwald. Die Einsamkeit tat ihm gut. Endlich hatte er Zeit, um über die letzten Wochen nachzudenken und das Geschehene zu verarbeiten. Er hatte sich hilflos gefühlt und war traurig, dass er nur so wenig für Renas Vater hatte tun können. Doch mit den Tagen begriff er, dass er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er hatte Harveys Schmerzen gelindert, so dass er nicht mehr leiden musste und Harvey hatte die Möglichkeit gehabt noch einmal offen über alle seine Gedanken und Gefühle zu sprechen.

Als Eric Fort McKay erreichte, hatte er seine Trauerphase beendet. Nun brannte er darauf, Harveys Lebenswerk fortzusetzen. Er wollte gegen ENTAL kämpfen und er war entschlossen dieser Firma das Handwerk zu legen.

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