Pechschwarzer Sand

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»Bleiben Sie sofort stehen!«, hatte der Polizist ihm nachgerufen.

»Ich werde meine Frau nach Hause bringen und dafür sorgen, dass die Hebamme sich um sie kümmert. Danach können Sie mich verhaften, wenn Sie ernsthaft der Meinung sind, dass ich gegen ein Gesetz verstoßen habe«, antwortete Chris über die Schulter hinweg.

»Ich werde euch nach Hause fahren.« Colin hatte sich den Autoschlüssel des Streifenwagens geschnappt und war Chris und Rena nach draußen gefolgt.

Die Hebamme des Ortes hatte Rena gedeckt. Sie hatte bestätigt, dass die Schwangerschaft in Gefahr war. Sie verordnete ihr Bettruhe und verbot jegliche Aufregung. Das schloss Verhöre durch die Polizei aus. Seitdem konnte Rena das Haus nicht mehr verlassen. Besucher durften sie nur auf der Couch oder im Bett antreffen. Ihr fiel es schwer die kranke Frau zu mimen. Sie fühlte sich eingesperrt und zur Untätigkeit verdammt.

»Ich muss zur Arbeit«, bemerkte Chris. »Pass gut auf unser Baby auf und mach keine Dummheiten.«

Rena musste lächeln. So verabschiedete er sich in den letzten Tagen immer von ihr. Er gab ihr einen Kuss und streichelte sanft ihren Bauch. Sein Gesichtsausdruck wurde weich und zärtlich, als er eine Bewegung des Babys spürte.

Unvermittelt klopfte es. Erschrocken sah Rena ihren Mann an. Sie erwarteten keinen Besuch.

»Leg dich auf die Couch«, flüsterte Chris ihr zu.

Eilig erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging die wenigen Schritte durch den Raum. Anspannung war in Chris Gesicht zu erkennen, als er die Tür öffnete.

»Hallo Ivy«, begrüßte er dann die Hebamme erleichtert. Chris lebte seit Tagen in der Angst, dass die Polizei sich nicht mehr länger vertrösten lassen würde.

»Hast du ein paar Minuten Zeit?«, erkundigte sich Ivy, während sie eintrat.

Chris nickte und schloss die Tür hinter ihr.

»Wie geht es dir?«, fragte Ivy, an Rena gerichtet.

»Gut«, erwiderte diese. Die Müdigkeit hatte allerdings deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Vor wenigen Tagen hatte sie erfahren, dass ihr Vater schwer krank war. Er hatte Krebs. Es war ein Schock gewesen, das zu erfahren. Ihre Mutter war erst vor wenigen Monaten an dieser Krankheit gestorben. Die Sorge um ihren Vater und ihre eigene Sicherheit hielten sie nachts oft für viele Stunden wach.

Ivy nickte nach einem wissenden Blick in Renas Gesicht.

»Habt ihr euch Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll?«, fragte sie. Die Hebamme war eine resolute Frau. Sie war schlank und wirkte beinahe drahtig. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen.

»Ja«, antwortete Rena. Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Wir wollen so schnell wie möglich aus Fort Chipewyan weg.«

»Das Problem ist, dass wir unter Polizeibeobachtung stehen. Wir wissen nicht, wie wir den Ort unbemerkt verlassen können«, ergänzte Chris.

»Ihr müsst weiter abwarten. Irgendwann werden sie es leid sein, eine bettlägerige Frau zu observieren. Wisst ihr, wo ihr untertauchen könnt?«, fragte Ivy.

»Vielleicht bei Tyrell«, überlegte Rena.

»Bei deinem Cousin?«, fragte Chris ungläubig.

»Tyrell ist als Unruhestifter bekannt. Ich glaube nicht, dass ihr bei ihm sicher seid«, gab Ivy zu bedenken.

»Aber möglicherweise kennt er jemanden, bei dem wir für eine Weile bleiben können«, warf Rena ein. »Außerdem könnte er uns ein Boot besorgen. Ich werde ihn anrufen.«

»Nein, lass mich das machen«, schaltete sich Ivy ein. »Du stehst unter Beobachtung und mit Sicherheit werden auch deine Telefongespräche überwacht.«

»Ich denke, inzwischen trauen sie dir auch nicht mehr über den Weg. Sie wissen nicht, ob du in Bezug auf Rena die Wahrheit sagst oder sie nur decken willst«, bemerkte Chris.

»Das ist richtig, aber ich habe meine eigenen Wege, um mit Leuten wie Tyrell Kontakt aufzunehmen, ohne dass ENTAL davon Wind bekommt. Tyrell hat regelmäßig Kontakt mit einem meiner Neffen. Wenn ich dem eine Nachricht hinterlasse, wird Tyrell mich auf dem Handy meines Neffen zurückrufen. Dann klingt das Ganze nach einem Telefongespräch, in dem eine Tante ihren Neffen fragt, wann er sie mal wieder besuchen kommt.«

»Also gut«, willigte Chris ein. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. »Ich muss zur Arbeit. Ich bin schon ziemlich spät dran.« Er gab Rena einen Kuss, verabschiedete sich von Ivy und verließ das Haus.

»Nun wollen wir mal sehen, wie es dem Baby geht«, sagte Ivy an Rena gewandt.

Chris öffnete die Haustür und spähte in die Dunkelheit. Der große Wanderrucksack auf seinem Rücken versperrte Rena die Sicht nach draußen. Er gab ihr ein Zeichen und sie verließen lautlos ihr Haus. Die beiden eilten durch den Ort und verbargen sich in den Schatten der Häuser. Obwohl es mitten in der Nacht war, war es um diese Jahreszeit nicht so dunkel, wie sie es sich gewünscht hätten. Einen ungünstigeren Zeitpunkt für eine Flucht hätte man nicht wählen können. Doch Chris und Rena blieb keine Wahl. Sie hofften, dass die Leute im Ort jetzt tief und fest schliefen. Die Aufmerksamkeit der Polizei hatte in der letzten Woche endlich nachgelassen. In diesem Punkt hatte Ivy Recht behalten. Vor drei Tagen hatte Rena sich von ihrem Vater verabschiedet. Es ging ihm immer schlechter und er hatte nicht mehr die Kraft, sie jeden Tag zu besuchen. Chris hatte vermutet, dass sie nach einem Treffen mit Renas Vater wieder genauer beobachtet werden würden. Aus diesem Grund hatten sie ein paar Tage verstreichen lassen, bevor sie die Flucht wagten. Rena war es unglaublich schwer gefallen weiterhin Schwangerschaftsprobleme vorzutäuschen. Ihr Vater benötigte ihre Hilfe, doch sie war zur Passivität verdammt. Dieser Abschied lastete sehr schwer auf ihr, denn sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.

Sie kamen am Friedhof vorbei und Rena blieb stehen.

»Was ist?«, wisperte Chris.

»Ich brauche einen Moment«, flüsterte Rena und betrat den Friedhof.

Die Morgendämmerung kam unaufhaltsam näher und sie war in der Lage die Grabinschriften zu lesen. Sie ging zum Grab ihrer Mutter und berührte mit der Hand den kleinen weißen Zaun, der das Grab umgab. In einem stummen Zwiegespräch verabschiedete sie sich ein letztes Mal. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gräber schweifen. Viele der Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, hatte Rena gekannt. Mit einigen war sie befreundet gewesen.

»Wir müssen weiter. Es ist schon fast hell«, erinnerte Chris seine Frau und nahm ihre Hand.

Rena wandte dem Friedhof den Rücken zu und sie eilten weiter. Nachdem sie das letzte Haus passiert hatten, sahen sie eine Gestalt in den dunklen Schatten der Bäume. Rena hielt unwillkürlich den Atem an. Chris trat beschützend vor sie. Vorsichtig näherten sie sich. Dann erkannten sie Tyrell. Sie begrüßten den jungen Mann und folgten ihm.

»Ich habe das Boot am Ufer versteckt. Wir müssen eine halbe Stunde laufen. Näher wollte ich nicht an den Ort heranfahren. Sonst hätte der Motor uns verraten «, sagte Tyrell.

Sie fuhren in dieser Nacht nur ein Stück des Weges und versteckten sich am Tag im Wald. In der nächsten Nacht würden sie auf dem Athabasca River das Firmengelände von ENTAL passieren.

Isabella schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Moment, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Dann hörte sie das Geräusch wieder. Jemand hämmerte an die Tür. Sie spürte eine Bewegung neben sich im Bett.

»Zieh dich an«, wisperte sie dem Mädchen zu, das neben ihr geschlafen hatte.

Lautlos glitt Isabella aus dem Bett und schlüpfte in ihre Sachen. Sie öffnete die Tür des Schlafzimmers und sah auf dem Flur Tom, ihren Mitbewohner.

»Erwartest du jemanden?«, erkundigte sie sich flüsternd.

»Nein«, antwortete Tom ebenso leise.

Isabella schlich ins Büro und überprüfte an ihrem Computer die Bilder, die die Überwachungskamera an der Tür ihr lieferten. Sie sah drei Personen. Zwei davon hatte sie noch nie gesehen. Denjenigen, der an die Tür hämmerte, kannte sie.

»Du kannst aufmachen, es ist Tyrell«, rief sie Tom zu. Sie überprüfte die Bilder der Infrarotkameras, die sie im Wald verteilt hatte. Niemand schien die drei zu verfolgen. Isabella ging in den Flur, um ihre nächtlichen Besucher näher in Augenschein zu nehmen.

Eine hochschwangere Frau und ein Mann mit rotblonden Haaren hatten die Hütte betreten. Tyrell folgte ihnen und stellte die Besucher als Chris und Rena vor.

Rena schwankte vor Erschöpfung und Isabella beeilte sich, sie in das winzige Gästezimmer zu bringen. Sie zog ihr die Schuhe aus. Rena ließ sich ansonsten voll bekleidet auf das Bett sinken.

»Danke«, murmelte Rena und versuchte ihre Augen aufzuhalten, um die blonde Frau näher in Augenschein zu nehmen.

»Schlaf erst einmal. Alles andere hat bis morgen Zeit«, sagte Isabella und deckte Rena zu.

»Wie heißt du?«

»Mein Name ist Amy«, antwortete Isabella und nannte den Namen, den sie sich an dem Tag zugelegt hatte, als sie kanadischen Boden betreten hatte.

Rena schloss erschöpft ihre Augen und war fast im selben Moment eingeschlafen.

Nachdem Rena sich ausgeschlafen hatte, versorgte Isabella sie mit Essen.

Fragend sah Rena sich um. Isabella verstand ihren Blick richtig. »Tom und Chris sind nach Fort McMurray gefahren. Chris wollte Kontakt mit einem Freund aufnehmen und wir hielten es für sicherer, wenn er es an einem belebten Ort tut, an dem viele Leute das Internet nutzen.«

»Und wo ist Tyrell?« Rena nippte an ihrem Tee und aß den Haferbrei, den Isabella für sie gemacht hatte.

»Er bringt das Boot zurück.«

Rena nahm ihr Gegenüber genauer in Augenschein. Die Frau hatte grüne Augen und musste um die 30 Jahre alt sein.

 

»Kommst du aus Deutschland?«, fragte Rena unvermittelt und griff nach dem Apfel, der vor ihr auf dem Tisch lag.

»Wie kommst du darauf?«

Rena glaubte einen Anflug von Besorgnis aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Dein Akzent erinnert mich an den meines Mannes. Er ist vor einigen Jahren aus Deutschland nach Kanada gekommen.«

»Meine Eltern sind aus Schweden eingewandert, als ich noch ein Kind war. Ich bin meinen Akzent nie richtig losgeworden«, erklärte Isabella beiläufig.

Rena wusste nicht, wie Schwedisch klang. Doch sie würde Chris fragen, ob es dem Deutschen ähnlich war.

Am Nachmittag kehrten die Männer zurück. Chris hatte eine merkwürdige Nachricht von Eric erhalten.

»Unser Freund hat mir nahegelegt, in einem Onlineshop eine Publikation zu kaufen«, berichtete Chris seiner Frau. Sie hatten beschlossen, keine Namen zu nennen und auch ihr Reiseziel nicht zu verraten. »Ich habe sie gekauft, aber ich verstehe nicht, was das soll. Ich habe gedacht, darin will er mir irgendwelche Informationen weitergeben. Doch ich kann nichts entdecken.«

»Zeig mal«. Rena streckte die Hand aus. Sie studierte den Text intensiv, doch auch sie konnte keine tiefere Bedeutung erkennen.

»Kann ich es mir einmal ansehen?«, fragte Isabella.

Sie überflog das Geschriebene. »Das ist eine Branchenstudie über erneuerbare Energien in Kanada. Es gibt keinen Grund, für diese Informationen Geld zu bezahlen. Die kann man auch kostenlos herunterladen.« Chris und Rena sahen sich ratlos an. »Wie hast du bezahlt?«, fragte sie weiter.

»Es gab nur die Möglichkeit, per Bankeinzug zu zahlen«, antwortete Chris.

»Wenn der Onlineshop eurem Freund gehört, hat er auf diese Weise eure Kontodaten erhalten«, stellte sie fest.

»Natürlich, das ist es. Jetzt kann er uns das Geld überweisen, ohne dass wir unsere Bankverbindung per E-Mail verschicken müssen«, sagte Chris erleichtert.

Nachdem sie die Gastfreundschaft von Tom und Isabella eine weitere Nacht in Anspruch genommen hatten, nahmen Rena und Chris den Bus nach Edmonton. Sie verbrachten einen Großteil des warmen sonnigen Tages in einem der vielen Parks der Stadt. Am Abend begaben sie sich zum Bahnhof. Sie waren nervös, aber die Polizei schien den Bahnhof nicht zu überwachen. Der Zug nach Toronto fuhr kurz vor Mitternacht.

Rena verbrachte drei unbequeme Nächte auf ihrem Sitz und hätte alles für ein Bett gegeben. Sie war erleichtert, als sie Toronto erreichten und sie den Zug verlassen konnte. In Toronto wollten sie Geld von der Bank abholen. Falls die Polizei diese Transaktion beobachtete, hätte sie einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Aus diesem Grund wollten sie nach dem Termin bei der Bank unverzüglich in den nächsten Zug steigen und die Stadt verlassen. Toronto bot viele Reisemöglichkeiten in verschiedene Richtungen und sie hofften, so ihre Spur verwischen zu können.

Chris prüfte den Kontostand und musste feststellen, dass das Geld nicht da war. Sie waren gezwungen sich ein Hotel zu suchen und zu warten. Rena war zunächst erleichtert, dass sie die Nacht in einem richtigen Bett verbringen konnte, doch die unbequeme Matratze in dem billigen Hotel brachte nicht die gewünschte Erleichterung. Auch am nächsten Tag war das Geld nicht eingetroffen. Die beiden wurden immer nervöser und beratschlagten, was sie tun sollten. Sie beschlossen, noch einen Tag abzuwarten. Wenn sich in dieser Zeit nichts tat, würden sie das Risiko eingehen und Eric kontaktieren.

Am nächsten Nachmittag war das Geld endlich eingetroffen. Chris holte es von der Bank ab und sie setzten ihre Reise nach Montreal fort. Ihren Anschlusszug nach Halifax verpassten sie um eine halbe Stunde. Sie mussten drei Tage in Montreal verbringen, bis der nächste Zug nach Halifax ging.

Noch einmal stand Rena eine unbequeme Nacht in einem Zug bevor, dann hatten sie endlich die Küste erreicht. Sie hatten durch ihre ungeplanten Aufenthalte fünf Tage verloren. Das Schiff, das sie nach Deutschland bringen sollte, hatten sie verpasst.

Sie fuhren zum Hafen, um ein anderes Schiff zu finden. Sie erfuhren, dass in vier Tagen das nächste Schiff einlief, das Passagiere mit nach Europa nahm. Wieder waren sie gezwungen sich ein Hotel zu suchen. Ungeduldig erwarteten sie die Ankunft des Schiffes, das sie endlich aus Kanada wegbringen würde.

Vier Tage später gingen sie zum Hafen, um mit dem Kapitän den Preis für die Überfahrt auszuhandeln. Doch nach einem Blick auf Renas dicken Bauch lehnte er es ab, sie mitzunehmen. Er wollte keine Probleme mit einer Schwangeren haben. Das Schiff verließ den Hafen ohne sie. Sie mussten eine weitere Woche abwarten, bis sich ihre nächste Chance bot. Diesmal blieb Rena im Hotel, während Chris die Passage buchte.

Als sie gemeinsam an Bord gingen, trafen sie nur ein paar Mannschaftsangehörige an. Einer kontrollierte ihr Ticket. Ansonsten bedachte er sie nur mit einem flüchtigen Blick. Vorsichtshalber blieben sie in ihrer Kabine, bis das Schiff den Hafen verlassen hatte. Nun gab es für den Kapitän keine Möglichkeit mehr, ihnen die Überfahrt zu verweigern.

2. Ein schwieriges Projekt

Eric sah noch einmal seine Unterlagen für das Gespräch mit Alfred Edelmann durch, doch immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Seit Wochen hatte er nichts mehr von Chris gehört. Er fragte sich, was passiert war. Er konnte Chris keine E-Mail schicken, denn er befürchtete, dass er Chris damit in Schwierigkeiten bringen würde. Eric war sehr vorsichtig gewesen. Er hatte sich von Hank, einem befreundeten Computerspezialisten, in Windeseile einen Onlineshop einrichten lassen, um Chris' Kontoverbindung zu erhalten. Sein Freund Marc hatte das Geld an Chris überwiesen. Marc leitete eine Umweltorganisation und lebte in Brüssel. Auf diese Weise führte keine Spur nach Berlin.

Eric riss seine Gedanken mühsam von diesem Thema los. Er musste sich darauf konzentrieren, Edelmann das Konzept für seinen Supermarkt vorzustellen. Es war an der Zeit, das Geld zu verdienen, das er Chris bereits überwiesen hatte. Er würde seine ganze Konzentration brauchen, damit Edelmann ihn nicht übervorteilte. Er packte seinen Laptop ein und zog seinen Anzug an. Er bemühte sich, mit dem Anzug auch wieder in die Rolle des arroganten Beraters zu schlüpfen. Seine Moonwatch hatte er verkauft. Sein Handgelenk fühlte sich ohne die Uhr nackt an.

Eric ging die zehn Minuten zum Edelmarkt zu Fuß. Er schritt durch den Laden und sah sich um. Er hatte das Gebäude in den letzten Wochen intensiv besichtigt und viele Verbesserungsmöglichkeiten erarbeitet, die sowohl den Energieverbrauch reduzieren würden, als auch ein angenehmeres Ambiente schaffen konnten.

Eric betrat das Büro des Besitzers. Er stellte seinen Laptop auf den Schreibtisch, begrüßte Edelmann und rief eine Animation des Supermarktes auf.

»Beginnen wir mit der Gebäudehülle Ihres Ladens. Diese ist bisher nicht gedämmt worden. Im Winter muss deutlich mehr geheizt und im Sommer stärker gekühlt werden, als es mit einer guten Außendämmung notwendig wäre. Außerdem sind die Fenster hier sehr alt. Ich schlage Ihnen vor, neue Dreischeiben-Wärmeschutzglasfenster zu installieren.«

»Das klingt aber ziemlich teuer«, warf Edelmann ablehnend ein.

»Durch diese Maßnahmen können Sie viel Geld für Heizung und Kühlung Ihres Ladens einsparen«, entgegnete Eric. Dann fuhr er mit seinem Konzept weiter fort. »Auf dem großen Flachdach können Sonnenkollektoren installiert werden, um Strom zu produzieren. Die Stromproduktion kann durch kleine Windturbinen auf dem Parkplatz ergänzt werden.«

»Windturbinen auf dem Parkplatz, das gefällt mir.« Edelmann nickte zustimmend.

»Ein Gebäude wie dieses verschlingt viel Energie für die Beleuchtung. Ich nehme an, dass Sie bereits alles auf LED-Lampen umgestellt haben?«

»Natürlich«, sagte Edelmann herablassend. Das Einsparpotenzial dieser Maßnahme hatte er selbst erkannt.

»Allerdings müssen Sie fast den gesamten Innenbereich künstlich beleuchten, da es nicht ausreichend Fenster gibt. Durch einen Einbau von Oberlichtern im Dach wird das Tageslicht besser genutzt und viele Ihrer Lampen sind dann überflüssig.«

»Sie wollen Löcher in mein Dach bohren?«, bemerkte Edelmann skeptisch. »Nicht, dass es dann undicht wird.«

»Ich versichere Ihnen, dass es Firmen gibt, die in der Lage sind Oberlichter einzubauen, ohne dass es hinterher in Ihren Laden tropft.« Eric war genervt von diesem Mann. »Oberlichter, die natürliches Licht in das Gebäude lassen, schaffen außerdem ein angenehmeres Ambiente. Das wäre gut für Ihre Mitarbeiter.«

»Ich gebe doch kein Geld aus, damit sich die Mitarbeiter hier wohl fühlen. Die sollen arbeiten. Mein Laden ist keine Wellnessoase!«

»Studien haben ergeben, dass Angestellte produktiver sind, wenn sie nicht den ganzen Tag in künstlicher Beleuchtung arbeiten müssen, sondern in Räumen tätig sind, in denen Tageslicht vorhanden ist. Außerdem wäre es für die Kunden angenehmer, sie würden länger im Laden verweilen und mehr kaufen.« Dieses Argument gab Alfred Edelmann zu denken. »Für die Bereiche, die weiterhin künstlich beleuchtet werden müssen, ist es ratsam, Anwesenheitssensoren einzubauen, so dass das Licht gedimmt oder abgeschaltet wird, wenn sich niemand dort aufhält.«

Dagegen sagte Edelmann zur Abwechslung einmal nichts.

Eric fuhr weiter fort. »Die Überprüfung des Leitungssystems von Heizungen und Klimaanlagen hat ergeben, dass diese schlecht isoliert sind. Hier müssen die Lecks beseitigt werden.«

»Die Heizung und die Klimaanlage des Ladens funktionieren tadellos. Da ist absolut nichts kaputt!«, erwiderte Edelmann aufgebracht.

»Ich habe nicht gesagt, dass sie nicht funktionieren. Aber sie könnten effizienter arbeiten, wenn sie besser isoliert wären«, erwiderte Eric geduldig. »Bleibt noch ein Punkt. Die Kühlschränke für die Milchprodukte im Laden haben keine Türen. Sie benötigen viel Energie, um die Waren kalt zu halten. Die anderen Bereiche müssen Sie dagegen stärker heizen. Wenn Sie Kühlschränke mit Türen anschaffen, können Sie auch hier noch einmal sparen. Außerdem empfehle ich Ihnen, in Zukunft Ökostrom zu beziehen«, schloss Eric seine Vorschläge ab.

»Das klingt ja sehr interessant, aber ich glaube nicht, dass derartig umfassende Veränderungen notwendig sind«, sagte Alfred Edelmann ablehnend.

»Mit diesen Maßnahmen kommt der Edelmarkt auf den aktuellen technischen Stand. Im Moment ist das Gebäude hoffnungslos veraltet.«

»Die Idee mit den Windturbinen finde ich gut. Die Anwesenheitssensoren für das Licht und neue Kühlschränke sind auch in Ordnung. Über die Oberlichter werde ich noch einmal nachdenken, aber den Rest finde ich übertrieben.« Alfred Edelmann hatte sich die Maßnahmen herausgesucht, die für die Kunden eine offensichtliche Veränderung darstellten. Dem Mann ging es nicht um tatsächliche Verbesserungen. Er wollte sich nur einen ökologischen Anstrich geben.

»Eine detaillierte Kosten-Nutzenanalyse habe ich hier.« Eric erläuterte ausführlich, wie hoch die einzelnen Kosten der Maßnahmen waren und wie schnell sich diese amortisieren würden.

»Ich bin sicher, dass die von mir ausgewählten Veränderungen ausreichend sind. Den Rest brauche ich nicht«, lehnte Edelmann kategorisch ab.

»Wenn es das ist, was Sie wollen, werde ich Ihre Wünsche in Auftrag geben.« Eric sehnte das Ende dieses Termins herbei.

»Da Sie viele Vorschläge gemacht haben, die ich nicht benötige und ich nur einen kleinen Teil ihrer Ideen umsetzen werde, verlange ich einen Teil des Honorars zurück«, stellte Edelmann unverschämt fest.

Eric hätte sich denken können, dass der Mann versuchte, ihn um sein Geld zu betrügen.

»Herr Edelmann, die bisher vereinbarte Bezahlung hängt nicht davon ab, wie viele meiner Vorschläge Sie annehmen oder ablehnen. Sie bezahlen mich dafür, dass ich Ihnen ein Konzept erstellt habe, wie der Laden energieeffizienter gestaltet werden kann und das habe ich getan. Für den Fall, dass ich Ihr Projekt weiterhin betreuen soll, werden zusätzliche Zahlungen fällig. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie Ihr Geld zurück haben wollen, weil Ihnen meine Ideen nicht zusagen, sollten Sie unseren Vertrag noch einmal intensiv studieren. Diese Möglichkeit ist darin ausdrücklich ausgeschlossen. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie sprechen mit meinem Anwalt oder wir setzen die von Ihnen gewünschten Maßnahmen um«, wies Eric den Mann in seine Grenzen.

Alfred Edelmann sah sein Gegenüber grimmig an. Er hatte die Zähne fest aufeinander gebissen und schien vor Wut zu kochen.

 

Eric stand auf und nahm sein Laptop. »Geben Sie mir Bescheid, wofür Sie sich entschieden haben«, sagte er kühl und verließ den Raum.

Innerlich schäumte er. Er hatte schon viele unangenehme Kunden erlebt, doch dieser Mann war der Schlimmste von allen. Eiligen Schrittes verließ er den Laden und ging aufgebracht nach Hause. Den Auftrag würde er so schnell wie möglich hinter sich bringen, denn mit diesem schmierigen Halsabschneider wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Ihm taten die Leute leid, die im Edelmarkt angestellt waren.

Der Termin hatte länger gedauert, als Eric gedacht hatte. Inzwischen war es bereits Nachmittag. Die Sonne schien und es war drückend heiß. Eric kam an einem Café vorbei. Ihm fiel auf, dass nur die Plätze unter den Sonnenschirmen belegt waren. Die Menschen suchten im Schatten nach ein wenig Abkühlung. Sein Blick blieb zufällig an einem Schopf auffällig rotblonder Haare hängen. Er zögerte und nahm den Mann genauer in Augenschein. Dieser musterte Eric ebenfalls.

»Chris?« fragte Eric.

Der Angesprochene stand auf und grinste Eric breit an. Eric drängelte sich an ein paar anderen Gästen vorbei zu Chris. Die beiden Männer umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

»Ihr seid da. Ist alles in Ordnung mit euch?« Eric blickte von Chris zu der schwarzhaarigen Frau, die an dem kleinen Kaffeetisch saß. Sie hielt ein Baby im Arm.

»Ja, die Reise hat länger gedauert als geplant, aber wir sind endlich da«, erwiderte Chris. In seiner Stimme schwang Freude und Erleichterung mit. »Das ist meine Frau Rena.«

»Es freut mich, dich kennen zu lernen.«

»Nice to meet you«, erwiderte Rena lächelnd.

»Ich wusste nicht, dass euer Baby schon da ist«, sagte Eric verwundert.

»Sie ist auf dem Schiff zur Welt gekommen, vier Wochen zu früh«, erklärte Rena in überraschend gutem Deutsch.

Chris wurde bei der Erinnerung daran blass.

»Geht es euch gut?«, Eric sah Rena besorgt an.

Rena nickte. »Ja, ich habe schon ein paarmal bei Geburten mitgeholfen. Außerdem hat meine Hebamme mir für den Notfall erklärt, was wir beachten müssen.«

»Ich fand das schrecklich. So etwas möchte ich nie wieder erleben. Falls wir jemals wieder ein Kind bekommen, möchte ich, dass es in einem Krankenhaus mit ganz vielen Hebammen und Ärzten geboren wird, die sich um alles kümmern«, sagte Chris schaudernd. Die Geburt seiner Tochter hatte ihn sichtlich mitgenommen.

»Man braucht keine Ärzte, um ein Kind zu bekommen. Zu Hause hatten die meisten Frauen auch keinen Arzt. Solange es keine Komplikationen gibt, können Frauen das alleine und Komplikationen hatten wir nicht.« Rena legte Chris besänftigend ihre Hand auf den Arm. Sie schien das Erlebnis deutlich besser verarbeitet zu haben als ihr Mann.

»Zum Glück! Denn mitten auf dem Atlantik hätte uns niemand helfen können«, stellte Chris fest.

Eric hatte der Unterhaltung fasziniert gelauscht. »Wie heißt eure Tochter denn?«

»Sie heißt Melissa«, antwortete Chris mit einem stolzen Blick auf das Baby.

»Ihr seid bestimmt müde. Lasst uns in meine Wohnung gehen«, schlug Eric vor.

Die drei verließen das Café.

»Wie lange wartet ihr schon?«, fragte Eric.

»Wir sind seit ungefähr einer Stunde da. Wir haben bei dir geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht. Also haben wir uns in das Café gesetzt und gehofft, dass wir dich sehen, wenn du nach Hause kommst«, erklärte Chris.

Sie betraten die Wohnung und Eric zeigte ihnen das Schlafzimmer, das sie in Zukunft bewohnen würden.

»Wollt ihr euch ausruhen, während ich etwas zu essen besorge?«, erkundigte sich Eric. Ihm war die Erschöpfung nicht entgangen, die sich in Renas Gesicht abzeichnete.

»Ja, gerne«, antwortete Rena verhalten.

Eric schulterte einen großen Rucksack und ging zur Markthalle. Auf dem flachen Gebäude thronte ein riesiges Gewächshaus. Eric wusste, dass es nicht nur ein simples Gewächshaus war. In diesem Bauwerk wurden Pflanzen mittels Hydrophonik angebaut. Dank dieser Technologie benötigten sie keine Erde, so dass eine Menge Gewicht gespart werden konnte. Das war wichtig, um die Traglast des Daches nicht zu überschreiten. Die Hydrophonik bot außerdem noch weitere Vorteile. Die Pflanzen benötigten weniger Wasser und es mussten keine Pestizide eingesetzt werden. Um Blattläuse zu bekämpfen wurden einfach Marienkäfer im Gewächshaus ausgesetzt. Eric blickte stolz auf die Konstruktion. Es war eines seiner Projekte.

Eric ging in die Markthalle und erstand Zucchini, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und frische Kräuter, die am Morgen auf dem Dach geerntet worden waren. Damit würde er eine Nudel-Zucchini-Pfanne zubereiten. Dann besorgte er alles andere, was sie in den nächsten Tagen benötigen würden.

»Jetzt erzählt doch mal, warum ihr so lange nach Deutschland gebraucht habt«, erkundigte sich Eric, während sie in seiner geräumigen Wohnküche aßen. Vor der dritten Ölkrise, als Flugzeuge noch allgegenwärtig gewesen waren, hätte die Reise nur einen Tag gedauert und sich nicht über Wochen hingezogen. Inzwischen standen Flugzeuge nur noch Privilegierten zur Verfügung.

»Eigentlich wollten wir das Geld, das du uns überwiesen hast, in Toronto von der Bank abholen. Wir haben diese Stadt dafür ausgewählt, weil wir hofften, dass es dort schwierig sein würde, unsere Spur zu verfolgen. Doch als wir in Toronto angekommen waren, war das Geld noch nicht da. Wir mussten zwei Tage in der Stadt warten. Als wir das Geld endlich hatten, sind wir weiter gefahren. Allerdings haben wir unseren Anschlusszug nicht mehr erreicht und dadurch insgesamt fünf Tage verloren«, erzählte Chris und schob sich eine Gabel mit Nudeln in den Mund.

»Ich hatte die Zusage eines Kunden für die Anzahlung eines Auftrages. Allerdings hat er nicht pünktlich gezahlt. Es hat ein paar Tage gedauert, an das Geld zu kommen«, erklärte Eric bedauernd.

»Als wir in Halifax angekommen sind, war das Schiff fort, mit dem wir fahren wollten. Das nächste hat uns nicht mitgenommen, weil ich schwanger war.« Rena aß mit Appetit weiter.

»Dieser Mistkerl von Kapitän hat uns einfach stehen gelassen«, sagte Chris und fuchtelte erbost mit der Gabel in der Luft. »Seinetwegen mussten wir noch eine Woche warten, bis das nächste Schiff ankam, auf dem wir mitfahren konnten. Dieses Mal sind wir kein Risiko eingegangen. Ich bin alleine zum Hafen gegangen, um unsere Passage zu buchen. Dann haben wir abgewartet, bis der Kapitän anderweitig beschäftigt war, um an Bord zu gehen. Zum Glück hat es geklappt. Sonst würden wir wahrscheinlich jetzt noch in Halifax festsitzen«, sagte er grimmig. »Insgesamt haben wir zwei Wochen verloren und wenn das nicht passiert wäre, wäre unser Kind in einem anständigen Krankenhaus in Deutschland geboren worden.«

Eric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich hatte er einen Teil zu der Verzögerung beigetragen. Rena bemerkte seine Verlegenheit.

»Wir danken dir, dass du uns geholfen hast. Das war sehr großzügig von dir und es war bestimmt nicht einfach«, sagte sie an Eric gewandt.

»Ich bin froh, dass ich euch helfen konnte. Aber warum musstet ihr Kanada so überstürzt verlassen?«

»Als wir erfahren haben, dass Rena schwanger ist, haben wir beschlossen aus Fort Chipewyan wegzuziehen. Es gibt in der Gegend sehr viele Krebsfälle und wir wollten, dass unser Kind gesund aufwachsen kann«, sagte Chris, der sich wieder beruhigt hatte.

»Meine Mutter ist vor einigen Monaten gestorben. Sie hatte Krebs«, erklärte Rena. »Mein Vater ist auch an Krebs erkrankt «, fügte sie leiser hinzu.

»Das tut mir leid«, sagte Eric betroffen.

»Wir wollten nicht, dass Melissa krank wird und das wäre bestimmt passiert, wenn wir geblieben wären.«

»Das liegt an dieser verdammten Ölfirma. Die sind nur darauf fixiert, wie sie ihren Gewinn steigern können. Was sie dabei anrichten, ist ihnen egal.« Wut klang in Chris' Stimme mit. »Beim Ölsandabbau wird das Wasser vergiftet. Die giftigen Abwässer, die die Ölfirma verursacht, gelangen in das Grundwasser und in den Athabasca River. Kein Wunder, dass die Menschen Krebs bekommen. Es ist inzwischen fast unmöglich an sauberes Trinkwasser zu gelangen und die Fische aus dem Athabasca River sind ungenießbar.«

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