Über den Missouri

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Bei den letzten Worten sprang an Schonkas Stelle ein anderer vor, Pitt, der entlassene Rauhreiter mit der verstümmelten Nase. Pitt war weder rauflustiger noch mutiger als ein durchschnittlicher Cowboy, aber ohne Geld, ohne Brandy, mit gescheiterten Hoffnungen und ohne Anstellung wurde er unfriedlich. »Keine Hahnenkämpfe?!«, schrie er. »Was bildest du dir denn ein, du massiges Ungeheuer von einem Wirt? Uns nicht freihalten? Uns nicht einmal zum Abschied zu fressen und zu saufen geben? Und uns verbieten wollen, was das Recht von jedem freien Bürger ist? Wenn mich nach einem Hahnenkampf gelüstet, dann gelüstet mich danach, verstehst du, und dann wird auch gekämpft, stell dich nicht in meinen Weg, oder du lernst mein Messer kennen.« Er hatte die Stoßklinge in der Hand.

Johnny wich dem Wütenden erschrocken aus. »Halt die Schnauze, Pitt«, sagte er dabei, »deine Nase ist schon weg – willst du noch ein Auge dazu riskieren?!« Der sogenannte Hahnenkampf war eine Grenzergewohnheit, ein Kampf, bei dem jedes Mittel erlaubt war und der mit allen erdenklichen Rohheiten geführt wurde. Verstümmelte Nasen, ausgequetschte Augen erzählten von solchen Scheußlichkeiten.

Pitt ließ sich nicht mehr zurückhalten. »Den frechen roten Hund da«, rief er, »den Meuchelmörder und Messerstecher, den kennen doch alle Grenzer von Platte, Black Hills und Niobrara. Wie kommt der überhaupt hierher? Dem werde ich endlich Manieren beibringen! Wenn die Lagerpolizei zu feige dazu ist, dann werde ich das schaffen, und der Freddy soll erfahren, wer hier für Ordnung sorgt, seine saufenden Polizisten oder ein entlassener Rauhreiter! Den Burschen leg ich dem Red Fox vor die Füße, dann hab ich meine Anstellung, die mir versprochen ist!«

Der junge Häuptling, von dem die Rede war, schien überhaupt nicht zugehört zu haben; seine Haltung begann gleichgültig, sein Blick verloren zu wirken. Pitt konnte den ausgezehrten Mann für eine leichte Beute halten. Er stürzte sich auf den Indianer.

Aber unerwartet und im Nu hatte dieser pariert. Er hatte die Rechte des Angreifers gepackt und verdreht, so dass Pitt das Messer fallen lassen musste. Überraschend schnell hob der Dakota das Messer auf und warf es dem Delawaren zu, der es geschickt auffing. Der Dakota unterlief Pitt und führte einen Stoß aus, der den Kurznasigen umwarf. Pitt stürzte polternd gegen die Wand und fiel halb bewusstlos zu Boden.

Er wälzte sich, ohne in die Höhe zu kommen. Tokei-ihto ging zu ihm heran und berührte ihn verächtlich mit der Fußspitze, ohne sich zu einer der Brutalitäten hinreißen zu lassen, auf die ihm als Sieger im Hahnenkampf gewohnheitsgemäß das Recht zustand. Sein Dolchmesser steckte er wieder in die Scheide. Er hatte den Stoß nicht mit der Klinge, sondern nur mit dem Knauf geführt.

Wortlos setzte er sich an seinen alten Platz auf der Wandbank neben Tobias.

»Sacré nom!«, rief Louis, der Kanadier. »Das ist aber schnell gegangen. Hast du das ganz begriffen, Philipe?«

»Halb.«

»Du kannst nicht mal so schnell denken, wie dieser Indsman handelt. Lernen musst du, lernen!«

Der junge Bursche lächelte. Mit Nachsicht pflegte er die vielen guten Ratschläge seines Lehrmeisters entgegenzunehmen.

Um Pitt kümmerte sich keiner der Männer. Er würde schon von selbst wieder auf die Beine kommen. Ein Hahnenkampf war Privatsache, und der Kurznasige genoss auch bei der indianischen Lagerpolizei keine Sympathien, denn er hatte sie an ihrer empfindlichsten Stelle, ihrer Zuneigung zum verbotenen Alkohol, getroffen.

»Johnny«, meinte der Delaware, »du bist aber auch wirklich ein Geizkragen gewesen. Hier hast du noch einen halben Dollar. Schenke den Reitern ein, die Abschied feiern!«

Der Wirt brachte schnell und reichlich den gewünschten Brandy, und die Reiter tranken auf das Wohl des Tobias. Pitt lag an der Wand, ächzte und fluchte über die Ungerechtigkeit der Welt.

Schonka goss noch einen Becher hinunter. »Seht ihr«, sagte er, »nun hat sich Harry doch noch hingesetzt, wie ich ihm befohlen hatte.«

»Das ist auch wirklich sehr beruhigend für dich und die gesamte Agentur!«, lästerte der Kanadier.

Johnny ließ sich neben Schonka nieder. »Ihr seid doch vorhin alle bei Red Fox gewesen?«, fragte er. »Könnt ihr jetzt nicht mehr zu ihm hinein? Ist ein anderer drin? Weil du meinst, dass ihr noch warten müsst mit der Sache von Harry da?«

Schonka gab keine Antwort, er war missgelaunt. Aber Blutiger Tomahawk hatte seinen Kopf gehoben, der ihm schwer war, und schaute den Wirt aus verquollenen, trübseligen Augen an. Das heulende Elend des Trunks überkam ihn. »Freddy, der Rote Fuchs, ist sehr schlecht zu uns gewesen, mein Bruder. Ich habe ihm alles geklagt, die mageren Rinder, den stinkenden Speck, die hungrigen Mägen unserer Männer, Frauen und Kinder. Aber er ist wie ein Wolf, der nur selbst fressen will. Ich habe lange und gut zu ihm gesprochen, er aber hat uns die Tür gewiesen, als ob wir Hunde seien. Ich gehe nicht mehr zu ihm hinein, und er hat uns auch gesagt, dass er vor morgen früh keinen Menschen mehr sehen will. Er hat seine Tür zugeschlossen, weil er sehr zornig war.«

»Schweig!«, gebot Schonka seinem Obersten wütend. Er war noch nicht in dem Maße betrunken wie Blutiger Tomahawk und schämte sich der Vorgänge, die hier berichtet wurden.

Tobias steckte dem Wirt ein weiteres Geldstück zu. Johnny äugte verschmitzt und füllte den Brandykrug von neuem. »Ja, ja«, nickte er, »Tobias, du bist ein Meisterkundschafter geworden und hast es zu etwas gebracht! Charly mag den Pitt nicht haben, aber dich will er für die Agentur hier anwerben. Am Niobrara ist jetzt nichts mehr los.«

»Wo ist mein Handgeld?«, fragte der Delaware trocken.

Tobias schmunzelte, und Johnny lächelte breit. Der Wirt zeigte sich nicht sehr verlegen darüber, dass er bei einer kleinen Unterschlagung ertappt worden war. Er respektierte den Delawaren, der sich in den Gewohnheiten der Weißen auskannte.

Es wurde weiter getrunken und geraucht. Die Reiter waren wieder bei Karten und Würfeln. Es stank nach Branntwein, und der Pfeifenqualm füllte den Raum.

Die Reiter, die wieder zu trinken hatten, sangen und grölten, und die Indianerpolizei tat mit. Johnny hatte die Türen abgeschlossen, damit keine ungebetenen Gäste die Szene überraschen konnten. Philipe konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Blutiger Tomahawk weinte und wusste bald nichts mehr von sich. Der schöne Eddy übergab sich, und seine blaue Uniform wurde schmutzig von oben bis unten. Schonka hielt am längsten aus, aber Johnny gab ihm auf des Tobias Bestellung hin doppelt scharfen Branntwein, und daraufhin dauerte es nicht mehr lange, bis auch Schonka unter dem Tisch schnarchte. Johnny warf noch einen Blick auf diesen Schläfer, da er beinahe fürchtete, ihn vergiftet zu haben, tat die Sache aber dann mit einer sein Gewissen beruhigenden Handbewegung ab. Er lief, um die letzten Gäste zu bedienen, die noch imstande waren, einen Becher zu halten. Die Schweißperlen standen dem Wirt auf der Stirn.

Tobias winkte ihn her. »Wie steht es? Hast du nicht eine andere Stube, wo Harry schlafen kann?«

»Aber ja. Kommt mit!« Der Wirt führte die beiden Indianer zu einer Kammer, die eine Innen- und eine Außentür hatte. Ein paar Strohsäcke lagen auf dem Boden. »Das ist für Notfälle«, erklärte Johnny. »Ihr könnt heute hier kampieren.«

Tobias versuchte, ob sich die Außentür öffnen ließ, aber sie war verschlossen. Johnny kramte einen Schlüssel aus einer seiner unergründlichen Taschen hervor. »Da … den könnt ihr haben. Für den Fall, dass euch mal schlecht wird.«

Der Wirt entfernte sich.

Tobias trat dicht neben den Dakota. »Was ist dir jetzt wichtig?« Er flüsterte in der Dakotasprache. »Du bist mein Häuptling.«

»Gib mir deinen Revolver, Geld und den Brief des Capt’n Roach für das Fort Robinson. Ich bringe diese Botschaft hinüber – als Scout! Der Brief kommt an.«

»Und ich?«

»Beobachte Tomahawk, Schonka und die anderen. Vor morgen Mittag wird keiner wach. Fragen sie dich dann, so erzähle ihnen, dass auch du betrunken gewesen seist, gar nichts wissest und dich nun mit dem Brief auf den Weg machen wollest.«

»Sobald sie erfahren oder entdecken, dass du das Haus verlassen hast, berichten sie Red Fox und alarmieren alles. Red Fox ist dein Todfeind. Er hat deinen Vater ermordet, und er wird auch dich töten, wo er dich findet!«

»Aber diese Männer hier alarmieren niemanden, und sie gestehen dem Roten Fuchs niemals ein, dass sie betrunken waren und mich so entkommen ließen. Blutiger Tomahawk wird enttäuscht und beschämt zu seinen eigenen Leuten abziehen, um mitzuteilen, dass auch er nichts erreicht hat und dass sie weiter hungern müssen. Red Fox ist froh, wenn er die Bittsteller nicht mehr zu sehen braucht. Der einzige, der gefährlich für mich bleibt, das ist Schonka.«

»Er ist halb vergiftet von Alkohol, und vor dem dritten Tag wird er nicht mehr richtig wach.«

»Umso besser.«

»Hau. Versuchen wir diesen Coup! Sehen wir uns noch einmal wieder?«

»Ich komme zurück.«

Der Delaware begab sich wieder in die Gaststube und wurde von Johnny auf das Freundlichste empfangen.

Der junge Häuptling war in der dunklen Kammer geblieben. Er ging an die Außentür, öffnete sie zu einem Spalt und schaute in die Nacht hinaus. Es war bitter kalt draußen, und der Boden gefror ohne Schnee. Der Nordwind blies. Bei den Pferden war leise Unruhe. Die Wachen lehnten müde an der Koppel. Sonst war kein Mensch zu sehen.

Den Dakota überlief ein Schüttelfrost. Das Fieber hatte ihn nach Mitternacht verlassen, aber seine Glieder waren ihm schwer wie Blei. Während er am Türpfosten stand, verschwammen ihm Hell und Dunkel und alle Konturen zu einem undeutlichen Schimmern vor den Augen, und er spürte, dass er sich nicht mehr lange aufrecht halten konnte. Er fühlte Schmerzen in der Brust. Tastend, um nicht zu stürzen, ging er zu einem der Strohlager und sank nieder. Die Sinne verließen ihn, und sein Zustand glich eher der Bewusstlosigkeit als dem Schlaf.

 

Aber gegen Morgen wurde er seiner selbst wieder mächtig und kroch auf den Knien zur Tür. Durch den Spalt spähte er nach den verblassenden Sternen. Er raffte sich auf, kam auf die Füße und verließ das Haus. Etwas unsicher, aber geradewegs ging er auf die Koppel zu. Ohitika begrüßte ihn dort schmeichelnd, und Tokei-ihto erinnerte sich, dass er das Tier in der Gaststube zuletzt nicht mehr gesehen hatte. Der Hund war zu dem falben Hengst hinausgelaufen.

Die Wachen schienen nichts Verdächtiges dabei zu finden, dass der Dakota sich sein Pferd holte. Da er etwas schwankend ging, vermuteten sie sicher, dass er angetrunken sei. War er aber frei gekommen, so konnte er auch frei gehen. Tokei-ihto schwang sich auf und ritt im Schritt zu dem der Agentur unmittelbar benachbarten Fort. Ohitika folgte.

Er traf auf eine Kavallerie-Abteilung.

Kaum neugierig, ziemlich verächtlich schauten die Dragoner dem indianischen Reiter auf dem struppigen Mustang entgegen.

Tokei-ihto meldete sich bei dem Befehlshaber, etwas höflicher und in einer mehr militärischen Haltung, als er sie in früherer Zeit, als er Kundschafter der Weißen gewesen war, je eingenommen hatte. Der Zugführer betrachtete den beschmutzten Rock des Indianers kritisch, war aber von dessen Haltung und seinem guten Englisch sichtlich eingenommen. Er ließ sich den vielfach versiegelten amtlichen Brief vorweisen und sagte endlich: »Halte die Augen offen, ob du verdächtigen Indsmen begegnest, die zwischen Fort und Reservation hin und her schleichen. Jenseits unseres Forts lagert Crazy Horse mit seinen roten Banditen. Er soll keine unkontrollierten Verbindungen herstellen.«

»Hau, ich werde die Augen offenhalten!«

Die Fortanlagen glichen einander überall. Tokei-ihto hielt an und musterte Gebäude und Umgebung. Vom grauen Himmel tanzten einzelne große Flocken auf das weiße Land herab. An den Dächern hingen Eiszapfen. Über Schornsteinen spielte der Rauch. Der Atem von Mensch und Tier dampfte.

Der junge Häuptling ritt im Schritt zu den Gebäuden heran.

Vor den Palisaden befanden sich indianische Lastpferde mit ihren Rutschen, einige wenige Ochsenkarren, ein paar Zelte aus Zeltleinwand; ein einziges war noch nach alter Art aus Büffellederplanen hergestellt. Eine Dragonerabteilung zu Pferd mit drei bewaffneten indianischen Scouts kontrollierte die lagernden Indianer sowie zwei Indianergruppen, die eben von Westen her zu den Gebäuden und dem Lager herbeizogen. Die Indianer waren unbewaffnet. Sie gehörten, wie Tokei-ihto sofort erkannte, zu den Dakota-Teton-Oglala.

Der Reiter konnte durch das offene Tor in den großen Hof der Station hineinsehen, und er brauchte nicht lange zu spähen, um zu wissen, was vorging. Die Indianer waren gekommen, um ihre Lebensmittelrationen an dem festgesetzten Tag in Empfang zu nehmen. Speck und Mehl wurden ausgegeben. Mit Mehl allein war nicht viel anzufangen, und von dem ungewohnten Speck wurden die Indianer krank, aber sie nahmen beides ohne jede Bemerkung. Rinder standen, in ihr Schicksal ergeben, im Schnee. Nur eine Kuh, die lange nicht gemolken worden war, brüllte jämmerlich.

Der Dakota setzte den Falben wieder in Bewegung und lenkte quer durch die Lagernden auf den Haupteingang zu. Er hatte die Lider gesenkt, aber seine Augen beobachteten scharf. Es war möglich, dass er jemanden traf, mit dem er bekannt war. Er wusste, dass er selbst bei seinen Stammesgenossen auffallen musste, auch wenn sie ihn nicht persönlich kannten. Er war mit einem Revolver bewaffnet und bewegte sich frei nach Art eines Scouts. Er hatte aber die Gestalt und die Kleidung eines Oglala, und es war noch selten und darum auffallend, wenn ein Angehöriger dieses Stammes als Scout bei den Weißen diente.

Die Gesichter der einzelnen Männer aus seinem großen und zahlreichen Stamm erschienen dem jungen Häuptling alle fremd. Nur der Ausdruck war ihm vertraut: Stolz, Trauer, verschlossene Verzweiflung, Hass ohne Worte, stumpfe Ratlosigkeit; die Nacken beugten sich den besseren Waffen, nicht dem höheren Recht. Tokei-ihto fühlte sich unter diesen Männern wie ein Bruder, auch wenn er keinen der Krieger mit Namen nennen konnte.

Gleichgültige Stimmen weißer Angestellter zählten die Liefermengen ab; die Indianer schwiegen dazu. Die Art ihres Schweigens war für jeden beredt, der das Schweigen geknechteter Menschen zu deuten weiß.

Tokei-ihto trieb sein Tier zu der Stelle hin, wo eine Anzahl Weißer, zum Teil in Uniform, zum Teil in Zivil, die Ausgabe der Lebensmittel überwachte. Eine Gruppe von Oglala meldete sich. Es waren hochgewachsene, abgemagerte Männer. Ohne jede Waffe wirkten sie wie Kriegsgefangene. Sie wurden von der Ausgabestelle zurückgeschickt, da sie noch nicht an der Reihe seien; die Gruppe sollte am folgenden Tag wiederkommen. Die Männer wandten sich um und gingen ohne ein Wort der Widerrede zu dem Lager draußen zurück. Einer davon verschwand in dem Lederzelt, kam aber bald wieder heraus. Er schien dort nur Bescheid gesagt zu haben. Tokei-ihto beobachtete dieses Zelt.

Eine Frau trat aus dem Tipi. Sie konnte noch nicht alt sein, aber sie war auch nicht mehr jung. Tokei-ihto erkannte sie sofort, obgleich er sie nur zweimal in seinem Leben gesehen hatte, das erste Mal als zwölfjähriger Knabe, das zweite Mal vor fünf Sommern als junger Krieger bei einem Fest. Diese Frau gehörte zu den Verwandten Tashunka-witkos und trug den gleichen Namen wie Tokei-ihtos Schwester: Uinonah, die erstgeborene Tochter. Die Frau schaute einen Augenblick prüfend nach dem Reiter, dann ging sie schnell in das Zelt zurück.

»Was willst du?«, fragte eine Stimme scharf. Die Gedanken des Dakota, die einen Augenblick weggelaufen waren, kehrten zurück.

»Wo ist der Diensthabende?«, erkundigte er sich, vom Pferd herab.

»Was willst du?«, fragte der Unteroffizier nochmals.

»Kurierpost!«

Der Unteroffizier wies mit dem Daumen über die Schulter auf eine Tür. »Capt’n Elsworthy.«

Tokei-ihto hängte seinen Falben an. Ohitika blieb dabei sitzen. Der Dakota selbst begab sich in das Dienstzimmer und legte das versiegelte Schreiben auf den Tisch.

Der Offizier, ein jüngerer Mensch mit einem soldatischen Durchschnittsgesicht, betrachtete das Datum. »Du bist ja schnell geritten, Donnerwetter!« Er las. »Aha – hm, hm na ja – So ganz verrucht, wie ihr das am Niobrara noch zu fürchten scheint, geht es bei uns aber nicht mehr zu. Haben die Bande jetzt an der Kandare, und sobald wir mit diesem Crazy Horse fertig sind, werden sie alle in die Reservation getrieben. – Wann reitest du zurück?«

»Habt Ihr Aufträge?«

»Der Kommandant vielleicht. Halte dich morgen früh bereit!« Der Offizier schrieb eine Notiz auf einen Zettel. »Hier – du bekommst so lange Verpflegung bei uns und Futter für deinen Gaul. Von welchem Stamme bist du?«

»Matto.« Das hieß Bär. Der Dakota rechnete damit, dass der Offizier das Dakotawort nicht kannte.

»Matto? Ganz kleiner Stamm, was? Sprichst du auch Dakota?«

»Ja.«

»Du hast einen freien Tag vor dir. Treibe dich draußen etwas herum und horche, was die Dakota zu grunzen haben, wenn sie unter sich sind. Die Leute von Crazy Horse sind eben erst angeliefert worden und schwierig. Der sogenannte Häuptling hetzt ohne Zweifel; er will nicht in unser Fort hereinkommen. Wir müssen ihn überwachen.«

»Ja.«

Tokei-ihto nahm die Verpflegungsanweisung. Der Offizier nickte verabschiedend, und der Indianer ging hinaus. Zuerst sorgte er dafür, dass der Falbe Futter bekam, überredete auch den Kantinenwirt, ein paar Knochen für Ohitika abzugeben. Ihm selbst war nicht nach Essen zumute; er hatte nur Durst und beschied sich mit einem Tee. Der Wirt schüttelte den Kopf.

Der Dakota hatte nicht nur einen Tag vor sich; er hatte auch einen Auftrag für diese Zeit, der in seine Pläne passte. Er schlenderte zum Haupteingang, wo weiterhin Lebensmittelrationen ausgegeben wurden. Dieses Geschäft würde sich bis zum Abend und nach dem, was zu hören war, auch noch über den nächsten Tag hinziehen. Bei der Gruppe der Weißen stand ein junger Mann in Zivil. Er war sehr gut gekleidet, nach Art eines vermögenden Geschäftsmannes, und Tokei-ihto suchte in seinem Gedächtnis, wo er diesen Mann schon einmal gesehen haben könnte. Aber obgleich er ein ausgezeichnetes Personengedächtnis besaß, suchte er vergeblich in seinen Erinnerungen.

Er blieb einen Augenblick in der Nähe des jungen Mannes stehen und fing auf, dass dieser mit dem Namen Finley angeredet wurde, was dem Dakota jedoch auch nichts sagte.

Der Weiße wurde aber auf den Indianer aufmerksam. Dass der Indianer Kurier war und Englisch sprach, musste er mit angehört haben. So redete er ihn sofort sicher und mit einer Art Vertraulichkeit an, wie sie der Herr dem Diener zeigt. »Willst du dir etwas verdienen?«

»Wieviel?«

Finley junior lächelte. »Du kannst einen Geschäftsmann abgeben! Ich suche so nebenbei echte indianische Stücke, Wampumgürtel, Köcher, bemalte Decken, Adlerfedern, gestickte Röcke, präparierte Skalpe! Möglichst von Leuten mit bekanntem Namen! Das ganze Lederzelt dort würde ich kaufen! Dazu so etwas wie eine Echtheitsmarke, ein Totem, sagen wir von Red Cloud oder von Crazy Horse, den Schlachtteilnehmern am Little Bighorn! Ich habe schon als Kind eine Schwäche für Indianerhäuptlinge gehabt.«

»Sie waren mit diesem Gelichter und Mordgesindel damals noch nicht näher bekannt geworden«, bemerkte der Manager, der neben Finley stand und Liefermengen notierte.

Finley opponierte, nicht aus Überzeugung wie einst als Kind, aber aus Sport. »Offen gestanden, ich habe mal einen Indianerjungen gesehen, der wirkte wie der Sohn eines Lords.«

»Ah – im Zirkus«, erriet Tokei-ihto.

»So ist’s«, rief Finley junior. »Wahrhaftig! Du besitzt den sechsten Sinn, Rothaut. Du bist der richtige Mann für mich. Die Indsmen hier sind verdammt verstockt und verbockt. Sie tun, als ob sie kein Wort verstehen könnten. Vielleicht kommst aber du mit deinen Landsleuten zurecht!«

»Was bietet Ihr?«

»Was muss es sein? Brandy?«

»Nein, Fleisch.«

»Fleisch? Weiß nicht, ob das zieht. Wir liefern hier ausreichend Speck, mehr als auf der Reservation. Aber immerhin – die Roten haben einen Hungermarsch hinter sich, und beste Qualität bekommen sie nicht zu sehen.« Finley wandte sich dem buchführenden Manager zu. »Ihr habt doch noch Reserven?«

»Das kommt darauf an, Herr Finley …«

»Für mich jedenfalls! Ich habe genug gegeben, um die Lieferungen für meine Firma zu bekommen. Das dürfte Ihnen persönlich nicht ganz unbekannt geblieben sein.«

»Wenn Sie in Grenzen bleiben mit Ihren Privatansprüchen …« Der Manager hatte den Mund säuerlich verzogen.

»Kleinigkeit! Hier, schreiben Sie dem Indsman einen Zettel, dass er sich ein paar Dosen, und zwar aus den Armeebeständen, mitnehmen kann. Die hat auch meine Firma geliefert. Das andere Zeug ist zu alt. Ich zahle also in Lebensmitteln erster Qualität«, fügte Finley junior, zu Tokei-ihto gewandt, hinzu.

Der junge Häuptling nahm den Schein, ging zum Lager und holte sich einen halben Zentner für die Truppe bestimmtes Büchsenfleisch, dazu zwei Ledersäcke für den Transport. Damit kehrte er zu Douglas Finley zurück.

»Ich will Stempel haben«, verlangte er. »Für den Fall, dass jemand neugierig fragt, wie ich zu dem Fleisch gekommen bin und mit wessen Erlaubnis ich mich damit unter den Leuten des Crazy Horse umhertreibe.«

»Das letzte ist überhaupt verboten«, bemerkte der Manager, der die Lieferungen notierte.

»Reden Sie nicht so unnütz«, bestimmte Finley, »sonst sage ich laut, was Sie da eben wieder geschrieben haben. Hier ist meine gestempelte Firmenkarte; drücken Sie noch Ihren Stempel darauf, den Sie da zur Hand haben – so –, unser Scout ist doch kein Hohlkopf. Du bist heute Abend wieder zurück?«, wandte sich Finley junior wiederum an den Dakota.

»Ja. Aber ein frisches Pferd brauche ich. Das meine ist abgetrieben.« Tokei-ihto hatte seine besonderen Gründe für dieses Verlangen. Mit einem fremden Pferd konnte er leichter unerkannt bleiben.

»Wenn du so weitermachst, bekommst du auch noch eine Anstellung bei Finley & Co.« Der junge Herr Douglas lachte. »Kannst du mit Sattel reiten?«

»Hau.«

»Dann hole dir den Gaul von meinem Stallburschen – Moment!« Douglas Finley pfiff, gab seinem Pferdeburschen eine Anweisung, und wenige Minuten später wurde ein Brauner mit Blesse vorgeführt, gestriegelt und gebürstet, ausgeruht, munter, aber sicher nicht halb so zäh und schnell wie der Falbe.

 

Mit einer geringschätzigen Geste gab Tokei-ihto seine Zustimmung.

»Wie ist das übrigens mit deinem eigenen Rock?«, fragte Finley den Indianer, der neben dem Braunen stand und sich schon aufschwingen wollte. »Wo hast du denn einen solchen Rock her?«

»Er wurde am oberen Platte gefertigt, für den Häuptling der Bärenbande.«

»Der die Station am Niobrara niedergebrannt hat? Großartig.«

»Der Rock ist verschweint«, kritisierte der Manager.

»Kriegsmäßig versaut«, korrigierte Finley. »Sind die Flecke echt?«, fragte er den Indianer. »Ich meine, Menschenblut?«

»Wenn Dakota Menschen sind, ja«, antwortete der Indianer, und bei dem sarkastischen Tonfall, in dem diese Antwort gegeben wurde, hatte Douglas Finley zum ersten Mal während des Gesprächs das Empfinden, dass er zum Besten gehalten wurde. Aber sein Selbstbewusstsein schaltete den Gedanken an eine solche Möglichkeit auch rasch wieder aus. »Gut, gut. Was willst du für den Rock?«

»Ich habe zu essen.«

Finley schaute in das abgezehrte Gesicht. »Du siehst nicht so aus. Aber wie du willst. Dir gebe ich natürlich auch Geld. Du als Scout kannst Geld brauchen. Was sollten die Agenturindianer damit?«

»Der Rock ist nicht zu verkaufen.«

»Dann sieh also zu, dass du anderweitig gute Geschäfte für mich machst!«

»Was habe ich davon?«

»Oha! Es gibt selbst unter Indianern keinen Gentleman mehr! Die geschäftliche Seite der Zivilisation beherrschst auch du schon trefflich. Einen Dollar im Voraus?«

»Zwei.«

»Einen!«

Tokei-ihto ließ die Zügel los und machte Miene, sich zu entfernen.

»Hallo?!«

»Zwei«, wiederholte der Indianer.

»Also zwei. Kannst dir was darauf einbilden, du Rothaut, dass Finley junior dir nachgibt! Das kannst du noch deinen Enkeln erzählen!«

Der junge Häuptling beachtete diese Bemerkungen nicht mehr.

Er kaufte für die zwei Dollar und für das Geld, das Tobias ihm überlassen hatte, noch frisches Rindfleisch, und der Wirt fand zum zweiten Mal Grund, den Kopf zu schütteln. Als der Indianer auf diese Weise alles, was er für seine Zwecke brauchte, beisammen hatte, führte er den sanften und gehorsamen braunen Wallach am Zügel aus den Fortanlagen hinaus. Die Ledertaschen mit den Büchsen und dem Fleisch hatte er rechts und links angehängt und den verbindenden Riemen am Sattel befestigt.

Es schneite stärker. Das Flockengewirbel legte sich wie ein endloser, immerzu sinkender Schleier vor die Augen. Auf Kopf und Schultern der Menschen, in den Mähnen der Pferde, an den Zeltplanen blieben Flocken haften und vergingen nicht.

Das erste Ziel des Reiters war das Lederzelt.

Er pflockte seinen Braunen an und schlüpfte in das Zelt hinein.

Es brannte kein Feuer im Innern. Die gebrochene Helle drang nur verstohlen und mühsam durch Schlitze und Ritzen; es war dämmrig unter den Lederplanen. Im Hintergrund saß die junge Frau, die der Ankommende schon beobachtet und erkannt hatte, zusammen mit einem etwa neunjährigen Jungen. Seit langer Zeit war es das erste Mal, dass der entlassene Gefangene wieder ein Zelt betrat. Er blieb stehen, fing den Blick der abgehärmten Frau auf, die ernst und regungslos an ihrem Platz saß, und fragte: »Wo ist Tashunka-witko?«

Die junge Frau gab keine Antwort.

Der Dakota nahm den Eindruck des gesamten Zeltinnern in sich auf. Der Boden war kahl; nicht eine Decke lag darauf. An den Stangen hingen keine Trophäen.

Die junge Frau schloss die Augen zum Zeichen, dass sie nicht sprechen werde. Der Knabe schaute feindselig auf den ihm fremden Mann mit dem Revolver.

Tokei-ihto sah davon ab, in diese Menschen zu dringen, und verließ das Zelt wieder.

Er machte sein Tier los, schwang sich auf und ritt zwischen den lagernden, wartenden, zum Teil mit ihren Rationen schon wieder abziehenden Indianern hindurch. Er fand kein Gesicht mehr, das er kannte, und ritt langsam wieder zu der Ausgabestelle der Lebensmittel zurück. Douglas Finley stand nicht mehr dort. Der Indianer wandte sich an den Manager, mit dem Finley gesprochen hatte.

»Wo finde ich Tashunka-witko?«

»Wen?«

»Crazy Horse«, verbesserte sich der Dakota.

»Den? Nicht weit von hier, paar Meilen westwärts. Er spricht aber nicht so leicht mit jemand. Da müsste schon ein Wunder geschehen.«

»Vielleicht geschieht es.«

»Absonderlicher Bursche bist du«, murmelte der Manager vor sich hin. »Wenn du für diesen Finley etwas von Wert einhandelst, denke auch an mich.«

Tokei-ihto ritt wiederum aus der Agentur hinaus. Das Reiten mit Sattel und Steigbügel war ihm ungewohnt, wenn er es auch in der Zeit des Verbanntenlebens mit zwölf Jahren im Zirkus Myers in der Rolle »Sohn eines Lords« einmal hatte lernen müssen. Immerhin, so gut wie ein Dragoner verstand er das Reiten im Sattel auch. Der Braune trabte, und der Indianer fand sich rasch wieder in diesen Rhythmus hinein. Das Pferd mit Sattel gab auch seinem Reiter einen agenturmäßigen Anstrich; es wirkte wie ein Merkmal der Zugehörigkeit zur Welt der Weißen, und das war Tokei-ihto in seiner Situation das Erwünschte.

Der Dakota trieb den Braunen zu einem leichten Galopp; die beschlagenen Hufe hinterließen eine Spur, die bei niemandem Verdacht erregen konnte. Das Herz des Indianers klopfte und sprang gegen das fiebernde Blut. Seine Schläfen glühten, seine Hände waren kalt. Aber jede Minute, die er gewann, konnte kostbar für ihn sein, und er dachte nicht daran, sich zu schonen.

Die Dragonerabteilungen, die in der Nähe der Reservation und des Forts noch dauernd unterwegs waren, ließen Fährten zurück, die deutlich genug waren. Der Dakota wollte dem Militär aber jetzt nicht mehr begegnen. Vorsichtig umging er jedes mögliche Zusammentreffen, ohne sich gerade zu verbergen.

Nach knapp zwei Stunden hielt er an. In der Ferne erblickte er ein Zeltlager. Das Land rings war kahl und flach. Niemand konnte sich diesem Lager nähern, ohne bemerkt zu werden.

Der Dakota überlegte einen Augenblick.

Dann trieb er seinen Braunen weiter. Er sah drei dünne Rauchfahnen, die von den Zelten aufstiegen und vom Flockenwirbel gedrückt wurden. Er fand im Weiterreiten Fährten, Spuren unbeschlagener Hufe. Auch der Fährte der Transportgruppe, die zu der Agentur gezogenwar, um Lebensmittel zu holen, begegnete er wieder. Endlich erreichte er die spitz zulaufenden Tipis: Ein paar Kinder mit mageren Gesichtchen beobachteten ihn und verschwanden auch schon schnell in den elterlichen Behausungen. Kein Erwachsener zeigte sich. Aber sicher gab es Augen, die den fremden Reiter heimlich durch die Zeltschlitze musterten.

Der Dakota war selbst lange gefangen gewesen, und es war ihm jetzt, als ob er zu dem Gefängnis eines anderen gehe. Es war ihm beklommen zumute, so kurz vor dem Ziel, denn er wusste nicht, ob er Tashunka-witko antreffen würde und ob er ihn allein sprechen könne. Es blieben ihm nur wenige Stunden, um sein Vorhaben zu verwirklichen, dann musste er zurückkehren zur Agentur.

Der Schneefall war dünner geworden. Die Flocken sanken langsamer. Ein Sonnenleuchten drang zwischen den Wolkenschleiern des Himmels durch, und die Schneepolster glimmerten wie tausend matt erleuchtete Kristalle.

Der junge Häuptling kannte das Zelt Tashunka-witkos von früher her. Er pflockte seinen Braunen davor an und trat ohne weiteres Zögern ein. Der Raum wirkte kahl. Der Boden war festgestampft.

Eine alte Indianerin saß da und machte Yucca-Wurzeln in einer Schüssel zurecht. Sie hielt jetzt in der Arbeit inne. Außer ihr war niemand im Zelt.