Jan und Jutta

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Stimme der Großmagd war immer keifender geworden. Ihre Scheltrede gefiel ihr selbst, sie steigerte sich in ein gewisses Wohlgefühl der Gehässigkeit hinein, in dem sich die Unzufriedenheit ihres Gemütes lösen sollte. Sie dachte nur an sich selbst und daß sie sich mächtig fühlen wollte, während sie das kleine Mädchen mit ihren Worten vernichtete.

Liese weinte. Sie traute sich nicht, laut zu weinen. Ohne einen Ton von sich zu geben, stellte sie den schweren Milchkübel an den gewünschten Platz. Die Tränen sickerten ihr über die blassen Wangen, und es lag eine völlige Hoffnungslosigkeit über dem müden Gesicht, über den allzu früh welkenden Zügen und den gesenkten Schultern der Vierzehnjährigen.

Jan überwältigte es. Der Zorn gegen die Großmagd, der Haß gegen die unbekannte und unfaßbare Macht im Leben, die Menschen schon als Kinder zerbrach, vielleicht auch eine Erinnerung an Friedel, seinen Bruder und Freund, der in der gleichen stillen Weise wie Liese gelitten hatte, zu allem noch der Ekel vor dem Topf mit dem Weißkäse, den der reiche Bauer nach einer reichen Ernte seinen Knechten zu bieten wagte … das war zuviel für einen jungen und starken Menschen, der als Schnitter schon wie ein Herr über die Erde gegangen war.

Als die Großmagd sich eben umdrehte und ihre Mienen sich höhnisch verzogen, weil sie Lieses Tränen sah, da krachte es in der Küche.

Jan hatte den Topf mit Weißkäse an die Wand geschleudert, so daß er in tausend Scherben zersplitterte und der Käse über Wand und Boden spritzte. Es war einen Augenblick vollkommen still.

Die Großmagd war sprachlos. Ihre Lippen hatten sich im Schreck ein wenig geöffnet, aber sie brachte keinen Ton hervor, und sie brachte keine Bewegung zustande. Ein durchaus Unerwartetes und Unbegreifliches war geschehen, und doch spürten alle, daß sie eben hierauf seit Monaten gewartet hatten, auch die Knechte, die verstohlen schmunzelten, und die kleine Liese, deren Wangen sich vor Entsetzen plötzlich hochrot gefärbt hatten.

Die Großmagd wischte sich die Hände an der Schürze ab und verließ die Küche, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Liese machte sich daran, die Scherben aufzukehren und den Käse aufzuwischen. »Ach du lieber Gott«, sagte sie mit zitternden Lippen. »Ach du lieber Gott …, der Bauer wird dir die Papiere geben, Jan.«

»Das soll er mal«, antwortete der ältere kleine Knecht. »Wir fordern sie zu Ostern alle vier.«

Liese, die noch am Boden kniete, um aufzuwischen, richtete den Oberkörper auf und starrte den Sprecher an. Den Lappen hielt sie dabei in der Hand. »Ihr …«, brachte sie nur hervor.

Über Jans Gesicht aber ging Freude, seine Augen blitzten.

»Ja«, sagte er. »Wir! Nicht einer allein, sondern wir vier zusammen. So ist es.«

Die andern nickten.

Liese wurde jetzt weiß im Gesicht vor Aufregung. Sie bückte sich schnell wieder, denn sie hatte einen Schritt gehört und fürchtete, die Großmagd könne schon zurückkehren, ehe der Boden wieder sauber sei.

Aber sie hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Die Großmagd kam lange nicht mehr in die Küche. Die Knechte waren schon zur Arbeit gegangen, als sie sich noch immer nicht sehen ließ.

Als der frühe Abend dieses Wintertages kam, ließen die vier Knechte den Bauern wissen, daß sie ihn sprechen wollten. Sie gingen miteinander hinüber in die gute Stube.

Die Abende waren kalt, und der braune Kachelofen in der Bauernstube war eingeheizt. Auf dem Tisch lag eine frisch geplättete Tischdecke, in Grün und Rot gewebt. Die Wände des Zimmers waren tapeziert, Ranken von Blumen und Blättern zogen sich auf den Tapeten hin bis zur weiß getünchten Decke, die fleckenloser schien als frisch gefallener Schnee. Das Essen war schon abgeräumt, aber aus einer großen Kanne roch es nach Malzkaffee, und die Tassen standen für den Bauern und die Bäuerin bereit. Auf einer Platte lagen große Stücke fetten Streuselkuchens, und eine silberne Dose enthielt ein Pfund Würfelzucker. Der Bauer, ein großer und stämmiger Mann mit gebräuntem Gesicht und leicht ergrautem Haar, hatte sich in seinen Armsessel zurückgelehnt. Die Bäuerin ordnete noch etwas an der Kuchenplatte und ließ sich dann auf einem kleineren Polsterstuhl nieder.

Die Knechte traten ein.

Sie hatten schwere Schuhe an, bis auf Jan, der auch um diese Zeit noch barfuß ging. Sein Geld bekam er erst zu Ostern, die Eltern hatten die große Ausgabe gescheut, und die alten Schuhe waren ihm so klein geworden, daß sie eine Marter für ihn bedeuteten. So lief er bis in den Dezember hinein barfüßig, wie er es schon als kleiner Junge beim Bauern hatte tun müssen. Seine Haut war wie Leder geworden.

Auf den gescheuerten Dielen quietschten die schweren Tritte der drei Knechte, die nur bis zur Mitte des Zimmers gingen. Jan ging lautlos. Alle vier standen in einer Reihe, in jener Haltung, die dem schwer arbeitenden Menschen eigen ist, die Schultern etwas gebeugt, die Arme hängend.

Der Bauer betrachtete die vier mit mißtrauischem Blick. Im Grunde war er Holz von ihrem Holz. Auch er hatte als junger Mensch gepflügt, gesät, gemäht und aufgeladen. Auch seine Arme waren muskulös und auch seine Hände waren knochig und braungebrannt. Aber er war ein Besitzer und die anderen waren Knechte. Es ging um das Geld. Der Bauer war geizig. Die Zeiten waren schlecht, aber doch nicht so schlecht, daß ein großer Bauer nichts hätte gewinnen können, wenn er gut rechnete.

»Was gibt’s?« eröffnete der Bauer das Gefecht, als die Knechte vor ihm standen.

»Wir wollten nur schon Bescheid sagen«, antwortete der ältere Knecht mit der kleinen Statur, »daß du uns zu Ostern dann die Papiere geben kannst.«

Der Bauer zog die Augenbrauen hoch. Die Bäuerin machte eine Bewegung, als ob sie noch an der Kuchenplatte rücken wolle, aber dann ließ sie die Hand wieder sinken.

»Was denn?« sagte der Bauer zu dem kleinen Knecht. »Zu Ostern willst du die Papiere haben?«

»Wir wollen die Papiere haben«, sprachen die andern drei fast in einem Atemzuge.

Der Bauer stopfte sich seine Pfeife, um Zeit zu gewinnen.

»Was ist denn los?« fragte er, als er den Rauch mit den ersten Zügen paffend ausstieß.

»Der Verdienst ist schlecht und das Essen auch«, erwiderte Jan.

Der Bauer wiegte den Kopf. »Als ob ihr Kinder seid! Es ist Krieg. Ich muß abliefern, sie nehmen einem das Letzte weg. Wer will denn im Krieg Butter essen!«

»Der Bauer schon, aber der Knecht wohl nicht?« fragte Jan.

In den Mienen des Bauern zuckte es drohend. »Du bist ein aufsässiger Kerl«, sagte er. »Als ich so alt war wie du, hab’ ich noch den Mund gehalten und gearbeitet, wie es sich für einen Jungkerl gehört!«

Jans Gesicht blieb unbewegt. »Das konntet Ihr halten, wie Ihr wollt«, sprach er. »Wenn Ihr mich aber fragt, muß ich wohl eine Antwort geben und keine, die erlogen ist. Aber ich will nichts weiter als meine Papiere zu Ostern.«

Der Bauer schlug mit der Faust auf den Tisch, und die Platte mit dem fetten Streuselkuchen zitterte nicht weniger als die Bäuerin. »Ihr sollt die Papiere haben! Zu Ostern habt ihr sie. Nur immer hinaus mit euch, das wird das beste sein!«

»Dann haben wir weiter nichts zu sagen«, erwiderte Jochen ruhig.

Die vier nickten kurz und verließen die Stube, in der nunmehr die Bäuerin ihrem Bauern den Malzkaffee einschenken konnte.

Der Bauer rückte sich die gefüllte Tasse näher, rückte sie aber wieder fort, und die Pfeife ging ihm aus. »Die haben sich untereinander verabredet«, murmelte er vor sich hin. »Man wird im eigenen Hause nichts gewahr, erst wenn es zu spät ist. Du kannst sagen, was du willst …«, er schien mit der Bäuerin zu sprechen, aber in Wahrheit hielt er ein Selbstgespräch. »Du kannst sagen, was du willst, aber wer ein Knecht ist, ist unser Feind. Sie sind alle unsere Feinde, mögen sie sein wie sie wollen. Der Jan, das ist ein gewitzter Bursche. Ein Verbrecher ist das. Was brauchst du ihnen schlechtes Essen zu geben …«

Die Bäuerin rührte den Zucker im Malzkaffee um. »Ich will dir was sagen, Bauer. Wem ist alles zuviel, dir oder mir? Oder hast du nicht gewußt, was die Knechte essen? Die Butter wird gut bezahlt!«

Der Bauer klopfte ärgerlich die erkaltende Pfeife aus. »Sei ruhig«, sagte er. »Die Butter wird gut bezahlt, aber kräftige Burschen gibt es jetzt wenig. Die meisten sind draußen im Feld … und wo soll ich vier solche wieder herkriegen? Sie machen uns jetzt schlecht im Dorf.«

»Laß mal«, sagte die Bäuerin. »So werden wir ihnen eben Butter geben müssen.«

»Wenn die Kuh in den Brunnen gefallen ist, wird allemal zugedeckt«, schloß der Bauer. »Aber das habe ich noch nicht erlebt, vier Knechte auf einmal … die Jugend taugt nichts mehr, und die Zeiten werden immer schlechter.«

Er trank einen Schluck Kaffee, doch das gewohnte Getränk schmeckte ihm an diesem Abend nicht.

Um so besser schmeckte Jan und seinen Kollegen am folgenden Morgen die frische Butter, die Liese in einer blinkenden Schale auf den Küchentisch stellte. Als es die Großmagd nicht sehen konnte, lächelte das Mädchen den Knechten bewundernd zu.

Auch der schmächtigen Liese erging es von diesem Tage an nicht mehr so übel. Die Großmagd lief zwar mit verkniffenem Munde umher und ihr Blick war böse. Aber sie schalt weniger, und keiner sprach mehr davon, daß Liese gekündigt werden sollte.

Als es Ostern wurde, nahmen die vier Knechte Abschied.

Auch Jan hatte seinen Holzkoffer gepackt. Er gab Liese noch einmal die Hand, und es tat ihm dabei einen Augenblick leid, daß das Mädchen so allein bleiben sollte. Ihr Vater lag im Sterben, und die alte Kate sollte versteigert werden. Einer der großen Bauern würde die paar Äcker zu seinem Land schlagen; unter den Mächtigen des Dorfes war das längst abgekartet.

 

Jan hielt noch Lieses Hand. »Weißt du«, sagte er auf einmal, denn der Gedanke war ihm selbst erst in diesem Augenblick gekommen, »wenn dein Vater unter der Erde ist, gehst du am Sonntag einmal hinüber nach Buxtehude in die Tischlerei. Die Frau dort kann vielleicht eine wie dich zum Helfen brauchen. Das ist bessere Arbeit für dich als hier.«

Liese nickte, dann verbarg sie das Gesicht in der Schürze und lief schluchzend weg.

Jan aber wanderte mit den anderen drei Knechten die Landstraße zum Städtchen hin. Ein feiner Regen rieselte herab über die sprossenden Felder und die knospenden Bäume; er machte die Joppen, die Hände, die Gesichter der Wandernden feucht, und sie gingen stundenlang schweigend miteinander fürbaß bis zu dem Bahnhof, an dem sich ihre Wege trennten.

Es war Abend, als Jan in seiner kleinen Heimatstadt anlangte. Der Regen hatte aufgehört, und der milde Schein der Dämmerung verklärte die Wolkenstreifen am Horizont. Jan trat in das Bäckerhäuschen ein, in dem seine Eltern wohnten. Die Stiege knarrte unter seinen Schritten. Das Knarren war ein heimatlicher Laut; wie oft hatte sich Jan als Junge über diesen verräterischen Ton geärgert, wenn er sich heimlich zum Schlittschuhlaufen oder Schwimmen wegschlich. Als Jan die Tür zur Küche öffnete, fand er die Mutter darin, den Vater, seine große Schwester Emilie und zwei kleine Geschwister, die ihm fast fremd waren. Der Heimkehrende stellte seinen Koffer ab und zog die feucht gewordene Jacke aus. Er setzte sich nach einem kurzen Gruß zu den andern an den Tisch und löffelte schweigend an einem Teller Milchsuppe, den Emilie ihm hingestellt hatte. Der Vater rauchte eine Zigarre; es war billiges Kraut und roch scharf. Jan zog die Schuhe aus, die ihm die Zehen verkrümmten, und stellte sich in Socken ans Fenster, um die Fußgänger auf der Straße zu beobachten. Die Mutter strickte. Niemand stellte an Jan eine Frage, und Jan erzählte von sich aus nichts. Er war mit dem Koffer nach Hause gekommen, Zeichen genug, daß er aufgehört hatte, beim Bauern zu arbeiten. Was bedurfte es der Worte?

»Morgen gehe ich Eier aufkaufen für das Geschäft, da kommst du mit«, sagte der Vater nach langem Stillschweigen schließlich zu Jan.

Die Sonne war längst hinter dem Wäldchen am Stadtrand versunken; Jan sah durchs Fenster, wie sich die letzten spielenden Jungen, die letzten schwatzenden Frauen von der dunkelnden Straße weg in ihre Häuser begaben. Die Kaufläden waren schon geschlossen. Hinter den Fenstern der Wohnstuben leuchtete Lampenschein.

Emilie schickte die beiden Kinder ins Bett. Dann holte sie ein dickes Kassabuch und trug unter dem Licht der Petroleumlampe die Abrechnung des Tages ein. Sie trennte, was im Laden verkauft und was an die Soldatenküche geliefert worden war; halblaut sprach sie die Zahlen vor sich hin. Die Mutter hörte aufmerksam zu.

Der Vater drückte die letzte Glut des Zigarrenstummels aus. Sein schwarzes Haar war an den Schläfen schon silbergrau.

Emilie schloß das Kassenbuch. Es hatte sich wieder gezeigt, daß die Lieferungen an die Soldatenküche der größte und gewinnbringendste Teil des Umsatzes waren.

Die vier Menschen saßen noch eine halbe Stunde still beisammen; ein jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Die Eltern gingen zuerst ins Bett.

Jan blieb allein mit seiner großen Schwester Emilie, die er als Kind gehaßt hatte. Emilie bemerkte nichts von der Aufmerksamkeit, mit der der Bruder sie betrachtete. Sie hatte sich einen kleinen Briefbogen, Tinte und Feder geholt und schrieb tief versunken einen Brief. Ihre Wangen glühten. Es war vollständig still im Zimmer, nur hin und wieder ließ sich das Kratzen hören, mit dem die Feder widerspenstig über das Papier fuhr. Jan rührte sich nicht.

Emilie faltete den Bogen zusammen, mit einer sanften, streichelnden Bewegung, als ob es die Wange ihres Geliebten sei, und steckte den Brief mit allem Atem der Zärtlichkeit, den er enthielt, in den bergenden Umschlag. Als sie ihn zugeklebt und den Umschlag mit einer Marke versehen hatte, kehrten ihre Gedanken wie aus weiter Ferne in die Stube zurück, und sie sah jetzt erst, daß Jan noch am Fenster stand.

»Dann bleibst du also jetzt bei uns?« sagte sie.

Jan wurde von der Frage der Schwester merkwürdig getroffen. Daheim bleiben! Was hätte er darum gegeben, als er elf oder zwölf Jahre alt war. Sein Herz hatte sich damals in Heimweh verkrampft; auf der einsamen Weide, in der Knechtskammer des Nachts hatte ihn die Sehnsucht nach Eltern und Geschwistern, nach der kleinen Stube und nach seinem Bruder und Freund Friedel geschüttelt. Das schien lange her. Jetzt war Jan fünfzehn Jahre alt, und das unstete Leben, das er führen mußte, wurde ihm durch die jahrelange Gewöhnung zu einem Schicksal, das er eben trug und gegen das er sich dadurch wappnete, daß er sein Gefühl vor anderen und vor seinem eigenen Bewußtsein verschloß. Heute am Morgen erst hatte er wieder einmal Abschied genommen. Abschied von Liese, Abschied von Jochen, Abschied von dem Vieh, das unter seiner Hand gediehen war.

»Was verdienst du denn bei den Eltern?« fragte Jan seine Schwester unvermittelt.

Emilie wurde hochrot. »Ich kriege, was ich brauche«, antwortete sie, »und hin und wieder gibt es Krach.«

Jan zog den Mundwinkel herunter. »Weißt du«, sagte er langsam, »zu Hause bleibe ich nicht. Ich will nicht handeln.«

Emilie wandte rasch den Kopf und hob die Schultern. »Am meisten wird immer noch mit dem Handel verdient«, erwiderte sie eifrig.

Jan antwortete nicht gleich. Er lächelte in sich hinein. Die Schwester hatte sich verraten. Sie liebte einen Kaufmann, das war sicher. Jan kam zum Tisch heran, rückte leise einen Stuhl und setzte sich. »Der Krieg geht auch einmal zu Ende«, meinte er nüchtern. »Ich mag nicht.« Er sprach die letzten drei Worte etwas lauter und sehr entschieden. Dann brach er mitten im Satz ab. Vielleicht konnte er nicht erklären, warum er nicht mochte, aber vielleicht wollte er es auch nicht erklären. Er hatte im stillen eine genaue Vorstellung von seinem Ziel. Er wollte etwas lernen. Er wollte eine Arbeit machen, die angesehen war; er wollte ein Werk schaffen, das greifbar vor ihm stand. Seine Hände sollten etwas bauen, was Bestand hatte. Er wollte auch den Lohn dafür erhalten, der ihm gebührte. Aber mit Emilie konnte er über dergleichen nicht sprechen, so wenig, wie Emilie mit dem Bruder über ihre Liebe sprach.

Jans große und geheime Liebe war die Arbeit, aber nicht die Arbeit, die er machen mußte, sondern die er machen wollte.

»Du gehst doch alle Tage mit Feder und Papier um«, sagte Jan zu Emilie und deutete auf das Kassenbuch. »Kannst du nicht mal für mich an den Zimmermeister Walter Schöning auf der Geest schreiben, daß ich bei ihm Zimmerer lernen will?«

»Was du auch alles vorhast«, antwortete Emilie überrascht und vorsichtig. »Das wird dem Vater nicht in den Kram passen. Du bist erst fünfzehn …«

»Also schreib doch mal. Sonst schreib’ ich eben selbst.«

»Überleg’ dir’s!« In Emilies Stimme lag noch immer die ungewohnte Weichheit. »Vier Jahre Lehrzeit – und du kriegst nichts als das Essen und genau zehn Mark im Jahr! Die Eltern geben dir nichts dazu, wenn du deinen eigenen Kopf hast.«

»Ich hab’ mir’s überlegt«, erwiderte Jan kurz.

Die Nacht und die folgenden Tage und Nächte vergingen. Jan war mit dem Vater von früh bis spät unterwegs, um Eier aufzukaufen.

Es wurde wieder einmal Abend. Der Mann mit den ergrauenden Schläfen und der fünfzehnjährige Bursche, die sich trotz des Altersunterschiedes an äußerem Ansehen, an Schweigsamkeit, Kraft und Zähigkeit so erstaunlich ähnlich waren, kehrten heim. Die Mutter stand an der Haustür, um sie zu empfangen. Das war ungewohnt; es mußte etwas Besonderes geschehen sein. Als sie zu dritt die knarrende Stiege hinaufgingen, sagte die Mutter: »Das ist ja ganz was Neues, daß du wieder zu fremden Leuten gehen willst. Was dir wohl alles noch einfällt?«

»Was?« fragte der Vater kurz und rauh.

Dann war die Tür zur Wohnküche erreicht, und die Eltern traten mit Jan ein.

Am Tisch saß ein fremder Mann in gesetztem Alter; Jans Auge erfaßte die Erscheinung mit einem einzigen Blick; das konnte nur Walter Schöning, der Zimmermeister, sein. Die Begrüßung war kurz. Schöning musterte den jungen Burschen.

»Also, euer Jung da, der kann zu mir kommen«, sagte er dann zu Vater Möller. »Ich nehme ihn in die Lehre.«

Emilie ging aus dem Zimmer.

»Ich komme also zu Euch«, antwortete Jan fest an Stelle der Eltern. »Übermorgen bin ich da.«

Der Meister nickte. Jan sah dem Vater in die Augen und dann der Mutter. Seine buschigen Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, und da er die Zähne aufeinanderbiß, zeichneten sich seine Wangenknochen schärfer ab. Über seinem jungen Gesicht lag schon der Ausdruck des düsteren Trotzes. Hätte sich in diesem Augenblick eine Hand gegen den Burschen erhoben, er würde zurückgeschlagen haben. Der Vater und die Mutter fühlten plötzlich, daß der Sohn sich im letzten Jahr verändert hatte; er war kein Kind mehr.

»Dann ist es also abgemacht«, sagte der Vater. Seine Stimme war heiser und ärgerlich; der Ton klang, als ob er auf einer gelockerten Saite gespielt würde. Die Energie Karl Möllers hatte unter dem Eindruck der Entschlossenheit seines Sohnes, der zum Manne geworden war, auf einmal nachgelassen, und er spürte dieses Versagen der eigenen Kraft mit Widerwillen. Seine eigene Jugend hatte noch einmal Gestalt angenommen und trat ihm entgegen; es war ein sehr eigentümlicher Augenblick, da Karl Möller in Jan sich selbst sah und doch nicht sich selbst, sondern zugleich einen Feind, der anderes wollte als er und stärker wurde. Mit den Worten: »So ist es also abgemacht!« war das stumme Ringen entschieden. Der Meister Walter Schöning nickte und verabschiedete sich bald. Niemand hatte etwas dagegen, daß er schon ging. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, kam Emilie vorsichtig ins Zimmer zurück und atmete auf, da sie alles in Frieden fand.

Zwei Tage nach diesem Ereignis, das äußerlich sowenig Aufhebens verursacht hatte und doch allen unvergeßlich blieb, wanderte Jan wieder mit seinem Holzkoffer der Geest zu.

Er kam zur frühen Abendstunde an seinem Ziel an. Das Anwesen Walter Schönings lag am Eingang des Dorfes, zu dem sich die Straße im hügeligen Gelände hinaufzog; es war eines der größten. Ranken, die sich eben begrünten, wuchsen an der Mauer des Hauses empor und hingen halb über die Fenster. Jan widmete dem Haus beim Näherkommen nur einen raschen Blick; seine Aufmerksamkeit galt dem großen Holz- und Zimmerplatz, der neben dem Haus jetzt in abendlicher Stille und Verlassenheit lag. Zwei riesige uralte Eichenstämme, geschält und gerichtet, strömten noch den herben Geruch feuchten Holzes aus, der sich als letzter Gruß des Waldes mit dem würzigen Atem der Wiesen und dem schmeichelnd-süßen Duft der Kirschblüte aus dem Garten mischte. Ein Stapel Kanthölzer, die Stapel der luftig und auf den Millimeter genau geschichteten Bretter, bereits fertige Binder, verrieten die präzise und bewußte Arbeit der menschlichen Hand. Schuppen umsäumten den Platz, der Jans künftiger Arbeitsplatz sein sollte. Unwillkürlich straffte sich die Gestalt des jungen Burschen, als er hier vorüberschritt; die Kräfte seiner Muskeln, seines Willens und seines Verstandes regten sich lebendiger. Jan besaß ein ausgesprochenes Gefühl für Form und Ordnung in natürlichen und in menschlichen Dingen, und dieses Gefühl wurde befriedigt von den anschaulichen Zeugnissen der formenden menschlichen Tätigkeit, die auf dem weiten Platze zu Feierabend ruhten und auf die Arbeit am kommenden Tag zu harren schienen. An dieser Arbeit des kommenden Morgens konnte Jan schon beteiligt sein.

Jan stand vor dem Hause, um einzutreten. Auch dieses Haus betrachtete er jetzt schon mit anderen Augen, nicht nur als die Stätte, unter deren schützendem Dach er schlafen und essen wollte, sondern als ein Symbol jener stolzen und wohnlichen Bauten, deren Form in Jahrhunderten und Jahrtausenden von denkenden und arbeitenden Menschen geschaffen worden war und die künftig auch Jan mit seinen Händen aus dem Holze der immer wieder sprossenden und grünenden Wälder schaffen wollte.

Als Jan bei dem Krauter Walter Schöning am Tische saß und die abendliche Mahlzeit mit der Familie zusammen einnahm, suchten seine Augen mit unauffälligem Forschen den Charakter eines jeden Menschen seiner neuen Umgebung zu durchdringen. Schönings Gesicht war viereckig, die Stirn eher breit als hoch, die Nase kurz, die Lippen wurden von einem ergrauenden Schnauzbart verdeckt, dessen Haare jetzt die Milchsuppe befeuchtete. Seine Fuchsaugen wichen jeder Begegnung aus, und ihre Aufmerksamkeit schien überall und nirgends zu sein. Wo diese Aufmerksamkeit aber vermutet wurde, entstand Unbehagen, ja leise Furcht; es war, als ob eine eiskalte Brise von dem Meister ausgehe. Er war der Regent des Tisches und schaute jeder Kelle Milchsuppe nach, die die bewegliche Meisterin in die Teller ausgab. Jan beobachtete, wie die mollige Hand der Meisterin unter dem Blick ihres Mannes sofort zurückzuckte, als sie dem Sohn noch einmal hatte nachschöpfen wollen. Der Sohn blieb mit dem ersten und einzigen Teller Suppe, den er erhielt, so hungrig wie Jan. Der junge Schöning war sechzehn Jahre alt, ein halbes Jahr älter als Jan, und gleich diesem zu Ostern der Lehrling des Vaters geworden. Die beiden jungen Burschen, der eigene Sohn und der Fremde, saßen nebeneinander; Jan war etwas größer und in den Schultern kräftiger. Es folgten in der Runde die Schwestern, die mehrere Jahre älter schienen und Jan wenig interessierten, obgleich sie freundliche Mädchen sein mochten und das neue Mitglied des Hauses lebhaft begrüßt hatten. Dem Meister zur rechten Hand saß die Meisterin, und Jan wunderte sich schon am ersten Abend über ihr unverwüstliches Temperament. Denn obgleich auch sie Furcht hatte und nichts wider den Willen ihres Mannes zu tun wagte, lachten ihre hellblauen Augen stets, und die feinen Fältchen des Schalks zogen sich um ihre Wangen und Lippen. War der Meister kantig, eckig und stumm, streng und geizig, wie nur je ein römischer Familienvater, der über seine Sklaven und Kinder gleichermaßen geboten hatte, so war sein Weib im Gegensatz dazu rundlich, gesprächig und gutmütig; sie plapperte, auch wenn sie keine Antwort erhielt, und Jan erfuhr die jüngsten Dorfneuigkeiten aus ihrem heiter-boshaften Munde.

 

Jan war über das Wichtigste, was sich zur Zeit im Dorfe zutrug, bereits unterrichtet, als er mit seinem künftigen Arbeitskollegen und Schicksalsgenossen, dem jungen Schöning, vor dem Schlafen noch einmal ins Freie ging. Die laue Luft des Frühlingsabends erquickte alle, die die Tagesarbeit vollbracht hatten, und die beiden Burschen blieben, wenn auch für sich, so doch nicht allein auf der breiten Straße, die am Hause des Zimmermeisters vorbei in das Dorf hineinführte. Auf den Bänken vor den Häusern saßen die Alten, auf der Straße schlenderten hin und wieder ein paar Mädchen Arm in Arm. Der junge Schöning stieß Jan in die Seite, als dreißig Schritte weiter ein Kichern ertönte; ein Kichern, das Melodie hatte wie eine bald hell klickernde, bald tiefer gluckernde Quelle. Ein dralles Mädchen, stark in der Brust, mit kräftigen Armen und breiten Hüften, hatte den Lockenkopf gesenkt und hielt die Hand vor die lachenden Lippen. Als Jan unter halb gesenkten Lidern nach ihr hinblickte, gab sie rasch das Gesicht frei, aber nur für einen flüchtigen Augenblick. Jan hatte in der Dämmerung ein Paar phosphoreszierende Augen gesehen und einen Mund, zwischen dessen breiten Lippen elfenbeinerne Zähne glänzten. Seine Nerven waren plötzlich auf eine ihm bis dahin unbekannte Weise erregt. Die Mädchen machten unterdessen kehrt und drehten den Burschen den Rücken zu. Jan schaute der strammen kichernden Dirn nach, deren rundes Gesäß sich beim Gehen sichtbar unter dem Rock bewegte. Er sah auch in einem schrägen Streifen des abendlichen Sonnenlichts, das sich noch zwischen die Schatten der Linden stahl, den Nacken des Mädchens, einen fettigen, schlecht gewaschenen Hals, und plötzlich stieg der Ekel in ihm auf, als ob er eine stinkende Speise gegessen habe.

Der letzte Sonnenschimmer wich von der Dorfstraße, die von den breit ausladenden Linden nun ganz in abendliche Schatten gehüllt wurde; die Landstraße lief vom Dorfe gerade nach Westen zu, und ihr Dämmer öffnete sich nur noch in der Ferne wie ein Tor zu rotgoldenem Leuchten. Jan und sein Gefährte hatten die Schritte verlangsamt und schauten halb unbewußt nach dem unerreichbaren, zarten und lockenden Farbenspiel des sinkenden Tages. Als sie sich wieder dem Hause näherten, wurde der junge Schöning von einem Schmiedegesellen angesprochen, der von ungefähr oder auch mit Absicht des Weges kam und noch ein paar Worte zu wechseln gedachte, ehe er ins Gasthaus ging. Jan bemerkte, daß der Schmiedegeselle nach der fettigen Dirn schaute und wie sich das Verhalten der beiden Mädchen unter diesem Blick sofort änderte; sie kicherten nicht mehr; sie richteten sich auf, warfen den Kopf zurück und suchten die Füße zierlich zu setzen. Die Feiste ordnete das Tuch, dessen Enden sie über die Brust geschlungen hatte, und sie machte dabei eine Bewegung, als schaudre sie in der Abendkühle und suche Schutz.

Der Schmiedegeselle dehnte ein wenig die Nüstern, warf noch einen prüfenden Blick auf den Neuankömmling Jan und ging dann hinter den Mädchen her.

Jan und der junge Schöning aber kehrten zum eigenen Anwesen zurück. Als sie im Dunkeln an der Küche vorüberkamen, tat sich ein Türspalt mit hellem Schimmer auf und das freundliche Gesicht der Meisterin erschien. Sie zwinkerte mit den Augen, und der junge Schöning, der dieses Zeichen kannte, nahm Jan am Ärmel und zog ihn mit in die Küche hinein. Auf dem Tisch stand eine Schale mit fetter Brühe und Brotbrocken, es mochte ein aufgewärmter Rest der Mittagsmahlzeit sein. Die Meisterin hatte schon Löffel bereitgelegt, und die Lehrlinge aßen mit allem Eifer und aller Hast, wie sie der Hunger und heimliches Tun mit sich bringen.

Einigermaßen gesättigt ging Jan schlafen. Er hauste zum ersten Mal in seinem Leben in einem Zimmer für sich allein. Es lag zu ebener Erde, und Jan konnte ebenso durch das Fenster aus und ein gehen wie durch die Tür. Der Bursche schaute noch ein paar Minuten zwischen den Ranken hindurch auf die still gewordene Dorfstraße, schräg nach dem Zimmerplatz, der im Dunkel verschwamm, und über die Wipfel der Linden, die sich schwarz gegen die von Sternenlicht erfüllte Himmelsweite abzeichneten. Auf einmal drang ein eigentümlicher Laut an das Ohr des stillen Betrachters, ein melodisches Lachen, bald hell, bald dunkel, es klang fast wie ein heiteres Lied. Jan hob unwillkürlich den Kopf, und dabei kam eine Gestalt in seinen Gesichtskreis, die sich eben wie eine huschende Katze von einem Baum zum nächsten bewegte.

Jan schlug das Fenster zu, daß es klirrte, und kroch unter die Federn.

Als er im Bett lag, zogen die Gesichter und Gestalten, die er an diesem Abend kennengelernt hatte, noch einmal an seinem Bewußtsein vorüber. Es war, als ob die Figuren aufgestellt seien; ein neues Spiel konnte beginnen. Es wurde ein grausames, groteskes Spiel. Für die Komik darin sorgte Mine, das feiste Mädchen mit dem lockenden Lachen.

Ein Jahr war vergangen, seit Jan seine Lehrstelle angetreten hatte. Er hatte den Werkstattraum gefegt, den Schleifstein gedreht, Nägel aus den Brettern gezogen, Holznägel angefertigt, Holz gestapelt, Balken geschleppt und beim Holzfahren geholfen. Die Mädchenwelt wie die Burschen des Dorfes kannten allgemach den mannsgroßen Sechzehnjährigen mit dem schier unbändig dichten schwarzen Schopf, den buschigen Brauen und den Augen, die halb verborgen unter den vortretenden Stirnknochen ruhten. Diese Augen mit ihrer dunkelblauen Farbe gaben dem gebräunten Gesicht seine eigentümliche Note. Jan hatte breite Schultern; unter der schweren Last von Rundhölzern und Balken, die der Lehrling wie ein Altgeselle mit dem Meister zusammen zu tragen hatte, beugte sich sein Rücken jetzt ein wenig. Jan erschien, trotz seines kräftigen Knochenbaus, in dieser Zeit sehr schlank, wenn nicht geradezu mager, denn er arbeitete den ganzen Tag und aß für seinen Hunger stets zu wenig. Mehr noch als seine Hände waren seine Gedanken beschäftigt, die den Blick schärften und lenkten. Nur mit den Augen konnte ein Lehrling bei dem Krauter Schöning lernen. Der alte Fuchs öffnete nicht gern den Mund; nur das Fluchen ging ihm glatt über die Zunge. Die Gedankenarbeit, das angestrengte Beobachten, das Jan allein befähigte, das zu begreifen, was seine Hände tun mußten, prägten sich auch in seinen Gesichtszügen aus, und zu dem Trotz, der früh seinen Stempel darauf gedrückt hatte, traten die feinen Zeichen eines geschärften Bewußtseins.