Jan und Jutta

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jan sah das alles und sah es auch nicht. Er mußte fort von daheim, zu fremden Leuten, um sich den Sommer über sein Brot selbst zu verdienen.

»Er ißt uns die Haare vom Kopf«, hatten die Eltern gesagt, »man kann es nicht mehr aufbringen.«

Um Jans Mund legte sich der trotzig-verschlossene Ausdruck, der ihm seitdem blieb.

Der Milchwagen hielt, und der Milchkutscher ging in ein Gasthaus, aus dem es nach Bier und Wein roch. Er kam bald mit einer ansehnlichen Frauensperson zurück. Jan spürte aus dem Blick, mit dem ihn die Frau betrachtete, daß sie ihn in Empfang nehmen sollte. Ihre Haare waren blond; zum Pfingstfest hatte sie sie mit der Brennschere gewellt. Mit dem Kutscher machte sie ein paar derbe Späße. Jan entnahm aus den Worten, daß Greitschen vor ihm stand, die Großmagd des Bauern, bei dem Jan die Kühe hüten sollte.

»Komm!« sagte sie zu dem Jungen. Sie hatte einen guten Schritt, und der Weg war noch weit. Der barfüßige Jan hielt mit. Er hatte den Mund noch nicht aufgetan.

Die schmalen Feldwege führten in immer einsameres Land. Weit und breit war kein Gehöft mehr zu sehen. Wiesen dehnten sich zwischen hellgrünen Getreidefeldern, weite Wälder bedeckten die Hügel.

Die beiden Fußgänger erreichten den Großbauernhof. Scheunen, Stallungen, Wagenremisen und das große Gutshaus waren aus roten Ziegeln aufgeführt, alle Holzteile mit frischem Weiß gestrichen. Unter den dicken alten schwarzgrün verfärbten Strohdächern glänzte das Rotweiß der Gebäude kräftig in den Abendsonnenstrahlen. Aus den Ställen klangen Kuhbrüllen, Schweinegrunzen und das Stampfen der Pferde. Der Jagdhund und der Teckel des Bauern kläfften.

Greitschen nahm den Jungen mit in das Hauptgebäude. Jan saß beim Abendessen mit den beiden Mägden und den beiden Knechten zusammen am runden Tisch.

Als die Jungmagd abgeräumt hatte, führte Greitschen Jan auf die Stalldiele, die die Reihe der Kühe und der Pferde trennte. An der Stalldiele lagen die Knechtskammern. In einer dieser Kammern sollte Jan hausen. Ein Bettgestell mit Strohsack und Wolldecke und ein Stuhl befanden sich in dem schmalen Raum. Am Wandhaken hing die Joppe des Knechts. Jan setzte seinen Rucksack und sein kleines Paket auf den Boden ab. Es war nicht viel in seinem Gepäck, nicht einmal ein Paar Schuhe.

Sobald Greitschen gegangen war, schlich der Junge noch einmal auf die Stalldiele hinaus. Er zählte die Kühe, die sich wiederkäuend auf frisch aufgeschüttetem Stroh hinter den Futterklappen niedergelassen hatten. Es waren ihrer fünfzehn. Am kommenden Tag sollte Jan sie samt dem Stier auf die Weide treiben.

Am nächsten Morgen gehörte Jan schon zum Hof. Er gehörte dazu wie die Kühe, die Pferde, die vielen Schweine, die Knechte und Mägde, die Äcker, Wiesen und Wälder. Alles zusammen aber, das Haus, die Scheunen, die Ställe, die Felder, das Vieh und die Menschen, gehörte dem Bauern. Als Jan vor diesem Bauern stand, der gerade in der Stube sein Jagdgewehr putzte, dachte sich der Junge nicht viel dabei, aber das wenige, was er sich dabei zu denken hatte, genügte für ein Menschenschicksal. Dieser Bauer war ein »großer« Bauer. Er war wie ein Riese, der über das schweigende fruchttragende Land rings herrschte. Von jetzt an war er auch Jans Herr. Der Bauer machte darüber nicht viel Worte, und Jan hörte die wenigen schweigend an. Dann trollte sich der Junge.

Er lief über verlassene, stille Feldwege zur Schule in das nächste Dorf. Das Dorf war weit entfernt. Jan pfiff auf dem langen einsamen Weg vor sich hin. Er dachte daran, daß ihm der Knecht, bei dem er in der Kammer wohnte, fünfunddreißig Pfennige mitgegeben hatte. Dafür sollte Jan drei Rollen Nordhäuser Kautabak mitbringen. Die drei Rollen kosteten fünfundzwanzig Pfennige, somit blieb für Jan ein Groschen übrig. Jan rechnete alle Möglichkeiten durch. Er wollte sich für den Groschen ein halbes Pfund Würfelzucker kaufen, das war nach seiner Auffassung das meiste und beste, was er dafür erhalten konnte.

Im Dorf saß Jan drei Stunden auf der Schulbank, ohne sich zu rühren. Er beobachtete nur. Der Herr Lehrer trug ein graues Hemd und eine braune Krawatte und unterrichtete zwanzig Schulkinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Es gab Rechenaufgaben, von denen Jan einige lösen konnte, und er schrieb Wörter an die Tafel, von denen sich Jan einige abschrieb. Was Jan verstanden hatte oder nicht verstanden hatte, was er sich abschrieb oder nicht abschrieb, darum kümmerte sich der Herr Lehrer nicht. Jan war armer Leute Kind, und es war für den Herrn Lehrer nicht wichtig, was er lernen würde. Das wußte Jan. Darum waren seine Gedanken auch nicht bei den Schulaufgaben, die er auf seinem langen einsamen Wege mit nach Hause nahm. Er aß von seinem Würfelzucker und versuchte die Namen der Kühe aufzusagen, die er am Nachmittag auf die Weide treiben mußte: »Komtesse, Schönig, Pascha, Preziosa, Franziska, Rosa, Buntjack, Grellig, Paula, Kiebit, Liese …«

Für das Kühehüten bekam Jan sein Essen. Darum war es das wichtigste, daß ihm von den Kühen keine weglief. Zuweilen regnete es, und Jan wurde beim Kühehüten klitschnaß. Er besaß weder Schuhe noch Strümpfe noch Mantel, und der Bauer war nicht verpflichtet, ihm Kleidung zu geben. Das war im Lohn nicht mit ausbedungen, der Lohn bestand nur in Kost und Logis. Da niemand dem Jungen half, versuchte er sich selbst zu helfen. Es war ihm klar, daß er sich eine Hütte bei der Weide bauen mußte. Jan fing an, mit den Augen zu arbeiten. Er suchte Bretter und Nägel, und da er auf allen seinen Wegen, im Gehen und Stehen, an dieses sein nächstes Ziel dachte, fand er auch bald das Nötige zusammen, das eine hier, das andere dort. »Mit den Augen arbeiten« war eine wichtige Erfahrung und Erkenntnis für einen Menschen, an dessen Leben niemand viel Interesse nahm und der von früh an auf die eigene Kraft angewiesen blieb. Was Jan hier gelernt hatte, vergaß er nicht wieder.

Als er Bretter und Nägel beisammen hatte, nahm er sich Hammer und Säge mit und fing an zu zimmern.

Jan baute seine Hütte sorgfältig, jedes Brett stand genau, jeder Nagel saß. Als die Hütte fertig war, betrachtete Jan sie wie das Gesellenstück eines Zimmerers. Der Regen konnte ihm in der Hütte nichts mehr anhaben. Jan fertigte sich noch eine kleine Bank an. Nun saß er bequem und sauber unter dem Dach.

»Preziosa …!« Die Kuh Preziosa hatte anscheinend bemerkt, daß die Aufmerksamkeit ihres Hirten durch den Hüttenbau in Anspruch genommen worden war. Sie wollte sich eben von der ihr zukommenden Weide wegschleichen und nach einer noch fetteren Wiese umsehen. Preziosa war eine junge, muntere Kuh, streitlustig und immer zu verbotenen Ausflügen aufgelegt. Jan mußte aufpassen, sonst gab es ein Unglück. Denn auf der Nachbarweide befanden sich an diesem Tage zwanzig Kühe und ein kampflustiger Stier. Die fremde Weide war durch Hecken und Stacheldraht eingezäunt, und die Herde hatte keinen Hirten. Unmittelbar hinter der Hecke stand schon der fremde Stier. Sein Fell war schwarz und glänzend, seine hellen Hörner waren groß und schön geschwungen in der Form einer Lyra. Er hatte den Schwanz gestellt und schnaubte dumpf. Dieser Kampflaut des mächtigen, mutigen und wütenden Tieres klang unheimlich für das menschliche Ohr. Als der Stier Jans Ruf vernahm, begann er den Boden zu stampfen und warf die Erde mit den Hörnern auf. Hinter der Hecke war ein breiter Platz, auf dem kein Gras mehr wuchs: es war das Halbrund, in dem das Tier seine drohende Kraft zu üben pflegte. Nur die Hecke und der Stacheldrahtzaun trennten den Schwarzfelligen von dem kleinen Hirtenjungen und der Kuh Preziosa, die jetzt an den Blättern des Gesträuchs zu reißen begann. Hinter dem wütenden Stier stellten sich die fremden Kühe auf, bereit, mit Jans Herde den Kampf zu beginnen.

Jan knallte mit der Peitsche und schrie laut und befehlend. Er zog der leichtsinnigen Preziosa einen Hieb über, während sich der tobende Stier in Galopp setzte und hinter der Hecke umherraste, bereit, an einer schwachen Stelle des dicht verwachsenen Gesträuchs mit seiner Urkraft durch Draht und Pfosten durchzubrechen.

Der schwarzweiß gefleckte Stier von Jans Herde antwortete dem Feind mit zornigem Brüllen. Der Schwarze stockte in seinem Lauf. Er blies Dampf aus den Nüstern in die kühle Luft und warf das mächtige Haupt, rasend vor Lust, anzugreifen.

Preziosa traf der zweite wohlgezielte Hieb, und sie besann sich und machte kehrt. Jan spürte, daß er jetzt wieder die Oberhand über seine Kühe gewinnen würde, aber er mußte die ihm anvertrauten Tiere auch in wenigen Sekunden beiseite jagen, um freie Hand gegen die Stiere zu haben. Seine Peitsche knatterte in der Luft, es klang wie eine schnelle Folge von Schüssen. Langsam machte Kiebit kehrt, dann folgte Paula. Jan rief die Namen: »Komtesse, Schönig, Pascha …«, während seine Peitsche die Aufgerufenen traf und trieb. Nun hatten sie alle gewendet und zeigten Jan nicht mehr die Hörner, sondern nur die Quasten ihrer Schwänze. In ihrem holpernden Trab kehrten sie ernüchtert zum ordentlichen Weideplatz zurück.

Jans Wangen glühten, seine Augen glänzten in mutigem Zorn, als er zu der Hecke zurückkehrte. Der schwarze Stier wühlte mit dem Kopf gegen Zaun und Gesträuch, daß sich Stämmchen und Pfosten neigten. Der Gefleckte stand mit gesenkten Hörnern und wartete schnaubend.

Jan rief den Gefleckten an, laut, aber nicht kreischend, mit dem gleichen sicheren Ton, mit dem er die Herde zum Gang auf die Weide zu rufen pflegte. Wenn Jan täglich in den Stall kam und sein »He!« rief, standen alle fünfzehn Kühe und der Stier zugleich auf; sie kannten die Stimme ihres Hirten. Jan knallte nach dem Ruf wieder mit der langen Hirtenpeitsche.

Er dachte nicht über das ungleiche Kräfteverhältnis nach. Er dachte nur an das, was er tun mußte, und daran, daß die Tiere ihm zu gehorchen hatten.

»Troll dich, Schwarzbunter!« sagte er zu dem Stier seiner Herde. Es war nicht Jans Art, alle die Schimpfworte zu brüllen, die die Knechte auf dem Hof gern im Munde führten. Jan hatte zwar nur eine alte kurze Hose an und eine geflickte Jacke, aber es wohnte eine verborgene Kraft in ihm, die ihm die Meinung gab, daß auch wenige Worte genügen mußten, um das Richtige durchzusetzen. »Troll dich, Schwarzbunter!« Jan stand seitlich neben dem Stier und knallte nochmals die Hirtenpeitsche durch die Luft. Dieser Knall war das Symbol der Überlegenheit, die der Mensch in jahrtausendelangen Kämpfen über die wilden Rinder erzwungen hatte.

 

»Troll dich …«

Das Gebrüll des gefleckten Stieres verstummte. Sehr langsam ging er zurück, wie ein besiegter alter König.

Eine neue Salve des Peitschenknallens schreckte den schwarzen Wütenden hinter der Hecke von der Verfolgung ab. Er pflügte nur die Erde mit seinen Hörnern.

Jan hatte gesiegt. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und lief ihm vom Nacken den Rücken hinunter. Er umkreiste noch einmal seine Herde, dann setzte er sich in die neu erbaute Hütte und hielt wieder Umschau.

So arbeitete Jan für den großen Bauern. Er arbeitete gut. Warum er das tat, das wußte er damals selbst nicht. Er hatte Angst, aber er war auch ehrgeizig. Keiner von den hochmütigen Menschen sollte sagen, daß Jan Möller schlecht gearbeitet habe. Am wenigsten die zwölfjährige Tochter des großen Bauern, die niemals mit dem Hirtenjungen spielte.

Jede Woche einmal, am Sonnabend, kam Mutter Möller mit dem Bäckerwagen über die Landstraße, die bei dem Bauernhof vorüberführte. Auf diesen Augenblick wartete Jan die ganze Woche. Sobald er das Traben des Bäckerpferdes und das Knallen der Peitsche hörte, rannte er über die Wiese und durch die Büsche, wie ein Füllen, bis zum Wagen hin. Dann warf ihm die Mutter ein weißes Brötchen zu und fuhr weiter …

Der Sommer ging langsam dahin.

Als der Herbst sich neigte und Jan im Nieselregen auf dem Milchwagen saß, um für die Winterzeit, in der die Kühe im Stall blieben, wieder nach Hause zu fahren, freute er sich unbändig. Aber in dieser Freude war schon ein bitterer Gedanke mit enthalten. Im nächsten Sommer sollte Jan wieder zu dem Bauern!

Jan mußte sich in der Geschwisterschar, der er den Sommer über fern gewesen war, erst wieder zurechtfinden. Sogar Friedel schien nicht mehr ganz der alte. Oft, wenn Jan etwas unternehmen wollte, sagte Friedel müde: »Nein.« Eines Abends benahm sich Friedel sonderbar. Als die karge Beleuchtung gelöscht und die Kinder ins Bett geschickt wurden, ging er von einem zum anderen und sagte: »Gute Nacht.« Dergleichen geschah in der Familie Möller sonst nie.

Jan lag, wie früher, mit Friedel in einem Bett. Als Jan des Morgens mit roten Wangen erwachte und nach seiner Gewohnheit auch den Friedel aufwecken wollte, zögerte er plötzlich, aus irgendeinem ihm selbst nicht begreiflichen Grunde. Friedels Gesicht sah so merkwürdig aus. Blaß und ruhig … noch einen Ton blasser als sonst, wie weißes Wachs. Seine Augen waren geschlossen … gewiß, er schlief ja noch. Warum sollte Jan ihn nicht aufwecken? Aber Jan zögerte. Er sah sich um. Außer ihm war noch niemand wach. Jan war immer der erste des Morgens.

Jan strich leise über Friedels Stirn. Der Junge hatte nie eine Zärtlichkeit empfangen und war nicht gewohnt, sie zu geben, darum kam ihm seine eigene zarte Bewegung als etwas Seltsames und eigentlich Ungehöriges vor, und er hatte sich nur dazu entschlossen, weil Friedel so eigenartig im Bett lag und am Abend vorher so eigenartig »Gute Nacht« gesagt hatte … und weil ja auch niemand auf die beiden Brüder achtete und niemand spotten konnte.

Jan spürte, daß Friedels Gesicht kalt war.

Jans Herz zog sich zusammen. Aber er sagte keinen Ton, sondern stand nur auf, wusch sich und zog sich an. Dann setzte er sich neben das Bett und den toten Bruder und legte seine Hand auf die kalt gewordene Hand Friedels. Die Augen waren ihm wie vertrocknet. Er konnte nicht weinen.

Niemand wußte, warum Friedel gestorben war, und es forschte auch niemand danach. Friedel war tot. Er war immer blaß gewesen, er war immer schwach gewesen, er hatte das harte Leben nicht ertragen. Wer hätte etwas daran ändern wollen?

Der Vater und die Mutter arbeiteten und darbten, um aus der Not herauszukommen und reich zu werden, und sie verlangten von ihren Kindern, daß sie auch arbeiteten und darbten. Wer das nicht ertrug, über den hatte Gott das Urteil gesprochen. Friedel war gestorben. Er hatte nie geklagt. Er hatte nur noch allen »Gute Nacht« gewünscht.

Einen Monat nach Friedels Tod konnte Mutter Marie zum ersten Mal wieder eine Summe auf die Sparkasse bringen. Es hatte sich doch bemerkbar gemacht, daß jetzt schon drei Brüder, Gustav, Karl und der kleine Jan, außer Hause zu arbeiten vermochten.

Mutter Marie wollte nicht wieder ein Obstgrundstück pachten. Sie hatte einen anderen Plan gefaßt. In der Hauptstraße des Städtchens, nicht weit vom Rathaus, lag ein gut gehendes Grünwarengeschäft, das vielleicht frei wurde. Mutter Marie wollte wachsam sein. Der Handel brachte immer noch am meisten. Er brachte mehr als die bloße Arbeit. Vielleicht konnten Marie und ihr Karl dieses Geschäft übernehmen!

Im Frühling des Jahres 1914 glückte der Plan. Nun fuhr der Vater vor Morgengrauen zum Hamburger Markt, um einzukaufen, und Jan mußte ihm helfen. Die Mutter aber und die Schwester Emilie mit ihrem ernsthaften Gesicht standen hinter dem Ladentisch und wußten die Kunden gut zu bedienen. Der Krieg begann, und die ältesten Söhne wurden Soldaten. Das Grünwarengeschäft der Familie Möller war bald als solide und leistungsfähig bekannt und erhielt die Lieferungen für die Soldatenküche. Das Vermögen wuchs.

Ein Kriegsjahr folgte dem andern. Es kam die Nachricht, daß Karl »auf dem Felde der Ehre« gefallen sei. Jan trauerte um ihn. Er trauerte nicht in der gleichen Weise um ihn wie um Friedel. Er trauerte mehr einer Hoffnung nach, um die er ärmer geworden war. Hatte er doch mit dem großen Bruder Karl zusammen später einmal die Zimmerei betreiben wollen. – Gustav, der Älteste, kam Weihnachten 1916 auf Urlaub nach Hause. Gustav war ein riesiger Kerl, aber sein Herz war schwach, und er hatte Wasser in den Beinen. Die Front hatte er noch nicht gesehen. Der »Spieß« hetzte den Mann, der stark aussah und es doch nicht war, auf dem Kasernenhof langsam zu Tode.

An den Weihnachtsabend 1916, an dem Gustav auf Urlaub gekommen war, erinnerte sich Jan später noch sehr genau.

Da war diese Sache mit der Ziehharmonika geschehen. Jan hatte ein gutes Ohr; alle Töne fingen sich darin mit ihren feinsten Schwingungen, und ihr Wohllaut war für Jan eine Art des Glücks. Er liebte die Melodien, seine Stimme hatte einen guten Klang, und er war gern fröhlich und traurig, wenn er mit andern zusammen die alten Lieder sang. Als Jan sich drei Winter hindurch mit dem Verkauf von Apfelsinen und Bananen die ersten Pfennige verdient hatte, die ihm selbst gehörten, hatte er das Geld sorgfältig gespart, mit der gleichen eisernen Energie, wie Mutter und Vater sie besaßen. Am dritten Weihnachtsfest endlich reichte die Barschaft, um Jans Traum zu erfüllen. Er kaufte sich die Ziehharmonika, die er schon so oft mit sehnsüchtigen Augen gemustert hatte. Es war ein großer Augenblick, als der Vierzehnjährige, Schneeflocken auf Mütze und Schultern, in den kleinen Laden eintrat und mit verborgener Aufregung sein Bargeld auf den Tisch legte. Er nahm die Ziehharmonika unter den Arm und war in der Stimmung, in der nur ein Mensch sein konnte, der den lange erstrebten Schatz endlich erworben hat. Im Laternenschein ging er durch die verschneiten Straßen nach Hause und pfiff die Melodien vor sich hin, die er bald spielen wollte; seine Füße gingen unwillkürlich im Rhythmus. Zu Hause versteckte er seinen Schatz und ließ sich erst einmal mit Eltern und Geschwistern zusammen den Grünkohl schmecken. Wenn Mutter Marie auch an der Wurst sparte, so war sie doch eine gute Köchin, und was sie auf den Tisch brachte, schmeckte lecker. Vielleicht hatte Jan der Grünkohl noch nie so gut geschmeckt wie gerade an diesem Weihnachtsfest.

Als die Lampe gelöscht wurde und an dem kleinen Tannenbäumchen, das der Vater aus dem Wald mitgebracht hatte, die dünnen Kerzen aufflammten, tasteten Jans Hände vorsichtig an dem neuen Instrument, und auf einmal war die Stube mit Klang erfüllt. Jans dunkelblaue Augen strahlten, die Bewegungen seiner Hände wurden sicherer und freier, auf das erste Lied folgte ein zweites, ein drittes. Jan sang die Worte, die das Volk seit Jahrhunderten im tiefsten Winter, in der langen Nacht von seiner Sehnsucht nach dem Licht und nach einer guten Welt zu singen pflegte. Erst stimmte Emilie ein, dann klang in der zweiten Stimme der Baß des großen Bruders mit, der vielleicht schon ahnte, daß sein krank gehetztes Herz erst in der Erde wieder zur Ruhe kommen würde. Mit einem leisen, lang ausgezogenen Ton endete Jan die Melodien und schaute, die Ziehharmonika noch in der Hand, auf eine der Kerzen, die eben unruhig flackernd ausbrannte.

Schwester, Bruder, die Eltern, die still gesessen und die Hände in den Schoß gelegt hatten, rührten sich, als Jan die ernsten Melodien endete, und Jan prüfte sein Instrument noch einmal, denn er wollte jetzt ein lustiges Lied daraus hervorlocken.

»Wo hast du das Ding her?« erkundigte sich Emilie und betrachtete die Ziehharmonika neugierig. Die Frage weckte auch die Aufmerksamkeit der Eltern, die auf Jan schauten.

»Gekauft habe ich sie mir – von meinem Geld!« antwortete er stolz und beugte den Kopf zur Seite, um die Griffe, die für die nächste Melodie notwendig waren, noch einmal genauer zu studieren.

Da traf ein harter, knallender Schlag seine Wange. Jan sprang auf, das Gesicht brannte ihm; seine Augen funkelten im Zorn.

Er stand der Mutter gegenüber. Auch Marie Möller war das Blut jäh in die Stirn gestiegen, ihre Augenbrauen hatten sich zusammengezogen und ihre Lippen waren schmal geworden.

»Gekauft!« sagte sie, vor Erregung ohne Ton. »Das ganze Geld wirfst du hinaus – für so einen Kram … einen Kram …«

Jan hatte die Fäuste geballt; er war groß und kräftig, und die Mutter konnte nicht mehr Herr über ihn werden, wenn er sich wehrte. Aber er fürchtete Vater und Mutter noch, die ihm oft gezeigt hatten, daß er gehorchen mußte, und unwillkürlich legte er den Arm über den Kopf, um ihn vor Schlägen zu schützen. Das war der Augenblick, in dem die Mutter in Jan noch einmal den kleinen Jungen sah, und die Eltern schlugen ihn wie ehedem.

»Marsch, ins Bett!« sagte der Vater endlich. Jan gehorchte.

Dann lag der Vierzehnjährige im Bett und drückte das Gesicht in das Kissen. Er fieberte vor Scham und Trotz; seine Fäuste zerknüllten das Laken. Nebenan aber waren wieder Stimmen zu hören, als ob nichts geschehen sei. Die Melodien der Ziehharmonika waren aufgeklungen. Der Bruder im feldgrauen Anzug spielte sie. Jan biß in die eigenen Hände, um einen Wutschrei zu unterdrücken. Der spielte auf seiner, auf seiner Ziehharmonika! Drei Winter hatte er dafür gespart; sein eigenes Geld hatte er sich verdient. Pfennig um Pfennig. Dann schlugen sie ihn und der andere spielte. Jans Kissen wurde naß, die Tränen einer wilden, ohnmächtigen Erbitterung sickerten in das Leinen. Nebenan lachten und spielten sie …

Für Gustav war dieser Weihnachtsabend, an dem er auf Jans Ziehharmonika gespielt und seinem jüngeren Bruder gedankenlos wehgetan hatte, das letzte Weihnachten seines Lebens. Einige Wochen später kam die Nachricht, daß er im Lazarett an Herzschwäche verstorben sei.

So starben drei Söhne der Familie Möller – Friedel, Karl und Gustav –, aber die Lieferungen für die Soldatenküche gingen weiter, und das Vermögen mehrte sich von Jahr zu Jahr.

Vater und Mutter Möller wurden angesehene Bürger in dem Städtchen. Sie wollten jetzt nichts mehr von armen Leuten hören. Wer arm war, sollte so fleißig sein wie sie selbst, dann würde er es auch zu etwas bringen. Vater und Mutter Möller wurden hart. Sie fürchteten nichts mehr als die »Schande« vor den Bürgersleuten, die ihre Kunden und Lieferanten waren, und sie erstrebten nichts mehr, als noch schneller reich zu werden. Marie träumte davon, daß sie mit ihrem Karl ein eigenes Haus haben würde. Dafür opferte sie. Sie opferte ihre Kräfte, sie opferte ihre Kinder, und sie opferte die Liebe, die sie mit ihrem Karl verbunden hatte. Marie und ihr Mann arbeiteten, rechneten, schwiegen und zuweilen zankten sie. Sie waren nicht mehr fröhlich, und sie küßten einander nicht mehr.

Jan mußte wieder aus dem Hause gehen. Als Kind hatte er den Winter daheim, den Sommer beim großen Bauern als Hütejunge verbracht. Sobald er aus der Schule entlassen war, verdingten ihn die Eltern ganz beim Bauern. Jan nahm sein Holzköfferchen, zog aus und wurde mit vierzehn Jahren Knecht.

 

Das Haus, in dem er diente, lag auf der Geest. Der Hof des Bauern war so behäbig und wohlbestallt wie alle Höfe des Dorfes. Auch hier leuchteten die Backsteine rot, die Fachwerkbalken weiß, und um den Garten mit den bunten Stiefmütterchen und den milchweißen Maiglöckchen zog sich der Zaun, dessen Farbe mit dem Grün der alten Linden und der jungen Birken wetteiferte. Jan tat gewohnte Arbeit. Wenn er das Vieh des Abends in den Stall trieb, so roch es dort satt nach Heu, Mist und Milch. Die Kühe brüllten und wühlten dann, verstummend, die Mäuler in die Krippe.

Jan aber schlenderte bei einsinkender Dämmerung nach getaner Arbeit in die Küche, wo er die anderen Knechte und die Großmagd traf, die am Herd hantierte. Eine magere kleine Dirn half ihr. Die Knechte setzten sich um den Küchentisch und aßen für sich allein. Es gab abgerahmte Milch, Kartoffeln und Schwarzbrot, und die Großmagd stellte noch den schmutzigen Topf mit Weißkäse auf den Tisch, den Jan schon vom Frühstück her zur Genüge kannte. Stillschweigend rückte Jan den schmutzigen Topf von sich weg. Sein Tischnachbar aber griff danach und nahm sich von dem bereits schmierigen Käse etwas aufs Brot.

Darüber ärgerte sich Jan, aber er sagte nichts. Der Knecht mußte jedoch gespürt haben, daß Jan, der junge Kerl, hier irgend etwas verächtlich fand.

Er sagte kauend: »In der Not frißt der Teufel Fliegen … und ich den Käs’.«

Jan zuckte die Achseln.

»Du bist so einer«, bemerkte die Großmagd, die die kleine Szene beobachtet hatte, zu Jan und puffte dabei die Kleinmagd, die ihr am Herd half, grob in den Rücken.

Jan tat, als ob gar nicht von ihm die Rede sei. Schweigend löffelte er seine Milchsuppe aus und aß trocken Brot dazu.

Ohne Gruß stand er dann auf und ging aus dem Haus. Er hatte die Hände in den Hosentaschen, pfiff vor sich hin, schlenderte umher und suchte sich einen Platz zwischen Wiese und Wald. Die Sonne war untergegangen, aber der Abend leuchtete noch mit seinen unbestimmten Farben. Es war Frühling. Auf den Wiesen mischten sich Gras und Blumen, das Korn war noch grün. Über die Kartoffeläcker war der Pflug gegangen, um die Erde anzuhäufeln.

Jan setzte sich am Waldrand ins Gras. Er konnte in seiner abendlichen Muße die Landstraße und einen Feldweg übersehen, er konnte die Häuser zählen, die sich wohlgeordnet an der Straße gruppierten, die großen reichen Häuser und auch zwei kleine Häuser von armen Bauern. Jan wußte, daß in dem einen dieser kleinen Häuser Not und Kummer herrschten, weil die einzige Kuh eingegangen war. Jan dachte daran, als der Bauer gerade noch einmal aus der Stalltür kam. Er war ein kleiner magerer Mensch, und er sah älter aus als er sein konnte, wahrscheinlich war er selbst auch krank. Die Leute munkelten viel. Der Brunnen bei diesem Hause sollte giftiges Wasser führen. Schon von alter Zeit her waren viele Familien auf diesem Grundstück zugrunde gegangen. Es mochte sein, daß das Wasser auch dem Vieh schadete. Das Haus sah kümmerlich aus zwischen den Häusern der reichen Bauern und ihrem fruchtbaren Land. Es sah so kümmerlich aus wie sein Besitzer, der vor der Stalltür stehengeblieben war, als ob er nicht begreifen könne, daß dieser Stall jetzt leer sei.

Das Haus mit dem Brunnen, von dem der Volksmund sagte, daß er schlechtes Wasser führe, war Jans Gedanken und Gefühlen dadurch etwas näher verbunden, daß die kleine Dirn, die der Großmagd in der Küche helfen mußte, aus diesem Hause stammte. Auch sie war blaß und engbrüstig. Die Arbeit wurde ihr oft schwer, aber beim Bauern gab es keine Nachsicht. Wer nicht arbeiten konnte, mußte gehen. So mühte sich die Kleine ab, für die Großmagd alles zu tun, was diese erwartete. Jan konnte es der armen kleinen Magd nicht nachtragen, daß sie des Abends nicht mehr dazu kam, die Töpfe für die Knechte sauber zu putzen. Aber er haßte die Großmagd, die die magere Dirn herumhetzte und der es gleichgültig war, wenn die Knechte aus schmutzigem Geschirr essen mußten. Die Großmagd schaute nur nach dem Bauern und der Bäuerin. Das Geschirr, das in die Stube getragen wurde, glänzte immer blitzblank, und in der Schüssel, die auf den Tisch des Bauern kam, war kein Weißkäse, sondern Butter. Jan hatte, solange er hier Dienst tat, noch nie Butter aufs Brot erhalten. Aber er roch jeden Abend im Stall die fettige Milch, die aus den Eutern der kraftstrotzenden Kühe in den Kübel schoß.

Es dunkelte. Die Kronen der Bäume erschienen schon schwarz, am Himmel blinkte der erste Stern.

Jan hatte in der Ferne die Schattenrisse zweier Mädchen erkannt, die Arm in Arm einen Wiesenpfad gingen. Auf der Landstraße zottelte ein letztes Ochsengespann heimwärts. Der Bursche, der es begleitete, knallte mit der Peitsche. Da es schon still ringsum war, lief der Peitschenknall ungehindert rings durch die Luft, über die Wiesen und Wege, zu den Häusern und Ställen. Vielleicht hatte der Bursche auch die beiden Mädchen auf dem Wiesenpfad gesehen und wollte sie auf sich aufmerksam machen. Aber er hatte kein Glück. Sie drehten sich nicht um, sondern gingen weiter dem Walde zu.

Jan hatten die beiden Mädchen wohl noch nicht entdeckt. Er verhielt sich still, rührte sich gar nicht. Vielleicht konnte er den beiden Langbezopften einen Schabernack spielen. Vorerst wollte er abwarten, wohin sie steuerten und wo sie »vor Anker gehen« würden. Er hatte die beiden schon erkannt. Die schmale, kleine, das war die Dirn, die bei dem gleichen Bauern wie Jan diente. Die größere hieß Dele. Sie war das fünfte Kind eines Bauern. Von ihr flüsterten die Freundinnen, daß sie schon eine Liebschaft habe. Sie war nicht häßlich, hatte lange dunkle Zöpfe, dunkle Augen und eine matte braune Haut. Sie sah anders aus als die anderen Mädchen im Dorf, und wenn es dämmrig war, funkelten die Augen der Burschen ihr zu. War es aber lichter Tag, so schaute sich keiner nach ihr um, denn sie war das fünfte Kind und hatte daheim nicht Geld und Gut zu erwarten. Den Hof erbte der große Bruder. Der Dele hätte Jan gern einen Streich gespielt. Denn sie war eingebildet, weil sie hübsch aussah, und wenn sie gefragt wurde, wie sie heiße, so sagte sie stets: »Adele«. Adele! Sie war wohl nicht ganz klug.

Jan hatte lautlos die Füße zurückgezogen und kauerte nun verborgen im Gebüsch am Waldrand. Die Freundinnen ließen sich nicht weit von ihm nieder. Sie flüsterten und kicherten, wie es alberne Mädchen zu tun pflegen. Dann kamen sie auch zur Ruhe. Aber er kannte die Mädchen schon genau genug, um zu wissen, daß diese Ruhe nicht lange andauern werde. Diese Ruhe war nur eine Vorbereitung. Vielleicht würden die Mädchen anfangen, einander Geheimnisse zu erzählen. Adeles Geheimnis hätte Jan gern gewußt. Es war ein wahrhaft großartiger Gedanke, Adeles Geheimnisse zu erfahren und sie dann damit zu foppen. Für alle Fälle pflückte Jan eine lange Brennessel, die am Waldrand gewachsen war. Er faßte sie mit der Übung, die er sich beim Pflücken von Brennesseln für Kücken angeeignet hatte, und brannte sich nicht. Mit der Brennessel gewappnet, wartete er geduldig.

Von dem Platz, an dem die Mädchen lagen, kam ein leises Summen, und schließlich begannen die beiden zu singen. Liese, die Kleine, hatte eine helle, aber ein wenig harte und kurzatmige Stimme; es hatte etwas Rührendes an sich, wenn sie beim Singen alle Worte deutlich aussprach und hin und wieder in einen falschen Ton geriet. Deles Stimme klang dunkler und voller. Jan wippte mit der Brennessel, aber er konnte sich dem Zauber der Stunde doch nicht entziehen. Die ersten Leuchtkäfer schwirrten um die Gräser, die Bäume standen unbeweglich, und der Wald wurde in der Nacht ein Geheimnis. Fern schimmerte schon die unendliche Zahl der Sterne. Im Dorf leuchteten die Fenster auf, aber die Häuser waren weit genug entfernt, um die drei jungen Menschen am Waldrand vor unerwünschter Neugier der Lauscher und Spötter zu sichern. Die Mädchen sangen. Jan horchte auf das Lied, das er kannte.