Jan und Jutta

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Aus Heimweh habe ich nicht gemeutert. Sondern wegen der Behandlung.«

Jan, der gefangene Arbeiter, stand hinter den schweren eisernen Gittern dem Oberleutnant a. D. nach dieser Antwort noch einen Moment schweigend gegenüber. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, aber in diesem Augenblick drängte sich alles zusammen, was Jan Marloh gegenüber denken und empfinden konnte. Du Mörder … du kleine, elende, niederträchtige Kreatur!

Marloh hatte vielleicht noch irgend etwas sagen wollen. Aber er sagte nichts mehr. Er hätte selbst nicht erklären können, warum es ihm nicht länger angenehm war, sich an dem Anblick des eingekerkerten Flüchtlings zu weiden. Die Wirkung, die er auf den Gefangenen machte, hatte ihn enttäuscht. Es schien, als ob die Person des Zuchthausdirektors hier keinen Eindruck mache, und doch war es auch nicht möglich, dem Gefangenen eine Disziplinlosigkeit nachzuweisen.

Marloh ging. Der Wachtmeister schloß die Zellentür wieder ab, und Jan nahm seinen Marsch wie vordem auf.

Mittagbrot erhielt er nicht. Die ersten elf Tage gab es im Arrest und strengen Arrest kein Mittagessen. Von da an erhielten Jan und seine beiden Gefährten jeden vierten, schließlich jeden dritten Tag eine Mittagsmahlzeit.

Jan blieb allein in seinem Käfig und ohne Beschäftigung.

Marloh erschien noch einige Male. Nicht, daß er selbst das Bedürfnis gefühlt hätte, sich den Gefangenen anzusehen, der durch seine Flucht den Ruf des Zuchthauses zu Celle als einer Musteranstalt im Dritten Reich geschädigt hatte. Marloh mußte sich eingestehen, daß ihm der Anblick des Gefangenen immer widerwärtiger wurde. Aber es gab prominente Besucher, denen Marloh eine gewisse Sensation zu bieten verpflichtet war, und diese pflegte er zu dem Käfig zu führen und ihnen den gefangenen Meuterer zu zeigen. Jan betrachtete dann ohne jede äußerlich sichtbare Gemütsbewegung die feinen braunen und schwarzen Tuche, aus denen die Uniformen der Gäste geschneidert waren, er sah ihre Gesichter, die im Grunde immer die gleichen Gesichter waren und in denen sich eine mittelmäßige Intelligenz, Ehrgeiz und Brutalität ausdrückten.

Die Besuche waren Jan langweilig. Sie hatten ihm nicht mehr zu sagen, als er schon wußte.

War aber der Gefangene allein, so langweilte er sich nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ihm das Alleinsein schwerfiel. Aber wie lange, wie unendlich lange lagen diese Jahre zurück. Damals, als ihn die Einsamkeit noch bedrückte, war er ein Kind von neun oder zehn Jahren. Die Eltern hatten ihn von daheim fortgeschickt, weil er zuviel Hunger hatte und aus den Kleidern zu schnell hinauswuchs. Er sollte sich seinen Unterhalt selbst verdienen. Das tat er als Hütejunge bei einem Bauern. Der Arbeitsherr des kleinen Jan war ein reicher Bauer gewesen, dem viel Land ringsumher gehörte, Felder, Wälder, Wiesen, Weiden. Weil alles Land rings dem einen großen Bauern gehörte, war es menschenleer und einsam. Auch die Knechte und Mägde kümmerten sich wenig um den kleinen Jan. Die einzige Tochter des Bauern war ein großes hübsches Mädchen und viel zu stolz, um mit einem Hütejungen zu spielen. Damals hatte Jan zuerst gelernt, was Heimweh heißt und Einsamkeit. Er hatte es noch oft erfahren müssen, und die Kruste um ein heißes und leidenschaftliches Herz war immer härter und starrer geworden. Er hatte sich gewappnet.

Jetzt, hinter Eisenstäben, wußte er die Einsamkeit zu ertragen.

Der Wachtmeister, der täglich die Gefangenen bei der Essenausgabe begleitete, war Jan nicht unfreundlich gesinnt. Er hatte auch ein Auge zugedrückt, als Jan sich vom Kalfaktor einen Bleistiftstummel besorgte.

Eines Tages stand ein Vers an der Kalkwand der Zelle, klein gekritzelt, so daß nur der ihn finden und lesen würde, der später einmal gleich Jan in den Käfig gesperrt wurde.

»Im Arrest, da hab’ ich gesessen,

vier Wochen bei Wasser und Brot.

Das werde ich niemals vergessen –

mein Herz blieb trotz alldem rot.«

Die Wochen des strengen Arrestes vergingen. Der »Maschoris« – der Wachtmeister – brachte dem Gefangenen eines Morgens die Anklageschrift des Staatsanwaltes. Die Anklage lautete auf »Meuterei«. Jan hatte es nicht anders erwartet. Alles, was Gefangene gemeinsam unternahmen, sei es, daß sie eine Beschwerde vorbrachten, sei es, daß sie das Essen verweigerten oder gar die Flucht wagten, alles, wozu sich Gefangene untereinander verabredeten, war »Meuterei«. Jan war in der Anklageschrift als der Rädelsführer bezeichnet. Das entsprach seinen eigenen Aussagen. Er hatte es so gewollt.

Der Gefangene erfuhr aus der Anklageschrift, daß der Termin nicht in Celle stattfinden konnte, weil die Flucht im Bezirk von Stade vor sich gegangen war. Die drei Übeltäter mußten nach Stade zur Aburteilung übergeführt werden. Jan lächelte ein wenig vor sich hin, als er wieder allein war. Der Bürokratismus machte in seinem Vaterland immer noch seine Ziegensprünge. Im vorliegenden Fall hatten die drei Gefangenen dadurch wenigstens die Abwechslung einer Reise im »Reichsbahn-Gefangenen-Wagen« zu erwarten.

Der Tag der Überführung brach an. Jans Zelle öffnete sich. Er konnte unter Bewachung zu ungewohnter Zeit durch das Haus mit den vielen verschlossenen Türen gehen. Die Schritte hallten auf den Gängen und Treppen. Als Jan mit dem Wachtmeister aus dem Tore trat, stand das Gefangenen-Transportauto schon bereit. Jan stieg ein.

Seine beiden Fluchtgenossen saßen in dem Wagen. Die drei Freunde grüßten sich kurz und unauffällig mit den Augen. Ein jeder sah, wie mager und blaß der andere geworden war. Aber Jan las auch aus den Mienen von Christoph und Franz, daß hier keiner schlappgemacht hatte.

Am Bahnhof wurden die Freunde wieder getrennt. Im Reichsbahn-Gefangenen-Wagen war für einen jeden Insassen eine besondere kleine Zelle abgeteilt.

Jan hatte die Gedanken abgeschaltet und überließ es seinen Sinnen, zu arbeiten und die vielen Geräusche aufzunehmen, die sonst nicht mehr an das Ohr des Gefangenen dringen. Die Lokomotive ließ zischend Dampf aus, Stimmen von Reisenden waren vom Bahnsteig her zu vernehmen, der Stationsvorsteher pfiff. Die Räder setzten sich in Bewegung … Rm-tata-rm-tat-rm-tata …

Die Räder rollten schneller. Obwohl die Gefangenen von ihrer Umwelt nichts sehen konnten, fühlten sie sich mehr in das allgemeine Leben eingeschaltet als in dem Hause der Kerker, indem sich niemand aufhielt als Gefangene und Wächter. Heute fuhren sie in einem Zug, in dem auch »normale« Menschen saßen, Menschen, die ihren Geschäften nachgingen, Familien, die ihre Verwandten irgendwo besuchten.

Der Zug hielt an einer Zwischenstation. Wieder drangen die üblichen Geräusche des Bahnhofslebens auch in den Gefangenenwagen. Jans Gedanken setzten ein. Was für Menschen, dachte er einen Augenblick. Der eine will vielleicht in Stade seine Musterkollektion zeigen, eine Frau fährt zu ihrem Mann zurück, ein schönes junges Mädchen lacht aus irgendeinem Fenster des Zuges und nimmt Blumen zum Abschied in Empfang. An den Gefangenenwagen denkt keiner. Keiner denkt an uns. Sie leben dahin und sie wissen nicht, wohin die Reise geht. Eines Tages wachen sie auf, dann werden sich ihre Gesichter verzerren … denn sie müssen dem Krieg und dem Tod ins Angesicht sehen.

Rm-tata-rm-tat-rm-tata …

Was für Menschen! Sie brauchten nur an den Schalter zu gehen, eine Fahrkarte zu lösen, und konnten nach Spanien fahren, nach Spanien, wo um die Freiheit gekämpft wurde. Aber sie taten es nicht. Und Jan konnte es nicht tun. Hein Henne hatte ihn verraten.

Der Gefangene fuhr mit der Hand über sein kurzgeschnittenes Haar. Zorn kochte in ihm auf. Er hatte ihn lange zurückgedrängt. Gefühle ohne Ziel, Gefühle, die nicht zur Tat werden konnten, waren nichts für den Menschen. Sie verzehrten nur die Kraft. Jan hatte die unnützen Träume immer gehaßt. Er hatte auch über das Scheitern seiner Flucht nicht nachgedacht, er hatte sich selbst mit eiserner Energie gezwungen, nicht daran zu denken. Aber heute wallte es in ihm auf wie siedende Brühe. Er wußte selbst nicht, warum. Er konnte es auch nicht mehr hindern. Vielleicht war es der Transport, die Veränderung der Umgebung, die Hoffnungen weckte und in Jans Gefühl die selbst aufgebauten Schranken und Dämme einriß. Ihr Lumpen, ihr Verräter … Wenn ich noch fort könnte, wenn ich doch noch nach Spanien käme … ich und ein Gewehr in der Hand … ich mit den Genossen in der Volksarmee … Jan hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und seine Phantasie sah andere Bilder, als seine Umgebung sie ihm bot. Er hörte nicht mehr das Rollen der Räder und wußte nicht mehr, wieviel Stationen der Zug noch berührt hatte. Wenn … »Wenn« ist ein gefährliches Wort. Jan wurde es nicht mehr los. Er grübelte, machte Pläne, spann seine Gedanken weiter.

Als Jan in Stade als »Untersuchungsgefangener« in seiner Einzelzelle saß, war er von dem Gedanken an den nächsten Fluchtversuch besessen. Er konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nichts mehr denken, was nicht damit zusammenhing.

Er saß auf seiner Bank und betrachtete die Wände, die Tür, das vergitterte Fenster, die ihn von der Freiheit abschlossen. Stundenlang saß er so auf der Bank, andere Stunden ging er wieder auf und ab, wie es das gefangene Tier und der gefangene Mensch in gleicher Weise zu tun pflegen. Dabei hingen seine Augen immer an den Wänden, an der Tür, an dem vergitterten Fenster. Seine Augen studierten die Kerkermauern. Jan Möller war Zimmermann. Er hatte selbst oft genug am Bau von Häusern mitgearbeitet, um einen Bau sachverständig zu beurteilen. Immer wieder blieb sein Auge an einer Stelle hängen, an der der Putz von der Wand abbröckelte. Die Stelle befand sich an der Innenwand, die Zelle und Korridor trennte. Hier zum Beispiel …

 

Jan befühlte die Wände, er tastete die schadhafte Stelle ab.

Wenn es Abend wurde, machte er regelmäßig eine Stunde lang seine Freiübungen. Seine Muskeln und Sehnen, waren sehr kräftig. Sie sollten nicht dadurch schwächer werden, daß ihnen alle Übung fehlte.

Jan studierte auch mit Gründlichkeit die Mienen der Wachtmeister, die zu ihm in die Zelle kamen, und die Mienen der Gefangenen, die als »Kalfaktor« das Essen zu bringen und für Sauberkeit zu sorgen hatten.

Eines Abends fiel ihm ein Gesicht auf.

Jener breitschultrige und grobschlächtige Gefangene, er einen anderen Kalfaktor abgelöst hatte und jetzt den Essenkübel tragen half, hatte Jan zugezwinkert. Er hatte ihm auf jene schlaue Art, die jeder Gefangene rasch annahm, ein Zeichen mit den Augen gegeben. Er wollte irgend etwas von Jan. Was? Das würde sich noch zeigen. Ein Kalfaktor hatte viele Möglichkeiten, mit einem Gefangenen in Verbindung zu treten, wenn er das wollte.

In Jans Gefühl ging eine Veränderung vor. In dem Auenblick, in dem eine Möglichkeit erschien, irgend etwas praktisch zu erreichen, war er wieder so ruhig wie nur je. Er wartete nicht einmal mit Ungeduld, wie sich die Sache mit dem Kalfaktor weiter entwickeln würde. Er wartete voller Geduld.

Als die Nachricht kam, daß der Termin für Jan, Franz und Christoph verschoben sei, erschien Jan diese überraschende Mitteilung wie ein Zeichen, daß sich ihm die Gunst der Umstände wieder zuneigte. Nun hatte er Zeit, um die Annäherung des grobschlächtigen Kalfaktors abzuwarten. Er brauchte dem andern keine Vorgaben zu machen. Das war gut, es war sogar sehr gut.

Eines Morgens klimperte es ein wenig am Spion. Es war die Stunde, um die August, der Kalfaktor, den Gang vor Jans Zelle zu säubern hatte.

»He!«

Jan trat an die Tür heran und blickte durch den Spion in Augusts wasserblaue, immer etwas entzündete Augen.

»Du?«

Jan wartete stumm.

»Du …«

August schaute noch einmal nach rechts und links, und als er sich überzeugt hatte, daß kein »Maschoris« zu fürchten sei, erschien ein Grinsen auf seinem fleischigen, blassen Gesicht.

»Du, Jan, du kennst mich wohl gar nicht? Aber ich kenne dich … ja, da staunst du …«

»Hm … nee – ich kenn’ dich nicht.«

»Nee, nich … wir waren ja auch so viele … die damals zugehört haben, nicht? Weißt du noch, wie euer Prozeß war? Das ist doch hier in Stade gewesen. Ihr kommt jetzt wieder hin, in denselben Saal … der Staatsanwalt, der Sch … kerl … jetzt ist es ein anderer, aber es ist einer wie der andere …«

»Das ist schon wahr.«

»Jan … paß auf … du hast mir gefallen … wie du die zum besten gehabt hast und hast dich gehalten und keinen nicht verraten … weil du immer gesagt hast, das hast du alles allein gemacht …« August lachte vor sich hin. Er hatte einen breiten Mund. Seine Lippen waren blutleer. »Hör mal zu, du hast mir gefallen, Mann, du bist richtig … Also dann auf Wiedersehen … wir sprechen uns noch, ja?«

»Wie du willst.«

August kicherte und nickte.

Als er am nächsten Morgen unter Aufsicht des Wachtmeisters die Verpflegung brachte, tat er schon vertraulich und berichtete unverfroren, daß es Jans beiden Genossen nicht schlecht gehe.

»Laß das Geklatsche!« sagte der Wachtmeister unwirsch. »Ihr seid alle Waschweiber. Aber ich rate dir, August, wenn du noch weiter kalfaktern willst, so laß die Finger von den ›Politischen‹. Du kannst das für deinen Fall schlecht vertragen.«

»Jawoll, Herr Wachtmeister, ich sage ja gar nischt mehr …«

Am Abend erfuhr Jan am Spion, daß August wegen einer Wirtshausrauferei mit einem SA-Mann zu drei Jahren Gefängnis verurteilt war. Am folgenden Morgen war der Grobschlächtige kaum mehr von der Tür wegzukriegen.

»Mensch, Jan«, flüsterte er, »ihr seid alle feine Kerle gewesen in eurem Prozeß. Oh, wie der Staatsanwalt bloß gekeift hat, und ihr seid alle so schön ruhig geblieben. Aber du warst der beste, deshalb haben sie dir auch das meiste aufgebrummt. Paß auf, die SA, die Braunen, dat sind Schweine. Es sind Schweine, und sie wollen nichts als unsere Mädels haben, deswegen ziehen sie die Uniform an und singen ihre dämlichen Lieder. Ich hab’ ihm ein paar mit dem Leder übergezogen … Mensch, dat hättest du sehen müssen … das Leder hab’ ich nicht zugegeben. Es war eben eine Ohrfeige, verstehst du, aus Wut … an mein Mädel wollte er auf dem Tanzboden ran, der schiefe Lump …«

»Was macht dein Mädel denn jetzt?«

In Augusts wasserblaue Augen traten Tränen. »Mann, wenn ick dat mal wüßte … ehrlich war sie ja und sauber, aber drei Joahr sind drei Joahr … und denn bün ick noch vorbestraft und ›politisch belastet‹ und ihr Vater, der is mal Gastwirt und will nix zu tun haben mit die Polizei … Mann, wenn dat Schwein, wenn der Schietbüttel in seine braune Uniform mir jetzt das Mädel wegnehmen will …«

»Dat wird er wohl versuchen.«

»Siehst du wohl, du sagst das auch. Ich könnt’ ihn in Stücke reißen, und die Grete, dat Mädel, dat schlechte Mensch, schreibt mir auch nicht mehr … och, Jan, wenn des Abends jetzt so die Nebel ziehen und die Sterne so ein wenig leuchten und is nich mehr weit hin zu Weihnachten … und zu Weihnachten wollten wir uns ja verloben … wenn du die Grete gesehen hättest, da ist was dran … wenn ich nur wüßte, ob sie mir vielleicht doch noch treu is’ …«

»Schreib doch mal einem, daß er hingehen soll.«

»Ach, hör mir auf, geht ja doch keiner für unsereinen, und dat Schreiben, dat ist bei uns nich so Mode in der Familie … Drei Joahr, denken die, dat ist mal garnich so lang, und wissen tun sie nix, wie einem zumute ist … wenn ich den noch mal in die Fäuste kriegte, dat Schwein … wegen wat haben sie dich verurteilt, Jan? Hochverrat, nicht?«

»Ja, Vorbereitung zum Hochverrat.«

»Denn kommst du ja überhaupt nie mehr raus. Dat sind Verbrecher, ich kann dir dat sagen … ich hör’ doch viel, bin ja Kalfakter.«

August brach ab und verschwand schnell. Er hatte wohl ein verdächtiges Geräusch wahrgenommen. Jan trat von der Tür zurück. Draußen ging bald danach ein Schritt vorbei. Jan horchte. Das war ein Wachtmeister. Aber er schien nichts zu ahnen.

August blieb Kalfaktor.

Jan konnte jetzt jeden Morgen oder Abend mit ihm ein kleines Privatgespräch führen.

»Weißt du«, meinte der große Kerl, dessen Wangen und Arme in der Gefangenschaft schwammig geworden waren, »weißt du« – und in den Augen, die Jan wieder durch den Spion beobachten konnte, blitzte der Zorn auf wie ein grelles Licht –, »weißt du, wenn ich nur die ärgern könnte, die Fatzjuckls, die … ich täte, was ich kann …«

»Dann bring mir doch einen Plan.«

»Wat für einen Plan?« fragte August erstaunt.

»Na, von unserem schönen Haus hier. Wie die Lichtschächte gehn und wo die Feuerwehrleitern und Blitzableiter sitzen … und so.«

August lachte leise. »Dahin geht die Reise? Du bist ja man würklich ein Unverbesserlicher. Weißt du wat? Du gefällst mir. Du sollst dat allens haben.«

»Und einen Hammer und einen Meißel.«

»Allens sollst du haben.«

»Aber beeil dich auch. In drei Tagen ist der Termin. Dann ist nichts mehr zu machen.«

»Geht schon in Ordnung. Du sollst dat allens haben. Weil du mir gefällst, die brauchen dich nicht noch umbringen eines Tags. Tjüs!«

»Tjüs!«

Als Jan wieder allein war, befühlte er nochmals sachgemäß jede Stelle an den Wänden seiner Zelle.

Bei der Essenausgabe am folgenden Tage erkannte der Gefangene sofort an den Mienen des Kalfaktors, daß dieser etwas Wichtiges vorhabe. Während der zweite Kalfaktor die Suppe in Jans Schüssel schöpfte, kam August noch ein wenig näher als sonst an Jan heran. Sobald der Wachtmeister einmal zur Seite schaute, spürte Jan Augusts Hand an der seinen. Jan packte das Etwas, das August ihm zuschob, und hielt es unauffällig unter der Essenschüssel fest.

Der Kessel wurde zur nächsten Zelle weitergetragen. August zwinkerte noch schnell dem Gefangenen zu.

Dann schloß der Wachtmeister die Tür wieder ab.

Jan setzte sich auf seine Bank. Er stellte die Schüssel mit der Erbsensuppe neben sich und wickelte den Lappen auf, in den der Kalfaktor sein heimliches Geschenk eingeschlagen hatte.

Es kam erst ein Zettel zutage. Als Jan ihn auseinandergefaltet hatte, sah er eine unbeholfene Zeichnung, die ihm aber alles sagte, was er wissen wollte. Er studierte einen Augenblick aufmerksam die Angaben über den Lichtschacht – gut, gut –, er war nicht weit von Jans Zelle entfernt, und dort konnte ein gewandter Mann hochkommen, das hatte Jan bei seiner Einlieferung und bei seinem Gang zum Bad schon berechnet. Mit den Feuerwehrleitern sah es dagegen schlecht aus. Sie befanden sich an anderen Teilen des Gebäudes … Aber halt, der Blitzableiter, den hatte August auch eingezeichnet. Wenn Jan im Lichtschacht hoch und aufs Dach kam, so konnte er den Blitzableiter sofort greifen. Daran dann hinunter, über die Mauer …

Nicht weit von Stade hatte Jan einen Bekannten auf einem Dorf. Der würde ihm wohl das erste Quartier geben. Sie konnten ja nicht alle Verräter sein!

Jan benutzte schon die Tagesstunden für seine Vorbereitungen. Am Tage fiel ein Geräusch nicht so sehr auf. Er wickelte den Lappen um den Hammer und entfernte den Putz an der Stelle, an der er schon abbröckelte, noch weiter. Es gab trotz aller Vorsicht viel Staub und Dreck.

Jan wischte ihn von dem Linoleumboden auf und versteckte ihn in seinem Bett.

Es ging alles gut. Niemand wurde aufmerksam. Als August unter Aufsicht des Wachtmeisters das Abendessen brachte, sah die Zelle wie immer aus. Dem Wachtmeister fiel es nicht auf, daß die schlechte Stelle an der Wand sich vergrößert hatte.

Sobald das Abendessen vorüber war, kam für Jan der schwierigere Teil der Arbeit. Er mußte jetzt den ersten Stein aus der Wand nehmen. Sechs Uhr abends war vorbei. Um acht Uhr wurde das Licht gelöscht. Bis dahin wollte Jan wenigstens den ersten Stein geschafft haben, denn im Dunkeln konnte er schlecht arbeiten.

Es war siebeneinhalb Uhr, als Jan auf der Treppe das leise Knacken vernahm, wie es von Schritten verursacht wird. Irgend jemand kam die Treppe herauf, wahrscheinlich ein »Maschoris«. Jan hörte sofort mit seiner Arbeit auf und begann Freiübungen zu machen.

Der Spion bewegte sich.

»Was machen Sie denn hier?« rief die Stimme des Wachtmeisters. »Was soll das Loch in der Wand?«

Jan begriff, daß alles verloren war.

»Was ich hier mache?« rief er zurück. »Ich will ausbrechen!«

Draußen ertönte ein Fluch. Dann entfernten sich die Schritte des Wachtmeisters, aber bald kam er mit zwei Kalfaktoren wieder zurück. Auch August war dabei.

Die drei betraten die Zelle.

Schade, schade, sagten Augusts halbverdeckte Augen und seine herabgezogenen Mundwinkel.

Jan wurde in eine Arrestzelle gebracht. In einem Gitterkäfig, wie er ihn von Celle her schon gewohnt war, verbrachte er die Nacht.

Am folgenden Tage wurde Jan vorgeführt und das Protokoll wurde aufgenommen.

Der Fall erregte großes Aufsehen.

»Waren Sie sich denn nicht klar darüber, daß Sie durch diese Wand nur auf den Korridor gelangen? Darüber mußten Sie sich doch klar sein!« sagte der protokollierende Beamte ein über das andere Mal zu dem Gefangenen. »Wie wollten Sie denn von dem Korridor aus dem Hause hinausgelangen?«

»Darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Das sollte sich eben so ergeben.«

»Sie können doch nicht verlangen, daß wir Ihnen das glauben?« Der Beamte schaute über die Brillengläser. »Wir nehmen an, daß Sie den Wachtmeister ermorden und mit seinen Schlüsseln das Tor öffnen wollten.«

Der Beamte betrachtete den Gefangenen bei diesen Worten mit der Miene der strafenden Gerechtigkeit, in die sich Furcht und Neugier mischten.

»Nein, das wollte ich nicht«, erwiderte Jan, scheinbar gleichgültig.

»Kann jeder hinterher sagen, das wollte ich nicht! Es bestand doch gar keine andere Möglichkeit.«

»Wieso denn? Man kann doch nicht im vorweg sagen, was möglich ist. Da war die schadhafte Stelle an der Wand, die hat mich so am lieben langen Tag auf die Gedanken gebracht.«

»Und von wem hatten Sie das Werkzeug?«

»Das hab’ ich mir schon von Celle mitgebracht. Da hat so etwas immer herumgelegen.«

Der Beamte konnte nicht umhin zu schmunzeln. In Celle, der angeblichen Musteranstalt des Herrn Marloh, schien ja allerhand los zu sein und vielerlei zu bestehen mit Ausnahme von Ordnung.

Der protokollierende Beamte zeigte sich Jan gegenüber jetzt etwas freundlicher.

 

»Wir könnten die Sache von gestern gleich auf Ihrem Termin morgen mit verhandeln. Sind Sie damit einverstanden?«

»Jawohl, damit bin ich einverstanden.«

Der Tag und die Nacht vergingen.

Als ein gefährlicher Ausbrecher gefesselt und scharf bewacht, wurde Jan am folgenden Morgen aus seiner Zelle und über den Hof zum Gerichtssaal geführt.

Jans Blick streifte rasch die Gefängnismauern, die den Hof umgaben, und er erinnerte sich, wie er ein und ein halbes Jahr vorher, im Frühjahr 1935, einen Tag um den anderen über diesen Hof zum Gerichtssaal geführt worden war. Er und seine vielen guten Genossen, die die illegale Arbeit in der kleinen Heimatstadt gewagt hatten, wurden damals über diesen Hof zur Verhandlung geführt … und jetzt wie damals tat sich die Tür zum Gerichtssaal auf und Jan wurde auf die Anklagebank gebracht. Zwei Wachtmeister postierten sich neben ihm. Auf der Bank saßen schon Christoph und Franz, Jan setzte sich neben sie. Die Freunde wechselten kein Wort. Es war nicht der Ort dafür, und es gab auch nichts Wichtiges zu sagen.

Die Gerichtszeremonien verlangten ihre Zeit. Während der Richter in seiner Robe den erhöhten Platz einnahm, der Staatsanwalt seine Papiere zurechtlegte und die beiden Zeugen sich einfanden, blieb Jan und seinen Freunden die Muße, an das zurückzudenken, was sich vor eineinhalb Jahren hier abgespielt hatte. Das war die alte getünchte Wand, die dem Saal ein nüchternes und gleichgültiges Aussehen gab, die alte gedrechselte Barriere, die Richter und Angeklagte von den Zuhörern abschloß. Auf den Plätzen für das Publikum saß auch heute eine Anzahl Neugieriger. Vor eineinhalb Jahren waren diese Bänke alle voll besetzt gewesen, und auch August hatte unter den Zuhörern gesessen.

Jan glaubte noch einmal die schneidige Stimme des Herrn Staatsanwaltes Dr. Frischbier zu hören. Er erinnerte sich kaum an sein Gesicht, denn dieses Gesicht hatte nichts Besonderes an sich gehabt. Es war das Gesicht eines Korpsstudenten gewesen, der jetzt für den »Führer« seine Pflicht tat, ein Gesicht, in dessen Mienenspiel sich wenig eigene Gefühle, wenig eigene geistige Arbeit ausdrückten, das Gesicht eines qualifizierten Spießers. Das Gesicht und die schneidige Stimme paßten in den getünchten Saal. Alles wirkte wie Tünche, die man aufstreichen und abkratzen, oder wie eine Maske, die man aufsetzen und wieder absetzen konnte, je nach den Erfordernissen der Zeit und der Karriere. Herr Staatsanwalt Dr. Frischbier hatte auch keine eigenen Worte gesprochen. Er hatte nur die Worte gesagt, die ihm sein »Führer« und der »Völkische Beobachter« lieferten, Worte, wie Jan und seine Genossen sie in allen Modulationen seit Jahr und Tag von ihren Feinden zu hören gewohnt waren und wie sie immer wieder gesprochen werden mußten, solange es Menschen gab, die ihre Brüder von den Gütern der Erde ausschließen wollten.

»Das Ziel der KPD ist der bewaffnete Aufstand! Die Kommunisten haben sich illegal organisiert, Möller war schon 1933 in Schutzhaft. Er wurde entlassen. Diese Gnade hat er damit beantwortet, daß er in seinem Heimatorte die KPD wieder aufgebaut hat! Er ist ein eingefleischter Kommunist! Die härtesten Strafen müssen angewandt werden! Das Gericht hat nicht nur die Aufgabe zu sühnen, es hat die Aufgabe, solche Elemente auszumerzen! Möller und sein Kurier Roth sind die Hauptangeklagten. In ihren Händen lief alles zusammen. Ich beantrage …«

Jan wurde aus seinen Erinnerungen herausgerissen. Der Richter in der schwarzen Robe begann mit der Vernehmung der Zeugen und der Angeklagten. Als Zeugen waren der Wachtmeister Vürmann und jener Polizeimeister geladen, bei dem die Gefangenen wieder eingeliefert worden waren. Die Gefangenen sagten wiederum aus, daß sie durch ihre Flucht gegen die schlechte Behandlung der Gefangenen protestieren wollten und daß Vürmann Gefangene geprügelt habe.

Vürmann war blaß. Seine Lippen zitterten vor Wut, wenn er seine gehässigen Aussagen machte; in dem Vibrieren seiner Stimme lag der ohnmächtige Wunsch, sich zu rächen. Jan brauchte diesen Menschen nur anzusehen und anzuhören, um zu wissen, daß Vürmann nicht Hauptwachtmeister werden und nicht an einen besseren Platz versetzt werden würde.

Der Polizeimeister blieb ruhig und berichtete mit wenigen Worten, wie die Gefangenen im Walde entdeckt und wieder eingeliefert worden waren. Von dem Verräter sagte er nichts. Die Verbindung mit ihm blieb das Geheimnis der Polizei.

Die Urteilsverkündung brachte für Jan und seine beiden Genossen je acht Monate Gefängnis, die sie im Anschluß an ihre Zuchthausstrafe verbüßen sollten, und für Jan zusätzlich zwei Monate Gefängnis als Strafe für seinen Ausbruchsversuch in Stade.

Die Gefangenen nahmen das Urteil widerspruchslos an.

Als sie abgeführt wurden, schauten Jan, Christoph und Franz einander noch einmal in die Augen. Sie wußten, daß sie in den kommenden Jahren der Gefangenschaft einander nicht mehr sehen würden. Es war etwas Schönes an der Zeit, in der wir zusammenhalten konnten, sagte ihr Blick. Halt dich weiter gut, Genosse …

In dem Zuchthaus zu Celle hatten sich die Lebensbedingungen für Jan nach seinen beiden Fluchtversuchen verschlechtert. Er saß in Einzelhaft und mußte Tüten kleben. Jeden Abend hatte er seine Kleider abzuliefern und jeden Morgen erhielt er sie erst zu einer bestimmten Stunde wieder. Nachts brannte das Licht in seiner Zelle und machte seinen Schlaf unruhig.

Es ging dem Winter zu, und das Gebäude war nur mäßig geheizt. Jan fror des Abends und des Morgens ohne Kleider. Die Gelenke an seinen Händen und Füßen wurden dick und schmerzten.

Der Gefangene wurde dem Arzt vorgeführt.

Gelenkrheumatismus!

Der Arzt hatte die Krankheit festgestellt, aber an Jans Lebensverhältnissen änderte sich nichts dadurch. Noch vermochte er ja Tüten zu kleben mit seinen wehen Händen, und trotz des Fiebers ging er aufrecht.

Jan war zumute, als ob er nun erst wahrhaft gefangen sei. Solange noch die Hoffnung zwischen den Mauern und Gittern wohnt, ist auch dort ein Stück Freiheit. Wenn die Hoffnung schwindet, ist die Gefangenschaft vollkommen.

Der Gefangene vermochte nicht mehr, den Posttag mit der alten trotzigen Gleichgültigkeit verfließen zu lassen. Er dachte an diesen Tag, auch wenn er nicht daran denken wollte. Er wartete auf diesen Tag, auch wenn er sich sagte, daß er nichts bringen werde. Er wußte, wann dieser Tag anbrach; und wenn die Hände des Wachtmeisters wieder leer gewesen waren, starrte Jan wohl ein paar Minuten auf die Tüten, diese einzigen Gefährten in seiner Zelle, und strich sich über die geschwollenen Hände, denen die Arbeit schwerfiel.

Eines Tages ließ er sich eines der vorgeschriebenen Formulare geben und schrieb an seine Eltern.

»Liebe Mutter und lieber Vater! Es geht mir gut. Wenn Ihr wollt, so laßt einmal etwas von Euch hören.«

Jan las die paar Worte dreimal durch, und dann entschloß er sich endgültig, diesen Brief abzusenden.

Am nächsten Posttag kam der Wachtmeister nicht mit leeren Händen. Jan Möller erhielt Antwort. Der Gefangene faltete den Brief, den ersten, den er nach so langer Zeit erhielt, langsam auseinander. Er erkannte die Handschrift des Vaters. Es war die ungelenke Schrift eines Mannes, der Jahrzehnte mit der Hand gearbeitet hat und das Formen von Buchstaben nicht jeden Tag übt.

»An meinen Sohn Jan«, stand darin. »Du hast Deinen Eltern große Schande gemacht. Wir brauchen deshalb keine Post von Dir.«

Jan legte das Papier zur Seite. Keine Post von dir. Keine Post von dir. Wir brauchen keine Post von dir. Keine Post …

Gut. Er würde also nie mehr an seinen Vater und an seine Mutter schreiben.

Jan zerriß den Antwortbrief.

Während er den ganzen Tag Tüten klebte und auch zuweilen des Nachts, wenn er in der erleuchteten Zelle mit Schmerzen an Händen und Füßen auf dem harten Bett lag, dachte Jan jetzt an seine Eltern. Sie wollten von ihrem Kind nichts mehr wissen.