Jan und Jutta

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»So macht doch vorwärts«, flüsterte Jan ungeduldig. »Es wird hell!«

Christoph trank nicht mehr viel, aber das wenige genügte schon, um in ihm eine furchtbare Übelkeit zu erregen. Die Kost war ungewohnt und sein Körper überanstrengt. Aber er durfte nicht nachgeben. Weiter lief er mit den anderen, bald springend, bald kriechend, bald im Dauerlauf. Die Flüchtlinge, die den Schutz der Dunkelheit verloren, mußten im heraufziehenden Tag den Schutz des Geländes suchen. Sie hatten lange nichts mehr miteinander gesprochen.

Jan führte nach wie vor. Er steuerte jetzt mit seinen beiden Gefährten auf ein Gehölz zu, das sich an einem Hang hinabzog.

Die drei Männer drangen in das Gehölz ein. Es bestand aus jungen Tannen und Gesträuch. Die Flüchtlinge suchten sich ein geeignetes Versteck. Todmüde von dem stundenlangen nächtlichen Lauf, durchnäßt, erhitzt durch die Anstrengung und zugleich ausgekühlt von dem herbstlichen Winde der letzten Nachtstunden, nisteten sie sich im Unterholz ein. Es roch nach Harz, nach Brombeeren und nach Walderde. Die dünnen Waldgräser glitzerten. Der erste Lichtschimmer, der dem Sonnenaufgang noch voranging, fing sich schon in den Tautropfen. Von einem der Baumwipfel erklang die erste Vogelstimme.

Jan kroch in dem Versteck umher, um einen geeigneten Ausguck zu finden, der ihm den Blick auf den nächsten Weg erlaubte, ohne daß er selbst von dort gesehen werden konnte.

»Wo sind wir denn?« fragte Franz, zu Jan hingewandt. »Du scheinst dich ja auszukennen.«

»Wo-die-Hunde-mit-dem-Schwanz-bellen«, antwortete Jan. »Hier in der Gegend habe ich gewohnt und gearbeitet.«

»Du?« fing Christoph an und holte tief Luft, um sich nicht zu erbrechen. »Wohnt hier nicht … hier in der Nähe … der Hein Henne, meine ich?«

»Stimmt. Du kennst ihn doch auch?«

»Ja.«

Die Vogelstimmen wurden schon zahlreicher. Die Sonne war über dem Horizont emporgekommen. Eine Lerche stieg in die Lüfte. Hellgoldenes Licht flutete zwischen den jungen grünen Tannen, den Ranken und Sträuchern. Der Himmel wölbte sich blau über dem Land. Die Tautropfen begannen an den Gräsern herabzurinnen und leuchteten dabei in allen Farben des Regenbogens. Ein Marienkäfer war Jan auf die Hand gefallen und versuchte jetzt, seine Flügel zu spreizen. Über den Waldweg, den Jan vom Versteck aus beobachten konnte, lief ein Hase. Das Tier hielt einen Augenblick an, machte Männchen, äugte und lauschte, dann setzte es seinen Weg mit Windeseile fort und verschwand im Gesträuch. Jan dachte daran, daß er sich mit seinen Gefährten in der Lage eines Wildtieres befand, das sich vor den Jägern hüten mußte.

»Du könntest mal zu Hein Henne hingehen und die Lage peilen«, sagte Jan zu Christoph. »Damit wir erfahren, wie es eigentlich steht und wer von den Genossen noch lebt. Man ist ja aus allem raus.«

»Der Gedanke ist nicht schlecht«, stimmte Christoph zu. »Ich würde selbst gehen«, sagte Jan, »aber mich kennen die Frau und die Kinder. Die Frau und die Kinder brauchen nichts von uns zu wissen.«

»Ich sehe mal zu.« Christoph überwand seine Erschöpfung und erhob sich. Er versicherte sich noch einmal, daß rings alles still und menschenleer war, dann schlich er vorsichtig durch das Gehölz. Die beiden Zurückbleibenden lauschten noch auf seine Schritte, die aber bald nicht mehr zu hören waren.

»Ist das nicht gefährlich?« fragte Franz.

Jan zuckte die Achseln. »Hein Henne ist Genosse, und er wohnt in einem Häuschen am Wald allein. Wenn Christoph sich in acht nimmt, kann eigentlich nichts passieren. Wir müssen uns doch orientieren, wie es politisch aussieht.«

»Ja, ja.« Franz hatte eine unreife Brombeere gefunden und zerkaute sie. »Wir können die Zeit hier zu so etwas ausnützen, das ist schon richtig. Vor Abend kommen wir ja doch nicht weiter.«

»Nein, den Tag über müssen wir hier versteckt bleiben. Sobald es dunkel wird, machen wir uns auf nach Hamburg. Den Weg bis Hamburg schaffen wir in der Nacht.«

»Mhm.« Franz legte sich etwas bequemer zurecht, aber auch er dachte noch nicht ans Schlafen. »Wann kann Christoph zurück sein?«

»In einer halben Stunde – in einer Stunde, je nachdem.«

Jan hatte zwei Ausguckstellen gefunden. Von der einen konnte er den Weg, von der zweiten aus ein Stück von Hein Hennes Häuschen am Waldrand erkennen.

Abwechselnd hielt er nun Ausschau, blieb dabei aber selbst gut versteckt.

Die Strahlen der Morgensonne wärmten jetzt schon mehr. Die Sonnenscheibe war am Himmel zu sehen. Aber es war noch sehr früh am Tage. »Im Moor sind sie vielleicht noch nicht einmal aufgewacht«, sagte Jan.

Franz lachte ein wenig und dehnte die Glieder. Merkwürdig war es, wenn man tun konnte, was man wollte und nirgends ein Vürmann mit einem Karabiner stand, um Befehle zu erteilen.

Eine halbe Stunde verging. Christoph war noch nicht zurück. Die entflohenen Gefangenen besaßen keine Uhren, aber sie hatten ihren Zeitsinn gut entwickelt und wußten gut abzuschätzen, was eine halbe Stunde und was eine Stunde war.

Endlich knackte es wieder leise im Gebüsch, und die aufhorchenden Flüchtlinge erkannten auch bald die schwarze Leinenhose ihres Gefährten.

Der Zurückkehrende legte sich in die Mulde, die als Versteck diente, und schaute Jan aufmerksam an. »Also nun paßt auf«, sagte er. »Mit dem Hein ist das so. Ich habe ihn eben mal gesprochen. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich ihn ans Fenster herausgeklopft hatte. Dann erschien er, kreideweiß, und ich habe mit ihm gesprochen. Er steht unter Polizeiaufsicht. Sonst wäre er gleich mit mir hierher gekommen. Aber nun muß er noch eine Stunde warten, vorher darf er das Haus nicht verlassen. Dann kommt er mal her, und wir können ihn fragen, was wir wissen wollen.«

»Na meinetwegen«, knurrte Jan. »Also in einer Stunde.«

Franz gähnte. Christoph war sehr elend. Er schloß die Augen, und seine Gefährten merkten, daß er einschlief. Bald hatte der Schlaf auch Franz überwältigt.

Jan hielt mit Gewalt die Augen offen. Er durfte nicht schlafen, so müde er auch war. Mit mißtrauischer Aufmerksamkeit beobachtete er das Haus des Hein Henne. Die Mitteilung, die Christoph mitgebracht hatte, gefiel ihm nicht.

Obwohl der Tag warm war, fror Jan aus Müdigkeit. Die Stunde Wartezeit war schon vorbei, aber der Erwartete war noch nicht erschienen. Da … jetzt! Jan beobachtete, wie Hein Henne aus dem Hause kam. Er hatte sein Rad bei sich. Wozu das? Mit dem Rad wollte er in das Gehölz kommen? Nein. Hein Henne fuhr den Weg zur Stadt. Jan wartete gespannt. Es blieb ihm nichts übrig als zu warten. Am Tage durften sich die Flüchtlinge nicht aus dem Walde hinauswagen. Es dauerte nicht lange, da kam Henne wieder. Er brachte das Rad ins Haus und blieb auch selbst darin verschwunden. Wenig später verließ die Frau des Henne das Haus und schlug ebenfalls den Weg zur Stadt ein. Es mag sein, daß sie Milch holen will, dachte Jan. Sie blieb nicht lange aus, und als sie wiederkam, konnte Jan nicht erkennen, ob sie irgend etwas mitgebracht hatte. Jan schätzte, daß es neun Uhr sein mochte. Seine beiden Gefährten schliefen fest. Jan vernahm auf einmal das Geräusch eines Motorrades. Das brauchte nichts Besonderes zu besagen, denn am Sonntag konnte leicht einer auf den Gedanken kommen, mit dem Motorrad auszufahren. Trotzdem lauschte Jan angespannt. Das Geräusch verstummte, das Motorrad hielt. Jan konnte das Rad selbst durch die Bäume nicht sehen, aber als der Fahrer und der Beifahrer abgestiegen waren und etwas vortraten, kamen sie in das Gesichtsfeld des Flüchtlings. Jan erkannte einen SA-Mann im braunen Hemd und einen uniformierten Polizisten. Dicke Luft!

Jan weckte seine beiden Gefährten. Er ließ sie in Eile sehen, was er selbst gesehen hatte.

»Verrat!« sagte Christoph erbittert, als er den Kopf vom Ausguck wieder zurückzog. »Der Henne, der Lump … daß der Henne so ein Lump geworden ist! Er hat uns verpfiffen!«

Franz und Christoph schauten unwillkürlich auf Jan, der sich in dem Gelände am besten auskannte. Was tun?

Jan winkte den beiden, ihm zu folgen. Das Versteck, in dem sich die drei Flüchtlinge bisher befunden hatten, war jetzt zu sehr gefährdet.

Leise und schnell huschten die Flüchtlinge durch Heide und Buschwerk. Sie hielten sich immer sorgfältig in Deckung. Es war eine Waldschlucht zu durchqueren. Jan spähte die Schlucht hinauf. Oben auf dem Hügel stand ein Polizist.

»Es ist klar«, flüsterte Jan, »wir sind umstellt.«

Die drei Männer versteckten sich, so gut es ging. Jan hatte in der Schonung ein Loch aufgespürt, das günstige Deckung versprach. Mit seinen Gefährten verkroch er sich darin, und alle deckten sich mit Heide und altem Laub zu. Es blieb ihnen nichts übrig als zu warten, ob man sie entdecken werde oder nicht.

Schwere Schritte knackten jetzt durch die Schonung. Jan und seine Gefährten lauschten angestrengt. Nach den Geräuschen zu schließen, kam eine Reihe von Polizisten oder SA-Männern von oben her den Hang herunter, im Abstand von je drei Metern. Die ganze Schonung wurde offensichtlich »durchgekämmt«. Die versteckten Flüchtlinge erblickten zwei Männer in braunen Hemden, die mit schußbereiten Pistolen geradewegs auf das Versteck zusteuerten. Noch hatten die SA-Leute die Flüchtlinge nicht bemerkt. Aber im nächsten Augenblick schon mußte das Zusammentreffen erfolgen.

Die entflohenen Gefangenen hatten die Wahl, einen Kampf zu wagen, der für sie aussichtslos war, oder sich zu ergeben.

Jan faßte als erster den bitteren Entschluß. Als die beiden braun Uniformierten kurz vor dem Versteck angelangt waren, sprang er auf und nahm die Hände hoch.

Die beiden SA-Männer stockten überrascht. Sie legten die schußbereiten Pistolen an und warteten. Christoph und Franz erhoben sich auch und stellten sich neben Jan.

 

Es herrschte einen Augenblick Stille.

»Hallo!« rief dann der eine der braun Uniformierten. »Da ist ja auch der Möller dabei, der Jan! Ergebt ihr euch?«

»Das siehst du ja!« antwortete Jan trocken.

Die lauten Worte hatten die übrigen SA-Leute und Polizisten auf den Vorgang aufmerksam gemacht. Sie eilten herbei. Die Flüchtlinge wurden umringt.

»Wahrhaftig, der Möller!« wiederholte einer der Ortspolizisten. »So sehen wir uns auch mal wieder! Na, denn kommt mal mit. Du machst den Weg mit uns ja nicht das erstemal, Möller.«

»Nee, so an zehnmal habt ihr mich schon geholt«, meinte Jan und dachte an die zahlreichen Verhaftungen, denen er seit Beginn des Hitlerregimes ausgesetzt gewesen war. »Dann komme ich auch das elftemal mit euch.«

Die Gefangenen stiegen langsam den Hang aufwärts, eskortiert von Polizei und SA. Sie dachten nicht mehr an Freiheit, an Sonne und Wald. Sie sahen wieder nur Uniformen, Karabiner und Pistolen.

Ein Polizist und ein SA-Mann bestiegen an der Landstraße, die über den Hügel führte, ein bereitstehendes Motorrad und knatterten damit stadtwärts. Die übrigen machten sich mit den Gefangenen zu Fuß auf den Weg. Nur einmal begegnete die Eskorte Fußgängern, die den Sonntagmorgen im Freien genießen wollten. Zwei Frauen in Sonntags-Sommerkleidern, Männer in frisch geplätteten Hemden, ein kleines Mädchen mit blauen Zopfbändern und ein junge im neuen Anzug wanderten von der Stadt her in den Wald. Als sie die Polizei, die SA und, von diesen halb verdeckt, auch die Gefangenen in den schwarzen Leinenanzügen erblickten, wandten sie scheu den Kopf zur Seite und wichen vom Wege. Erst als die Polizei und die Gefangenen an ihnen vorüber waren, schauten die Spaziergänger noch einmal kurz zurück und wiesen dabei das Mädchen und den jungen an, sich nicht aufzuhalten. Erschien der Anblick der Verfemten den Bürgern gefährlich?

Die Gefangenen sahen nur geradeaus auf ihren, Weg.

Die Landstraße führte auf halber Höhe der von Wald und Wiese bedeckten Hügel entlang. Vom Wiesentale her ließ sich jetzt froher Lärm einer Kinderschar vernehmen. Der Augenblick, in dem Jan die fröhlichen Laute vernahm, war auf seinem schweren Weg der einzige, der ihn daran erinnerte, daß er in diesen Wäldern, auf diesen Wiesen auch als Junge umhergestrolcht war und daß er mit dem gleichen übermütigen Geschrei in der Este gebadet hatte, wie es jetzt die jungen aus der kleinen Stadt taten. Allerdings hatte Jan das Vergnügen zu baden immer nur als ein verbotenes Vergnügen genossen. Er hatte schon als Kind arbeiten müssen, denn seine Eltern waren arm gewesen.

Die Wachmannschaften kamen mit den drei Gefangenen in die Straßen der Stadt.

Die Fensterscheiben leuchteten blank geputzt an den Fachwerkhäusern. Da und dort tat sich eines der Fenster auf. Die Hausfrau am Herd, der Hausherr, der seine Zeitung in Ruhe lesen wollte, wurden durch das Getrampel der schweren Polizei- und SA-Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschreckt und warfen neugierige Blicke auf die Straße. Kinder, die sonntäglich geputzt auf den Höfen, in den Toreinfahrten, auf den Bürgersteigen gespielt hatten, verstummten, brachen ihre Spiele ab und schauten voll Spannung auf den ungewöhnlichen Vorgang. Die Kirchgänger faßten ihre Gebetbücher unwillkürlich fester.

»Habt ihr gesehen? Der Jan Möller ist dabei!«

Die Ohren der Gefangenen fingen hin und wieder einen Fetzen solchen Geflüsters auf.

Endlich war das Rathaus erreicht, in dem sich die Polizeiwache befand. Die Gefangenen wurden in den Wachraum gebracht.

In dem kühlen Raum des alten Gebäudes standen sie vor dem Polizeimeister und dem Protokollanten und gaben ihre Personalien an.

»Na ja«, meinte der Polizeimeister, ein älterer, gesetzter Mann, »dann werden wir also jetzt das Moorlager verständigen.«

Der Protokollant klappte die Akte zu. »Es ist nur sonderbar«, hörten die Gefangenen den Polizeimeister noch sagen, »daß wir vom Lager überhaupt keine Meldung bekommen haben … in der Richtung hier hat man die Flüchtlinge wohl nicht vermutet.«

Die Gefangenen wurden von einem der Polizisten in den Keller gebracht. Der Polizist schloß die drei zusammen in eine enge dunkle Zelle ein.

Franz, Christoph und Jan setzten sich auf die einzige schmale Bank, die vorhanden war. Wortlos schauten sie sich zunächst in dem schmutzigen Raum um.

»Also Wanzen jedenfalls, darauf will ich wetten«, bemerkte Franz.

Dann herrschte wieder längeres Schweigen.

»Die Kerle sind eigentlich noch grundanständig zu uns«, meinte Christoph schließlich, »daß sie uns nicht isolieren, sondern zusammensperren. Was sagen wir denn nun, wenn die Vernehmung kommt?«

»Was ausgemacht ist«, antwortete Jan.

»Also wir wollten durch die Flucht gegen die Behandlung protestieren … gegen die Prügel … wollten unter falschem Namen in der Gegend hier untertauchen und arbeiten … Verbindungen haben wir keine …«

»Das ist doch alles klar!« meinte Franz.

»Ja, ja … bloß die von Celle werden ja weniger anständig sein. Die werden wissen wollen, wie wir zu dritt auf den gleichen Gedanken gekommen sind!«

Jan zuckte die Achseln. »Ich habe schon die höchsten Strafen von uns dreien, und darum kriege ich jetzt wieder die höchsten …«

Franz und Christoph stützten die Ellenbogen auf die Knie und senkten den Kopf.

»Es ist ja auch egal«, erklärte Jan weiter. »Bei mir kommt es nicht mehr darauf an. Solange der Hitler an der Macht ist, lassen die mich sowieso nie mehr frei.«

»Das schon«, sagte Christoph, »aber deshalb braucht man dich doch nicht mehr als nötig hineinzubringen.«

»Also ich habe das angestiftet«, schloß Jan kurz. »Ich habe euch überredet. Den Schraubenschlüssel habe ich natürlich gefunden, den hat mir keiner gegeben. Dann ist alles klar?«

Franz und Christoph stimmten zu.

Die Gefangenen saßen wieder still beisammen. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nur einmal flüsterte Christoph noch: »Der Henne, so ein Lump! Die Polizei hier hatte keine Ahnung. Alles wäre gut gegangen …«

Die beiden anderen sagten nichts dazu. Was nützten alle Worte. Der große Plan war an einem Verräter gescheitert.

Als es Nachmittag geworden war, wurden die Gefangenen wieder nach oben zur Vernehmung gebracht. Im Wachraum stand bei dem Polizeimeister Hinrich Vürmann mit zwei Posten. Es war den Gefangenen klar, daß er auf den telefonischen Anruf der Polizeiwache hin sofort mit dem Wagen gekommen sein mußte.

Jan, Franz und Christoph blieben äußerlich völlig gleichmütig und sagten auf die Fragen des Polizeimeisters übereinstimmend nach der getroffenen Abrede aus.

Es war dem Wachtmeister Hinrich Vürmann anzusehen, wie er die ruhigen Fragen des Polizeimeisters und die bestimmten Antworten der Gefangenen mit steigendem Ärger verfolgte.

»Eine ganz große Schweinerei!« rief er, als das Protokoll geschlossen wurde »Prügel! So eine unverschämte Lüge! Die Bande hat ihre Aussagen offenbar verabredet! Das einzige, was der Wahrheit entspricht … ja, das einzige, was hier nicht erstunken und erlogen ist, das ist die Tatsache, daß der Kommunist hier, der Jan Möller, die ganze Schweinerei angestiftet hat! Das ist ein Staatsfeind, ein waschechter Kommunist ist das, ein ganz gefährlicher Verbrecher, der sich noch um nichts gebessert hat und nur von neuem auf hochverräterische Umtriebe ausgehen will! Er wird auch niemals etwas einsehen … dementsprechend muß man ihn behandeln!«

Jans Gestalt hatte sich um ein weniges gereckt, als er die Worte vernahm: »… ein waschechter Kommunist ist das.«

Hinrich Vürmann schaute den »Rädelsführer« wütend an. »Du bist wohl noch stolz darauf, so ein Untermensch zu sein, du Bolschewik! Der Stolz vergeht dir noch!«

Vürmann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obgleich es kühl im Raume war, hatte ihm der Zorn die Hitze in den Kopf getrieben. jetzt ließ er sich das Protokoll geben, las es noch einmal durch und warf die Blätter dann mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch.

Der Polizeimeister rückte das Aktenstück zurecht, so daß es wieder in genau gemessenem Abstand ordnungsgemäß neben den anderen Akten auf dem Schreibtisch lag. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, stützte die Hände gegen die Tischkante und fragte: »Haben Sie zu der Sache noch etwas zu bemerken, Herr Wachtmeister?«

»Nein«, erwiderte Vürmann bissig, knurrend wie ein Hund, der an die Leine genommen worden ist. »Ich habe hier nichts mehr zu bemerken. Das übrige wird sich ja in Celle finden.«

»Ich danke Ihnen. Dann können die Gefangenen also abgeführt werden.«

Derselbe Polizist, der die Gefangenen das erstemal in den Keller gebracht hatte, führte sie auch jetzt wieder in ihre Zelle.

Wieder saßen Jan, Franz und Christoph still und stumm in dem kleinen, halbdunklen, schmutzigen Raum. Die Stunden vergingen. Die drei Männer waren sehr müde, und sie waren auch hungrig, denn die Verpflegung war schlecht.

Als es später Abend und auch draußen schon fast dunkel geworden war, kam ein Schritt die Kellertreppe herunter, ein Schritt, der an Polizeistiefel denken ließ. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß der Zellentür. Die Gefangenen schauten mißtrauisch auf. Alle Vorgänge, die nicht der üblichen Regel entsprachen, mußten einen Gefangenen zunächst mit Mißtrauen erfüllen, denn das Außergewöhnliche im Gefangenenleben war meistens etwas Schlechtes und selten etwas Gutes.

Die Tür ging auf.

Der uniformierte, etwas untersetzte, kräftige Mann, der eintrat, war der Polizeimeister selbst.

Die Gefangenen hatten sich von ihrer Bank erhoben. Sie waren überrascht.

Der Polizeimeister lächelte verlegen und wog ein großes Brot in der Hand, das noch nach Hefe und Backofen duftete. Die Blicke der Gefangenen hingen an dem Brot.

»Die Verpflegung ist nicht so reichlich«, sagte der Polizeimeister. »Ihr werdet ja auch Hunger haben nach eurem Marsch vom Moor hierher. Ich habe euch noch ein Brot beim Bäcker besorgt.«

Der Polizeimeister blinzelte Jan zu und gab ihm das Brot.

»Wir danken.«

»Schon gut, schon gut.«

Der Polizeimeister entfernte sich schnell.

Die Gefangenen brachen das Brot. Alle drei aßen heißhungrig. Sie waren noch ganz und gar mit dem Genuß des frischen Bäckerbrotes beschäftigt, als sich an dem vergitterten Kellerfenster ein leises Zischen hören ließ.

»He … he … scht …«

Franz stand auf und ging ans Fenster.

Durch das Gitter konnte er den Schattenriß einer Mädchengestalt erkennen.

Eine schmale weiche Hand steckte einige große Birnen durch das Gitter. »Da …«, flüsterte es, »laßt’s euch schmecken. Ich komm’ morgen wieder!«

Das Mädchen war verschwunden. Die Gefangenen glaubten noch ihren leichten Schritt draußen auf dem Hof zu hören. Die Birnen waren reif. Wenn man hineinbiß, spürte die Zunge den Saft voller Süßigkeit; sie schmeckten nach Sonne und fruchtbarer Erde.

»Das ist sicher das Mädel vom Ratskeller gewesen«, erklärte Jan und warf noch einen Blick zu dem Kellerfenster, durch das jedoch nichts mehr zu erkennen war als das von einem fernen Lampenschein ein wenig erleuchtete nächtliche Dunkel und das Pflaster des Hofs.

Die Gefangenen aßen die Birnen zum Brot. Sie hatten seit Jahren kein frisches Obst mehr erhalten. Lange, beinahe vorsichtig, schmeckten sie den Saft auf der Zunge. Das Verlangen ihres Körpers nach der frischen Nahrung setzte sich in ein Wohlgefühl ihrer Nerven um, als sie das Begehrte schlucken konnten. Ihre Glieder und ihre Gedanken konnten sich entspannen. Es waren nicht nur der Duft des Brotes und die Süßigkeit der heimatlichen Frucht, was sie belebte. Sie empfanden, daß Menschen ihnen freundlich gesinnt waren, und konnten die harte Abwehrstellung ihres Empfindens für eine Stunde aufgeben. Sie fühlten sich gekräftigt und trotz ihrer elenden Lage in dem dunklen und verwanzten Raum auf eine bestimmte Art befriedigt. Es kamen ihnen wieder eher Worte, und ihre Bewegungen und Vorstellungen wurden lebhafter.

»Wenn die Verpflegung so weitergeht!« sagte Christoph und lächelte.

»Alle Achtung«, meinte Franz und ging mit einer Birne und einem Kanten Brot auf und ab. »Die sind hier in Ordnung.« Er lachte kurz. »Sogar der Herr Polizeimeister persönlich geht am Sonntagabend noch für uns zum Bäcker!«

Jan hatte die Arme auf die Knie gestützt und aß bedächtig.

»Komisch«, sprach Franz weiter. »Es ist eigentlich komisch – bei uns daheim … nee – hätte es das nicht gegeben. Bei euch hier … muß doch irgendwas anders sein in der Stimmung …«

 

Jan zerbiß das Kernhaus seiner Birne und aß auch noch den Stiel auf. Dann schaute er Franz von unten herauf aufmerksam an.

»Das ist eben Arbeit«, meinte er. »Es kommt auch auf die Arbeit an. Wir sind in der Hamburger Gegend hier. Das darfst du nicht vergessen.«

Franz zog die Brauen hoch. »Ihr habt wohl hier gar keine schlechte Gruppe gehabt?«

»Nee, das war gute Arbeit hier«, sagte Jan, mit Stolz und mit Trauer. Der Klang seiner Stimme hatte sich verändert. Er sprach seine einfachen Worte beinahe feierlich. »Siehst du, 1933 hatten wir hier 400 ›Nein‹-Stimmen gegen Hitler, aber 1934 waren es schon mehr als 800, die ›nein‹ sagten … Das ist es ja auch, was denen dann auf die Nerven gegangen ist.«

Franz wog die letzte Birne in der Hand. »Fast ein halbes Pfund, so ein Ding …« Er sagte das nur, um Zeit für seine Gedanken zu gewinnen. »Mehr als 800, das ist in dem Nest hier nicht schlecht …«, kam er dann auf das Thema zurück, das das Schicksal der drei gefangenen Männer geworden war. »Mehr als doppelt soviel in einem Jahr … schade … wie seid ihr denn nachher hochgegangen, Jan?«

»Na, du weißt ja, wie so etwas geht.« Jan machte eine Bewegung und legte dann die muskulösen Hände ineinander, als ob er irgend etwas nochmals abschließen müsse. Es war, als ob er nochmals das Unfaßbare fassen müsse, daß seine Kräfte wiederum gebunden, daß sie wieder nutzlos geworden waren. »Wie eben so etwas geht. Wir sind zu dreist geworden. Wir hatten so viel Freunde, daß wir schon eher legal als illegal gearbeitet haben. Das ist immer schlecht. Die Menschen werden zu leicht unvorsichtig. Jedenfalls, sie fingen den Paul ab, meinen Kurier, als er Material von Harburg dabei hatte, und dann … nun, was soll ich viel erzählen. Sie haben ihn fertiggemacht … geprügelt, bis er meinen Namen sagte …«

»Dir ist es ja nicht anders gegangen, Jan«, warf Christoph hin. »Du sollst ganz hübsch bunt ausgesehen haben, damals, als sie dich vernommen hatten … aber gesagt hast du nichts.«

»Tscha, ein Zimmermann hat harte Knochen, der spürt das mal nicht so … Du selbst hast ja übrigens auch den Mund gehalten, als der Kiesel dich ein paarmal geschlagen hat, bis du zusammengebrochen bist. Aber ich trag’ dem Paul nichts nach. Bloß der Henne … das war gemein heute.«

Draußen erlosch der Lichtschimmer.

Franz fing die erste Wanze, die sich von der schmutzigen Kellerdecke auf ihn herabgelassen hatte. Überall, an den Wänden, auf der Bank, am Fußboden fing es an, sich zu rühren.

Die Gefangenen hatten ihre Beschäftigung.

»Macht euch nicht soviel Arbeit«, sagte Jan. »In Celle werden wir geschoren und entlaust.«

Die Nacht ging mit wenigen Stunden erschöpften Ruhens vorüber. Die Gefangenen erfuhren am Morgen von dem Wachhabenden, daß sie in einigen Tagen mit dem Gefangenenwagen der Reichsbahn nach Celle transportiert werden sollten.

Die verwanzte Kellerzelle war auf die Dauer kein angenehmer Aufenthalt. Aber die Gefangenen erhielten außer der amtlichen Verpflegung regelmäßig ihr Obst und ihre belegten Brote. Einmal erschien das junge Mädchen, einmal erschien die Wirtin des Ratskellers selbst am vergitterten Fenster und steckte den dreien die Leckerbissen zu.

»Sag denen mal Bescheid«, meinte Christoph zu Jan. »Deine Mutter oder wen du sonst noch hier hast … die können dich doch jetzt leicht sprechen.«

Über Jans Züge ging ein dunkler Schatten. »Laß mal …«, antwortete er nur.

Franz und Christoph wußten, daß Jan niemals Briefe von zu Hause erhielt. Sie rührten die Frage nicht weiter an.

Zwölf Tage waren seit der Nacht vergangen, in der Jan, Christoph und Franz die Flucht aus dem Teufelsmoor gewagt hatten. Man hatte sie in das Zuchthaus Celle eingeliefert.

Es war Morgen. Aber das Licht des Septembertages fiel nur trübe in jene Zelle, in der sich Jan jetzt befand. Das kleine, hoch in der Wand angebrachte Fenster war vierfach vergittert. Die Gitter waren in die Mauer eingelassen.

Innerhalb der Zelle war eine besondere »Arrest«-Zelle durch ein starkes Gitter abgeteilt. In der Arrestzelle befand sich die Holzpritsche. Neben der Pritsche waren noch 50 Zentimeter Raum. Auf diesem Raum konnte der Gefangene stehen oder – in der Länge der Pritsche – gehen. Er konnte zwei lange Schritte von dem Kopfende der Pritsche zum Fußende hin und zwei Schritte in umgekehrter Richtung machen.

Jan nutzte die Möglichkeit, die ihm geblieben war, aus. Er ging zwei Schritte hin, zwei Schritte zurück, zwei Schritte hin, zwei Schritte zurück, Stunde um Stunde. Er rechnete dabei nach, wieviel Kilometer er auf diese Weise am Tage laufen konnte. Es kam eine stattliche Marschleistung heraus.

Der Direktor des Zuchthauses, Oberleutnant a. D. Marloh, hatte die drei »Ausbrecher« zu der Disziplinarstrafe von vier Wochen Arrest, verbunden mit »strengem Arrest«, verurteilt. Diese Zeit mußten Jan, Franz und Christoph isoliert in den engen Käfigen bei Wasser und Brot verbringen.

An jenem Morgen, an dem das milde Septemberlicht mit einem matten Schein zwischen die Gitter drang, hatte Jan das Brot, das er zum Frühstück erhielt, schon verzehrt und sich auf den »Marsch« begeben. Der leise Klang seiner eigenen Schritte hinderte ihn nicht, auf alle Geräusche außerhalb seiner Zelle aufmerksam zu lauschen.

Die Schritte, die auf dem Gang draußen zu vernehmen waren, stockten an der Tür zu Jans Zelle. Jan wußte, daß der Wachtmeister jetzt durch den »Spion« schaute, um das Verhalten des Gefangenen zu beobachten. Jan gab keinerlei Zeichen dafür, daß er etwas gehört habe oder etwas vermutete. Er lief unentwegt hin und her.

Der Schlüssel drang ins Schloß und drehte sich, das Schloß sprang auf, und die Tür wurde geöffnet.

Der Wachtmeister machte einem andern Platz, der mit ihm gekommen war. Der Wachtmeister machte diesem anderen in einer sehr respektvollen Weise Platz, wie es sich einem Wachtmeister dem Direktor des Zuchthauses und Oberleutnant a. D. gegenüber gebührte.

Marloh trat in Jans Zelle.

Jan war stehengeblieben und schaute Marloh an. Der Gefangene hatte weder die Schultern zurückgenommen noch die Hände, an der Hosennaht gestrafft. Er stand ruhig, gerade, natürlich, in der gleichen Haltung, die er gegenüber jedem Wachtmeister einzunehmen pflegte. Vielleicht war die Falte zwischen seinen Augenbrauen, die sich ihm schon als Kind eingeprägt hatte, in diesem Augenblick noch etwas schärfer und tiefer. Aber auch das hätten nur diejenigen sagen können, die Jan genau kannten.

»… itler«, sagte Marloh. Er wirkte dem Gefangenen gegenüber schmächtig. »Na – Gefangener Möller – was machen Sie?«

»Es geht mir gut«, antwortete Jan.

In Marlohs Augen blitzte etwas auf. Er hatte die Augen des preußischen Offiziers, Augen ohne tiefen Hintergrund, Augen, die das, was sie sahen, einteilten in Freund oder Feind, gefährlich oder nicht gefährlich. Seine Augen erschienen Jan wie schartige Messer.

Das ist der Mann, der die roten Matrosen betrogen und ermordet hat, dachte Jan. Das hat er vor siebzehn Jahren getan. Jetzt will er wieder morden. Aber betrügen kann er uns nicht mehr.

»So, es geht Ihnen gut«, schnarrte Marloh. Er schnarrte es leise, ohne Stimmaufwand, mit einem Unterton des Mißtrauens. Er wußte offenbar nicht recht, was er aus Jans Haltung und Sprechweise machen sollte. War dieser Gefangene dumm? Oder war er unverschämt? – »So, es geht Ihnen gut. Dann haben Sie also kein Heimweh?«

»Was soll ich dazu sagen?« erwiderte Jan ruhig. »Das Heimweh, das kommt und geht. Wachtmeister Vürmann pflegte uns zu erklären, daß das so ’ne Krankheit ist.«

»Ich hoffe, daß Sie diese Krankheit anders und besser zu heilen versuchen, als mit Meuterei. Sie kommen bei uns nicht mit dem Kopf durch die Wand! Je eher und je gründlicher Sie das einsehen, desto besser für Sie!«