Der siebenstufige Berg

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Auf der oft stundenlang leer liegenden Straße fuhr ein Wagen langsam vorbei, ein sehr alter Wagen; die Insassen waren ein indianisches Ehepaar mit drei Kindern.

Mahan ging nun doch zu Patricia und erinnerte sie leise an das Ende der Pause. Das Mädchen trug auch heute offenes Haar und die Kleidung, die wie eine Festkleidung wirkte. Sie nickte und wandte sich, um mit Mahan zusammen zurückzugehen.

Aus einiger Entfernung war das Geräusch eines zweiten Wagens zu hören, eines außerordentlich schnell fahrenden Wagens, der Motor summte.

Mit der Schnelligkeit eines flüchtenden Wildes wandte sich Patricia zu der Straße zurück und warf sich vor die Räder. Der Wagen wurde voll gebremst, die Reifen kreischten; das Fahrzeug geriet aus der Bahn, ehe es stand. Mahan, der schon bei Patricias schneller Wendung reagiert hatte und sie noch hatte fassen wollen, sprang herzu.

Das Rückgrat des Mädchens war gebrochen, der Brustkorb zerquetscht. Blut lief über die Straße.

Der Fahrer hatte den Wagen zurückgesetzt, war ausgestiegen und stand mit Mahan zusammen bei der Toten.

»Sie ist vor den Wagen gesprungen«, sagte er.

»Ich weiß.«

Der junge Mann wies Papiere vor. »Notieren Sie bitte. Ich muss weiter.«

Er reichte Mahan Papier und Kugelschreiber, und Hugh schrieb alles auf, Name, Adresse, Autonummer. Er schrieb absichtlich langsam, um abzuwarten, dass jemand herbeikäme.

Die Kinder standen unbeweglich auf dem Vorplatz der Schule. Endlich lief der blasse Lehrer zu Hugh.

»Mr Cargill«, bat Mahan, »rufen Sie sofort die Polizei an und verständigen Sie den Rektor. Der Fahrer hier wird so lange warten, auch wenn er es eilig hat.«

Cargill eilte zur Schule zurück und befahl dabei allen Kindern, sofort in das Schulhaus zu gehen. Auch Hanska und die Zwillinge mussten gehorchen.

In dem Augenblick, in dem Mahan und der Fremde allein waren, wollte dieser überraschend wieder in den Wagen einsteigen. Mahan packte ihn, aber der Fremde zog einen kleinen Ärmelrevolver und schoss. Mahans Griff wurde durch den Schuss, der den Arm getroffen hatte, gelockert. Der Fremde riss sich los, sprang in den Wagen zurück und startete mit Vollgas. Der Motor heulte. Als Rektor Snider entsetzt herbeieilte, war der Jaguar schon wieder verschwunden.

Zur gleichen Zeit wie Snider waren Ball und Warrior zur Stelle; Cargill war mit ihnen zurückgekommen.

»Stehen Sie nicht herum, sondern sperren Sie die Straße sofort ab«, ordnete der Rektor an.

Er sprach heiser, wie abgewürgt.

Warrior und Mahan stellten sich auf die Straße, um etwa herankommende Fahrzeuge von der Toten und von den Spuren abzuhalten.

Patricia lag noch da, mit dem Gesicht zur Erde, die Arme ausgebreitet. Das Blut hatte sich verlaufen und trocknete. Es konnte lange dauern, bis Polizei kam. Die 3. Tagesschule war weit entfernt von Agentursiedlung und Polizeistation. Man hatte sie an eine der wenigen Stellen gebaut, an der Wasser außerhalb der Agentursiedlung leicht zu erreichen war.

Zwei Haus- und Küchenarbeiter brachten Bretter und bauten eine behelfsmäßige Absperrung, setzten auch eine Warnfahne.

»Ich habe heute nachmittag keinen Unterricht, ich halte Wache«, bestimmte Ball. »Warrior und Cargill, begeben Sie sich sofort zu Ihren Schülern; der Unterricht läuft. Sobald die Polizei kommt, wird das Unglück geklärt. Und Sie, Mahan, gehen ins Krankenzimmer. Miss Hay muss jemanden finden, der Sie sofort ins Hospital fährt.«

»Es ist unwesentlich«, sagte Hugh mit einem abwertenden Blick auf seinen angesengten, durchbluteten Hemdsärmel. »Notverband, dann werde ich den Unterricht fortsetzen. Heute abend kommt der Arzt sowieso hierher.« Er ging ins Schulhaus.

Snider blieb bei Ball stehen. Bis jetzt hatte er kein weiteres Wort herausgebracht, aber es arbeitete in ihm.

Als der Nachmittagsunterricht schon beendet war, hatte sich noch immer kein Polizist gezeigt. Die Tagesschüler wurden in Gruppen zu den Schulbussen geführt, so dass sich keines der Kinder der Unglücksstelle nähern konnte, und die Busse fuhren die Kinder nach Hause. Der Sport für die Internatsschüler fiel aus, sie hatten in ihren Zimmern zu bleiben. Als der Vorplatz leer war, ließ Snider diejenigen Lehrer, Erzieher und Angestellten, die etwas gesehen hatten oder gesehen zu haben oder zu wissen glaubten, an Ort und Stelle rufen, auch seine Sekretärin zum Protokoll. »Cargill, was hat sich abgespielt?«

»Patricia Bighorn ging unerlaubterweise zur Straße. Mahan ging ihr nach und holte sie weg. Plötzlich machte sie kehrt und warf sich vor einen heranbrausenden Wagen.«

»Cargill, wissen Sie, was Sie sagen? Das wäre Selbstmord gewesen. Dafür fehlt ein Motiv. Patricia war eine gute Schülerin.«

»Es war Selbstmord, Mr Snider.«

»Ich halte es für einen Unglücksfall. Wer hatte die Aufsicht? Sie und Mahan. Fahrlässigkeit, sehr grobe Fahrlässigkeit, und Sie beide haben ein Disziplinarverfahren zu erwarten. Mahan, wie konnten Sie zusehen, dass das Mädchen an die Straße heranging, um dann zu spät und wirkungslos einzugreifen? Suchen Sie sich erst jemanden, der Ihnen glaubt, dass Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen nicht festhalten können, wenn Sie das wirklich wollen.«

Mahan hörte die heiser scharfe Stimme des Rektors, aber nur an der Oberfläche seines Bewusstseins. Er schaute unentwegt auf die Tote. Ihr Gesicht, zur Seite gewandt, war nicht entstellt. Sie lag da, so, wie sie es gewollt hatte. Hugh hatte schon mit Byron gesprochen, der durch den Schuss aufgeschreckt worden war. Als der Junge vom Tode Tishunka-wasit-wins erfahren hatte, war der merkwürdige Ausdruck der Ruhe nicht aus seinen Zügen gewichen. Er hatte nur gesagt: »Nun wandert sie den weiten Weg.«

Während Hugh Mahan mit seinen Gedanken abwesend war, hatte der Rektor weitergeforscht. Wer außer Cargill und Mahan hatte den Vorgang beobachtet?

Niemand außer einigen Kindern. Snider wollte von Aussagen indianischer Kinder nichts wissen. Es würde nur Ungewissheit und Verdruss damit geben. Er bedrängte aber Cargill und versuchte, ihn zu einer anderen Aussage zu bringen. Ein Unfall war es gewesen, ein Unfall, verursacht durch Versäumnis der Aufsichtspflicht. Vielleicht konnte Cargill sich aus der Schlinge ziehen, wenn er Sniders Absichten unterstützte. Ein Unfall, hervorgerufen durch das Versagen eines pädagogisch nicht ausgebildeten indianischen Erziehers, der dem Rektor wider seinen Willen zugeschoben worden war. Cargill hatte weit entfernt am Schultor gestanden – man konnte ihm geringere oder gar keine Schuld geben, wenn er den Vorgang verständlicherweise zu spät bemerkt hatte und daher auch nicht genau zu rekonstruieren vermochte. Aber der schmächtige und nervöse Mensch blieb wider alles Erwarten standhaft und wiederholte immer wieder, was er gesehen hatte.

Endlich rollte der Polizeijeep heran. Die beiden Indianerpolizisten in Uniform, ein großer und ein kleiner, sprangen ab, nahmen die Spuren auf und brachten die Tote in das Krankenzimmer der Schule. Dann wandten sie sich den Zeugen zu.

Rektor Snider machte einen weiteren Versuch, seine Theorie vom Unglücksfall gegen Cargills und Mahans Aussage durchzusetzen. Der große Polizist bemerkte dazu gar nichts, nahm aber das Protokoll an sich, das die Sekretärin angefertigt hatte. Er lächelte ein wenig, vielleicht sogar ein wenig ironisch. »Alles klar, Rektor Snider, für die Statistik wird es ein Unglücksfall. Niemand von Ihren Leuten ist schuld. Haben Sie gehört? Niemand. Keine Scherereien, kein Aufsehen. Haben Sie alle hier verstanden? Okay. Aber uns interessiert etwas anderes. Mahan! Wer war das, der auf Sie geschossen hat? Wir haben nur den Namen, und der kann falsch sein. Also, wie sah der Bursche aus?«

»Ein sehr junger Kerl. Bluejeans und schmutzige, feste Jacke. Einen halben Kopf kleiner als ich.«

»Also groß«, notierte der Polizist. »Sehr jung – weiter?«

»Mager, eingefallenes Gesicht. Braune Haare.«

»Sah also nicht wie der Eigentümer eines Jaguars aus?«

»Nein, das nicht.«

»Es könnte der gestohlene Wagen sein. Nummer gewechselt. Besondere Kennzeichen sind Ihnen nicht aufgefallen?«

»Eine Narbe an der Schläfe, wie von abgesplittertem Knochen.« Die beiden Polizisten sprangen fast in die Höhe. »Verdammt – verdammt … Er ist es gewesen. Der unverschämte Bursche – kommt mit dem gestohlenen Wagen zurück! Präsentiert seine falschen Papiere – er muss eine ganze Auswahl davon haben … Sie können von Glück sagen, Mahan, dass er Sie nicht einfach niedergeschossen hat, als Sie ihn festhalten wollten. Wo ist das Geschoss?«

Mahan holte es aus der Tasche. »Hier. Ich habe es aufgelesen. Es hatte durchgeschlagen. Mini-Revolver.«

Der Polizist besah den Hemdsärmel, der lose, halb abgeschnitten, neben dem laienhaft verbundenen Arm hing. Die Durchschussstelle war angesengt.

»Alles klar, Gangster fährt rücksichtslos Indianermädchen tot, schießt und begeht Fahrerflucht. Verstehen Sie, Mr Snider?«

»Ich verstehe.« Snider atmete auf.

»Das Miststück ist sowieso ein kaltblütiger Mörder. Er hat mit seinem Mulattenkumpan zusammen einen Gefängnisaufseher umgebracht, ein scheußlicher Racheakt. Vor der Hinrichtung sind die beiden ausgebrochen. Mehr oder weniger Schuld macht bei dem einen und bei dem andern nichts mehr aus. – Lassen Sie das Blut jetzt von der Straße wegwischen.«

Die Hausarbeiter nahmen die Absperrung fort. Mahan sah, wie Tishunka-wasit-wins Blut mit nassen Lappen fortgewischt wurde.

Fortgewischt.

»Wenn das dieser Doug Coles, der Mörder, war, so ist es sicher Kings gestohlener Wagen gewesen«, sagte der kleine Polizist. »Wir müssen zu King.«

»Das können Sie sich sparen. King ist schneller.«

 

Mahan, der sich von dem Gerede abgewandt und über die Straße und die Prärie geschaut hatte, behielt recht.

Der Jaguar kam zurück. King saß am Steuer, hielt bei der Gruppe und stieg aus.

»Wo ist die Tote?« fragte er.

»Beantworten Sie …«

»Ich antworte nicht, ehe ich die Tote nicht gesehen habe.«

Die beiden Polizisten schauten sich an, gaben nach und gingen mit Joe King in das Schulhaus zu dem Kranken- und Totenzimmer. Rektor Snider und die Gruppe seiner Lehrer und Angestellten begaben sich ebenfalls wieder zurück zur Schule.

Als Joe King die tote Patricia gesehen hatte und mit den beiden Polizisten in das Zimmer des Rektors kam, befanden sich dort außer Snider nur noch Ball, Mahan und Cargill.

»King«, begann der große Polizist, »wie sind Sie wieder zu Ihrem Wagen gekommen?«

»So merkwürdig wie einfach.« King ließ sich von seinen Empfindungen nichts anmerken. »Der Jaguar überholte auf der Straße unterhalb des Hangs, an dem mein Haus steht, einen Ford und stoppte ihn. Es war ein Dienstwagen des Bezirksbüros. Wenn mich meine Augen nicht betrogen haben, saß unsere Schulrätin am Steuer. Der Bursche ließ meinen Jaguar stehen, stieg in den Ford ein und fuhr damit weiter; die Schulrätin blieb am Steuer, solange ich den Wagen sehen konnte, und steigerte die Geschwindigkeit.«

»Die Schulrätin war heute an der 2. Tagesschule und wollte offenbar zurück zur Superintendentur«, erklärte Snider.

»Und was taten Sie, King?«

»Ich sprang hinunter, um mir meinen Jaguar wiederzuholen. Der Startschlüssel fehlte, den hatte der Bursche mitgenommen.«

»Sie haben drei Wagen.«

»Einen habe ich dieser Tage Bill Krause geliehen, meine Frau war mit dem anderen unterwegs. Nachdem die Kinder nach Hause gekommen waren und mir berichtet hatten, dass Patricia Selbstmord begangen hat, bin ich hierher gefahren.«

»Unglücksfall, Mr King. Sie wurde von dem Gangster rücksichtslos überfahren, von diesem Gangster, den Sie wiederum entkommen ließen.«

»Es war Selbstmord. Die Schüler können aussagen.«

»Ein Unglücksfall. Sie werden das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen nicht ändern, King.«

»Selbstmord«, sagte Mahan.

Snider war so erregt, dass er sich im Ton vergriff. »Sie halten den Mund, Mahan; Sie waren nicht gefragt.«

»Zeugenbeeinflussung unter Missbrauch der Dienstbefugnisse«, erwiderte Hugh sehr kurz.

Snider wurde dunkelrot.

Die Polizisten gingen über den Streit hinweg.

»King, als Sie hierher fuhren, hatten Sie auf einmal wieder einen Startschlüssel.«

»Den zweiten, der oben im Haus gelegen hat.«

»Sie haben vor dem Eintreffen der Kinder mindestens – aber mindestens! – zwei Stunden Zeit gehabt, den Ford mit ihrem Jaguar zu verfolgen, und so, wie Sie fahren, hätten Sie ihn auch eingeholt.«

»Mit erheblicher Geschwindigkeitsüberschreitung in einem blutbespritzten Wagen? Machen Sie keine Späße. Die Polizei hätte mich verfolgt, gestoppt und verhört, warum ich wohl in einem blutigen Jaguar, die Pistolen unter der Jacke, einen Dienstwagen jage. Der Vorsprung war dem Burschen nur um so sicherer.«

Der Polizist brach diese Diskussion ab.

»Was kann den Burschen veranlasst haben, King, mit dem gestohlenen Jaguar bei Ihnen vorzufahren?«

»Weiß ich es? Vielleicht wollte er Finderlohn kassieren. Dann kam ihm aus der Situation heraus der Gedanke, in den Dienstwagen umzusteigen, in dem er sich sicher fühlen konnte.«

»Sie kennen sich in Gangsterpsyche besser aus als wir.«

»Sollte umgekehrt sein. Wie hat sich Coles nach dem angeblichen Unfall verhalten?«

»Sonderbar.« Mahan schilderte den Vorgang.

»Also hat er die Nerven verloren«, urteilte King. »Er dreht durch. Immer auf der Flucht vor der Gaskammer, von den Gangs also doppelt abhängig und wahrscheinlich zu den schmutzigsten Risiken benutzt – das hält auch ein sehr junger und das Milieu gewohnter Mann auf die Dauer nicht aus. Vielleicht kalkuliert er die Hinrichtung ein. Es ist seine letzte Lebensfreude, die Polizei zu reizen.«

»Ungeziefer. Ausrotten«, sagte Snider.

»Zusammen mit dem Nährboden, auf dem es gedeiht.«

»Was meinen Sie damit, Mr King?«

»Nichts, was mich angeht. Ich bin Indianer.« King wandte sich wieder den Polizisten zu.

»Fotografieren Sie die Spuren an meinem Jaguar, ich habe sie zu diesem Zweck unangetastet gelassen. Und rufen Sie sofort die Agentur an und erkundigen Sie sich nach dem Ergehen der Schulrätin.«

»Sie brauchen uns keine Ratschläge zu geben, King.«

Trotz dieser unwirschen Abwehr beauftragte der große Polizist den anderen zu tun, was King vorgeschlagen hatte. Snider hielt sich an den zurückbleibenden Polizisten und entließ die übrigen Anwesenden, um sich ganz auf die Abstimmung des Berichts von Miss Bilkins mit dem Polizeibericht zu konzentrieren. Er machte noch einmal einen Versuch, Mahan zu belasten, aber der große Polizist wies ihn wiederum ab.

»Ihren Mahan können Sie ein andermal an den Ohren ziehen. Als Rektor sollte Ihnen das nicht schwerfallen. Im Augenblick ist aber das einzig Wichtige, dass kein Aufsehen entsteht. Sie müssen wissen, dass sich heute in der Agentursiedlung zwei ähnliche Vorgänge abgespielt haben. Zwei schulentlassene Jungen, die plötzlich hinter einer Straßenecke hervorsprangen, sind von einem Laster des Supermarkts überfahren worden. Deshalb sind wir auch so spät hierher gekommen. Seien Sie wachsam, Snider, die Selbstmordwelle könnte auch zu uns kommen.«

»Was für eine Selbstmord …welle?«

»Wir haben die Berichte der Behörde. Auf einer Reservation ist im letzten Jahr jeder fünfte Schulentlassene ums Leben gekommen.«

»Motiv?«

»Keine Unterlagen dafür. Die Herren sagen: Kluft zwischen Tradition und Zivilisation nicht überwunden. Also, Sie verstehen: kein Aufsehen, keine Presse, keine weitere Unruhe unter den Schülern und Lehrern. Ein Unfall. Schuld ist nur der Gangsterfahrer. Das allerdings müssen Sie Mahan und Cargill beibringen.«

»Ich verstehe.«

Der kleine Polizist hatte unterdessen mit der Agentur telefoniert. Die Rätin war zu Fuß, aber, abgesehen von einem trostlosen Nervenzustand, wohlbehalten auf der Superintendentur angekommen. Den Dienstwagen hatte man, leer und unbrauchbar gemacht, auf der Straße zwischen der Agentursiedlung und New City gefunden und ihn bereits sichergestellt.

»Und der Verbrecher?« fragte Snider.

»Verschwunden.«

Mahan war mit King in sein Zimmer gegangen, aber sie hatten Byron Wakiya nicht angetroffen und sich sofort auf die Suche gemacht. Da der Junge nirgends zu finden war und niemand ihn gesehen haben wollte, liefen sie endlich zu dem Krankenzimmer, in dem die Tote aufgebahrt lag. Das Zimmer sollte verschlossen sein, und es war auch tatsächlich verschlossen. Der Schlüssel steckte nicht im Schloss, auch nicht von innen. Von unruhigen Gedanken getrieben, rannten die beiden zum Wächter, in dessen Raum sich das Schlüsselbrett befand; der Schlüssel war fort. King winkte Mahan und holte dabei einen einfachen Dietrich aus einer seiner vielen Taschen. Sie liefen zum Totenzimmer zurück. King öffnete ohne Mühe, die beiden traten ein, Mahan zog die Tür leise hinter sich zu, und die beiden Männer blieben stumm stehen.

Das Tuch, das über die Tote gebreitet war, war aufgeschlagen. Das bleiche Gesicht, umrahmt von schwarzem Haar, war im Tode noch schöner als im Leben; gleichmäßig, still, herb, weit entfernt vom Getriebe des Tages. Wakiya kniete am Bett und hatte seine Wange auf die zerquetschte Brust des Mädchens gelegt. Er rührte sich nicht und schien die Eingetretenen nicht bemerkt zu haben. King ging zu ihm heran und wartete. Auch Mahan fürchtete, dass Wakiya tot sei, aber als der Pflegevater sich zu ihm beugte, vernahm man einen tief heraufgeholten Atemzug. Wakiya erhob sich langsam, sehr sacht legte er das Tuch wieder über Tishunka-wasit-win, so dass die Tote ganz bedeckt und ihm für immer verborgen war. Der Junge griff nach dem Türschlüssel, den er auf den Stuhl gelegt hatte, und gab ihn Mahan, der ihn dem Wächter brachte.

Als Hugh in das kahle Viererzimmer zurückkam, hatte sich Wakiya schon aufs Bett gelegt. Inya-he-yukan stand bei ihm. Das Licht war nicht angeschaltet. Menschen und Gegenstände blieben Schatten.

Hugh trat zu den beiden andern heran. Er hatte plötzlich das Gefühl, vor einem schweigenden Gericht zu stehen. »Eine Viertelsekunde schneller, und ich hätte Patricia packen und retten können«, sagte Hugh. »Fünf Minuten früher alles begriffen, und ich hätte sie hindern können, an den Straßenrand zu gehen. Ich bin schuld.«

Erst herrschte noch weiter Schweigen. Dann tastete die Hand des Jungen nach Hughs linker Hand. »Wasescha, Tishunka-wasit-win geht ihren weiten Weg. Verfolgst du sie mit deinen Gedanken, weil das letzte, was sie getan hat, Ungehorsam gegen dich war?«

»Ich verfolge mich selbst, Wakiya.«

»Das ist nicht gut. Bist du ein Christ?«

»Ich weiß nicht. Sie haben mich getauft.«

»Verstehst du unseren Sonnentanz?«

»Ich bin nicht hindurchgegangen.«

»Mein Vater Inya-he-yukan tat es.«

Der Mond war gewandert. Ein Lichtschimmer fiel schräg in das Zimmer über Wakiya, Inya-he-yukan und Wasescha hinweg in eine kahle Ecke.

»Manche Menschen sterben für sich allein, aber manche sterben für die anderen. Wasescha, verstehst du, was ich sage?«

»Ich verstehe dich, Wakiya. Vielleicht verstehe ich dich nicht ganz. Aber sie wollen Tishunka-wasit-win auch noch ihren Tod wegnehmen. Daran will ich sie hindern.«

»Sie können es nicht, Wasescha. Tishunka-wasit-win ist nicht für die Watschitschun gestorben. Sie ist für uns gestorben. Wir wissen es, die Sonne hat es gesehen, und Wakantanka weiß von ihr.«

Wakiyas Händedruck ließ langsam nach, er schien einzuschlafen. Über seine vom Mondlicht erhellten Züge breitete sich wiederum Ruhe, die gleiche Ruhe, die über Tishunka-wasit-wins Antlitz lag.

Inya-he-yukan legte seine Wange an das Gesicht Wakiyas. Der Atem ging regelmäßig.

Der Junge wurde noch einmal wach und schaute die beiden an, die an seinem Bett standen.

»Habt keine Furcht um mich, Inya-he-yukan und Wasescha. Ich tue es jetzt nicht, und ich werde nie etwas tun, worum ihr trauern müsstet. Gute Nacht.«

Als Wakiya wieder eingeschlafen war, gingen King und Mahan aus dem Zimmer. Beim Wächter erfuhren sie, dass der Hospitalarzt Eivie sein Kommen wegen einer dringenden nächtlichen Operation abgesagt habe.

Mahan erwartete, dass King sich verabschieden und gehen werde, aber Joe zögerte noch, ehe er das Haus verließ.

»Ihr Verband sitzt sehr schlecht, Mahan. Ich muss Sie mit meinem Wagen ins Hospital bringen. Oder darf ich selbst nach Ihrer Schusswunde sehen? Ein Rancher und ehemaliger Gangster kennt sich mit solchen Sachen besser aus als die Leute hier.«

Die beiden gingen in das Kranken- und Totenzimmer zurück. King war tatsächlich ein sachverständiger Wundarzt. Miss Hay war zu ungeübt und zu zaghaft gewesen. Der neue Verband saß.

Die beiden Männer standen noch einmal vor dem Totenbett Tishunka-wasit-wins. Sie ließen die Tote bedeckt; nur die Umrisse ihres jungen, zerstörten Körpers waren sichtbar. Inya-he-yukan und Wasescha wussten, dass sie davon Abschied nehmen mussten, aber der Tod Tishunka-wasit-wins blieb bei ihnen. Sie gelobten sich, was keiner aussprach, was aber ein jeder vom andern wusste.

Der Tag, an dem Patricia Bighorn aus dem Leben schied, war nach der Rechnung der weißen Männer die Mitte einer Woche. Für die Verwandten und die indianischen Freunde des Mädchens war und blieb es der Tag, an dem Tishunka-wasit-win gestorben war.

Eivie, der Hospitalarzt, kam, und nachdem er die Tote gesehen und alle Merkmale ihres Todes aufgenommen hatte, wurde sie den Eltern zur Bestattung freigegeben. Ihre Züge wirkten dem Leben nicht mehr so nahe wie noch am Abend zuvor. Der Körper war kalt, das Antlitz wurde fremd und den Lebenden schon ganz fern gerückt.

Dennoch war es, als ob ein Wirken von dem still gewordenen Mädchen ausgehe, und wer sie gekannt und von ihrem Tod erfahren hatte, konnte sich dem nicht entziehen, weder Freund noch Feind.

Die Schüler und selbst die Schulanfänger waren während des Unterrichts aufmerksamer als sonst, gespannt und mit allen Worten sehr sparsam. Es gab für die Lehrer und Erzieher kaum etwas zu loben, aber auch kaum etwas zu tadeln.

Als Miss Hay im Aufträge des Rektors die Sechzehnergruppe Mahans inspizierte, konnte sie nur feststellen, dass dort das Flaggengelöbnis weiter geübt wurde. Ihre Empfindungen blieben zwiespältig, denn sie musste sich eingestehen, dass sie etwas anderes erwartet und sich also getäuscht hatte, was niemand gern vor sich selbst zugibt; ihr dienstliches Gewissen aber war gezwungen, sich befriedigt zu fühlen. Es war der kleine Harry King, der sich ein einziges Mal versprochen hatte, als er dem Urtext gemäß aufsagte, er sei der Flagge treu und »der Republik«, für die sie stehe, anstatt, wie der Schultext lautete, »der Regierung«. Als Miss Hay ihn wohlwollend verbesserte, meldete er sich zu einer für einen Fünfjährigen erstaunlichen, vielleicht von den Eltern oder von den älteren Geschwistern eingegebenen Frage. Ob »unsere Regierung« und »unsere Republik« dasselbe seien. Miss Hay überließ Mahan die heikle Antwort. Er sagte: »Zurzeit.«

 

Miss Hay hatte Bedenken, wusste aber auch keine bessere Erklärung und hörte sich noch die mit Inbrunst im Chor gesprochenen Worte des Gelöbnisses an: »Liberty and Justice for all« – »Freiheit und Recht für alle«. Es war wohl das beste, wenn sie nun ging und einen guten Eindruck mitnahm, ohne ihn durch untergründige Ahnungen allzu sehr stören zu lassen. Mahan und die Kinder hatten sie so merkwürdig angeschaut. Sie war vor Mahan zum ersten Mal erschrocken.

In den Pausen herrschte Stille. Auch in der großen Mittagspause spielten die Schüler nicht, sondern fanden sich in Viererreihen zusammen, um rund um den Vorplatz zu gehen, so, wie es bei den indianischen Tänzen zu Ehren Verstorbener üblich war. Die Internatsschüler hatten auch heute keinen Sport. Sie holten sich Bücher. Während sie zu lesen schienen, dachten sie nach. Nur hin und wieder wurde ein Blatt ohne Geräusch umgeblättert, und der eine oder andere nahm die Hand vor den Mund; Mahan wusste dann, dass der Junge und das Mädchen mit dem Großen Geheimnis sprachen. Alle hatten das Gefühl, dass die Schüler die Erwachsenen beobachteten, doch stellte kein Schüler eine Frage zum Tode Patricias.

Zu Beginn des Unterrichts war in jeder Klasse angesagt worden, dass Patricia Bighorn überfahren worden sei, als sie am Schluss der Pause versuchte, über die Straße zu laufen, wozu sie keinen Anlass hatte und was den Schülern auch verboten war. Die Kinder schauten auf die Lehrer, die solche Worte sprachen, aber die Worte konnten nicht in sie eindringen; die Augen, die auf die Lehrer gerichtet waren, erschienen alle wie verglast.

Von der in sich gekehrten und unzugänglichen Ruhe und Schweigsamkeit der Kinder hoben sich ein Kommen und Gehen, Rufenlassen und Verabschieden und manches lautere Wort in den Räumen der Lehrerkonferenz und des Rektors um so mehr ab.

Mahan und Cargill wurden abwechselnd zum Rektor gerufen. Der Polizeichef selbst, ein weißer Mann, ließ sich sehen. Auch Miss Bilkins war um die Mittagszeit gekommen. Als die Schulbusse nachmittags die Kinder nach Hause brachten, fuhr auch die junge Dezernentin zur Agentursiedlung zurück und nahm Rektor Snider mit, um mit ihm zusammen ihren Bericht bei Chester Carr abzugeben.

Auf diese Weise war Lehrer Ball für einen Abend vor Sniders Wachsamkeit sicher. Er lud die beiden Erzieher Ron Warrior und Hugh Mahan in sein Haus ein. Die drei blieben unter sich, nahmen einen Whisky Soda, bereiteten aus Balls Vorräten, die im Kühlschrank zu finden waren, Toasts und brühten Tee auf. Die Küche war wie üblich nur durch eine halbhohe Wand von dem Essraum getrennt. Ball und die beiden Erzieher saßen um den runden Tisch.

Es wäre sinnlos gewesen, von etwas anderem zu reden als von dem, was aller Gedanken beschäftigte.

»Byron Bighorn wird weiter unsere Schule besuchen«, berichtete Ball. »Musste er von seinem fünften bis zu seinem zehnten Jahr als Epileptiker in unsere Schule gehen, damals sogar ohne Bus, den weiten Weg zu Fuß, so kann er es auch jetzt schaffen. Ja, so hat Doc Eivie entschieden. Er hat im Hospital jetzt keinen Platz für eine Kur frei. Für eine Woche darf Byron aber zu Hause bleiben.«

Ron Warrior nickte zweimal, einmal für sich, einmal für Hugh.

Da Ball keine weitere Antwort erhielt, fuhr er fort. »Wie sind Sie denn nun mit Snider und der Polizei verblieben, Mahan?«

Hugh zuckte nach seiner Gewohnheit die Achseln. »Unverändert.«

»Hat Patricia nicht einfach versucht, vor dem Wagen über die Straße zu rennen?«

»Sie hat sich vor den Wagen geworfen. Auch Eivies Befund lässt nur diese Lösung zu. Der Wagen hat sie nicht umgerissen. Dann wären ihre Lage und ihre Verletzungen andere gewesen.«

»Es wird Ärger geben«, sagte Warrior voraus. »Amerikanische Beamte werden immer streng gemaßregelt. Wissen Sie schon, was Sie machen wollen, wenn Sie die Stelle hier verlieren, Hugh?«

»Ron, haben Sie in Ihrem Leben immer etwas Brauchbares getan?«

»Nicht gerade. Kennen Sie meinen Lebenslauf noch immer nicht? In den Sümpfen Floridas geboren, arbeitslos, Koreakrieg, Dienst beim CIA in Ostasien, dort Lebewohl gesagt und gnadenweise zum Dienst in der Prärie bei den Vorschülern zugelassen. Vorläufig bin ich also hier, wo es mir ohne Snider noch besser gefallen würde. Meine Kinder sollen nicht in der Stadt aufwachsen.«

»Ist es wahr, dass Clyde Carr seit heute Ihr Gast ist?« erkundigte sich Ball.

»Wahr.«

»Sind Sie um weitere Sensationen besorgt?«

»Wieso? Clyde ist ein netter Kerl. Unbekannte Verfügungen des Herrn Vater und der Polizei gehen mich nichts an. Man kann mich ja informieren, wenn man will. Oder einen öffentlichen Aushang machen.«

»Öffentlicher Aushang! Sie machen mir Spaß, Warrior. Unsere Schule ist für Schwierigkeiten verrufen genug.«

»So ist es, Mr Ball. Ich fühle mich unter den Verrufenen wahrhaft wohl. Wäre allerdings schade, wenn wir Hugh verlieren sollten. Seine Gruppe braucht ihn.«

»Ich werde für Mahan tun, was ich kann. Aber unter den gegebenen Umständen vermag ich nicht viel mehr, als mich selbst auch noch verdächtig zu machen.«

»Snider muss man absetzen und die indianische Rektorin Holland zurückholen.«

»Bleiben Sie bei Sinnen, Warrior. Zurzeit fährt die Karre abwärts, irgendeinem Abgrund zu, ohne dass sie noch einer halten kann.«

In den frühen Abendstunden, in denen Ball und seine beiden Gäste zusammensaßen, brannte in der Agentursiedlung noch Licht in den Diensträumen des Superintendenten. Die aufeinanderfolgenden Sitzungen dort verlängerten sich weit über vier Uhr nachmittags hinaus, ein Alarmzeichen in dem sonst sehr korrekt abgemessenen Arbeitsablauf des Zwergkönigreichs der Reservation, derzeit regiert von Mr Chester Carr. Auf dem Parkplatz für Gäste standen zwei Wagen.

Eve Bilkins hatte Rektor Snider abgeschüttelt und sehnte sich nach der Möglichkeit, selbst ihr Herz auszuschütten. Doch ging sie nicht, wie sonst des Abends oft, zu ihrer Kollegin Carson oder in das gastliche Haus von Eivie, der von allen Doc genannt wurde, ohne es zu sein. Sie nahm die Einladung des Ehepaares Haverman an, in dessen Haus sie wohnte. Haverman, Dezernent für Wirtschaftsfragen der Reservation, war schwer herzleidend und so lange zur Kur gewesen, dass man schon mit seiner Pensionierung gerechnet hatte. Aber ebenso wie der gallenkranke Shaw und die seelisch oft enttäuschte Kate Carson wollte er auf seinem Posten weiter ausharren und hatte seinen jüngeren Vertreter Brown wieder vom Amtsstuhl vertrieben.

Haverman war immer diensttreu gewesen. Er hatte niemals oppositionelle Anwandlungen gehabt, und Eve fühlte sich bei ihm und seiner Frau heute sicherer als bei Kate. Die Drinks, die Mrs Haverman anrichten ließ, waren anregend, die Speisen abwechslungsreich und leicht verdaulich. Frau Haverman hatte eine zuverlässige und peinlich saubere Indianerin, Mrs Patton, Frau des indianischen Gärtners der Superintendentur, als Haushaltshilfe. Der zwölfjährige Junge des Ehepaars ging in die 3. Tagesschule und galt als ein braver Schüler.

Eve nickte Frau Patton freundlich zu, und diese dankte mit den Augen.