Two in Isolation

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Two in Isolation
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Table of Contents

Kid & Mom in Isolation

Über uns

Einleitung

Teil 1 Wie alles begann

Ein Baby und 11 Medikamente

Ein Baby und 11 Medikamente - TeilII

Wenn der Vollkornbrei ungesund ist

Elternabende

Wenn du dein Kind nicht impfen darfst

Keime, Viren und der Postbote

Schnupfen und Döner

Fast normal

Verlorene Eltern

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Horsti und die Keime

Gewitter

Wir fahren weg

Raus aus der Isolation

Babyzeit

Sommer, Sonne, Keime

Die Sterne am Brenner leuchten am hellsten

Teil 2 - Zurück aus der Isolation

Ärzte sind auch nur Menschen - Teil I

Ärzte sind auch nur Menschen - Teil II

Auf in den Kindergarten

Integrationsplatz

Ich bin eine Insel

Teil 3 - Wir lassen uns die Freude am Leben nicht nehmen

Heilpädagogik - normal, normal anders

Ärzte sind auch nur Menschen - Teil III

Wenn die Ängste beginnen, einen zu lähmen

Urlaub, was ist das?

Man gibt, was man kann

Die liebe Familie

Hat dein Kind ein Handycap oder erziehst du schon

Balkonien

Die liebe Familie - Teil II

Manchmal ist es ganz anders, als es aussieht

Was sollen denn die Leute denken?

Glückliche Kinder

Authentisch sein

Mündige Eltern und unnötige Kämpfe

Wo bleibt die Erholung?

Jeden Tag Karneval

Zurück in der Isolation

Und wie geht es den anderen?

Wo bleibt nun das Patentrezept?

Epilog

Kid und Mom in Isolation

Mein Sohn und ich leben in Isolation. Wir haben zwar uns (und das ist wunderbar!), aber der Rest des Lebens spielt sich draußen ab. Vor unserem Fenster, vor unserer Tür, ohne uns.

Die Welt da draußen, das sind die Anderen. Ich gehörte auch mal dazu. Das war davor. Das war auch nicht immer toll. Beispielsweise, wenn man in einer vollen U-Bahn eingequetscht, versuchte, noch pünktlich zu einem Termin zu kommen. Oder wenn schlecht gelaunte Bäckereifachangestellte einem mit einem schnippischen Kommentar den ganzen Tag vermiest haben. Oder wenn man sich auf der Geburtstagsfeier eines alten Freundes fragen musste, ob man jetzt allen Ernstes bis Mitternacht Gesprächen über Aktienkurse lauschen musste. Nein, das war auch nicht immer toll. Damals habe ich manchmal sogar freiwillig die Isolation gesucht. Und das ist das entscheidende Zauberwort: freiwillig. Unsere jetzige Isolation hat jedoch nichts mit freiem Willen zu tun.

Und jetzt ist nicht mehr davor. Jetzt ist danach. Oder besser: Jetzt ist mittendrin. Jetzt ist nach der Transplantation und mitten in der Immunsuppression. Und deshalb spielt sich unser Leben nur im ganz kleinen Rahmen ab. Hauptsächlich zu Hause, möglichst fern von sämtlichen Keimen und Viren. Denn jeder von ihnen kann für meinen Sohn lebensbedrohlich sein. D.h. kein Müttertreff, keine Fahrt mit der Trambahn, kein Restaurantbesuch, kein Spielplatz, kein Einkauf im Drogeriemarkt, kein Besuch von anderen Kindern.

The Kid, mein wunderbarer Sohn, ist jetzt 10 Monate alt, und ich versuche, ihm, trotz seiner Krankheit, ein möglichst normales Leben zu bieten. Das wird nicht einfach, doch ich hoffe, mit der Zeit wird es besser. Ich will nicht klagen. Vor einigen Monaten, als the Kid wochenlang auf der Intensivstation lag und wir täglich aufs Neue um sein Leben bangen mussten, war die Vorstellung, mit ihm zu Hause zu sein, das höchste Glück auf Erden. Und das ist es auch immer noch und wirklich und täglich.

Trotzdem ist unser Leben anders und irgendwie auch komplizierter als andere. Ich höre oft: „Die Zeit der Transplantation muss der Horror für Euch gewesen sein. Aber nun ist ja alles gut. Jetzt kann er ein normales Leben führen.“ Aber so einfach ist das nicht. Und weil ich mich nicht immer wieder aufs Neue erklären kann, weil es so viele Kleinigkeiten sind, die unser Leben anders machen, erzähle ich, schreibe ich und beschreibe in diesem Blog unser Leben. Weil wir isoliert sind und sich das Leben irgendwo da draußen fern von uns abspielt und wir nicht daran teilhaben können, habe ich beschlossen, wenigstens einen Teil von unserem Alltag nach draußen zu tragen.

Wir sind zwar isoliert, aber wir sind trotzdem da. Und vielleicht hilft unser Blog ja auch ein bisschen, zu verstehen…

Über uns

Ich lebe mit meinem Sohn, the Kid, in München. Als Biologin habe ich früher mit Tieren gearbeitet (hauptsächlich Hunden, aber auch Luchsen, Vögeln und Affen), ihr Verhalten erforscht und ihnen bei Problemen geholfen. Ich habe Ratgeber und Fachartikel geschrieben, war tagelang in der Natur unterwegs, monatelang in fremden Ländern, und habe Interessierten ihre Besonderheiten erklärt.

Seit the Kid da ist, besser: seit seine Krankheit in unser Leben getreten ist, habe ich keine Zeit mehr, bei Wind und Wetter durch die Natur zu stapfen, aber auch nicht, mich stundenlang hinter meinem Schreibtisch zu verschanzen und mich Forschungsarbeiten zu widmen. Meine Gedanken wandern einfach immer wieder zurück zu „unserem Thema“, vor allem wenn mich dieses bezaubernde, kleine, zahnlose Wesen durch die Gitterstäbchen seines Laufställchens anlacht und Mamas Aufmerksamkeit einfordert.

The Kids Erkrankung ist auch eine Laune der Natur, wenn man so will. Ca. eines von 15 000 Neugeborenen hat diese Form der Gallengangsatresie, bei der die Gallenflüssigkeit nicht abfließen kann, und die Leber sich innerhalb kurzer Zeit selbst vergiftet. Was zur Folge hat, dass den Kindern früher oder später eine Lebertransplantation blüht. Bei uns war es früher.

The Kid hat seine neue Leber, seit er drei Monate alt ist. Und seitdem ist nichts mehr wie es war. Denn ein neues Organ zu haben, bedeutet nicht automatisch, dass jetzt alles gut ist.

Wenn ich nun also zwischen Spielen, Kuscheln, Trösten, Waschen, Wickeln, Putzen, Wischen, Desinfizieren, Vaporisieren, Arztterminen und 'Sorgen machen' einmal 10 Minuten Zeit finde, dann schnappe ich mir meinen Laptop und schreibe über unser wunderbares, anstrengendes, beängstigendes, manchmal einfach nur komisches, etwas anderes Leben, das viel zu oft zwischen Angst und Hoffnung schwankt. Wie sagt man so schön: Wenn es nicht zum Weinen wäre, wäre es zum Lachen oder auch umgekehrt.

Einleitung

 

Der Tag, an dem mein drei Monate alter Sohn völlig unvermittelt in die Klinik kam, hat unser gesamtes Leben verändert. Und dennoch sind wir dankbar, dass wir lebend da raus gekommen sind. Trotzdem begleitet uns die Angst seitdem. Hauptsächlich mich. Denn ich versuche natürlich, meinem Kind ganz viel Hoffnung und Mut zu schenken. Im Alltag geht das meistens. Wenn es mal wieder kritisch wird, ist das Ganze für mich eine Bewährungsprobe.

Anfangs war da nur der Versuch, überhaupt wahrzunehmen, wo wir jetzt stehen, es zu schaffen, zu überleben. Und ich dachte damals noch, dass es mit der Zeit leichter wird.

Dann fing ich an, über unseren Alltag zu schreiben, den Alltag in einer besonderen Situation und den Versuch, der Außenwelt ein wenig ein Gefühl dafür zu geben, wie es ist, ein Leben im Schatten einer chronischen, lebensbedrohlichen Welt zu führen.

Ich begann zu bloggen und das Feedback war erstaunlich, vor allem, weil ich merkte, es geht nicht nur uns so.

Tatsächlich gibt es Familien mit Kindern, die unter einer chronischen Krankheit oder Behinderung leiden. Die Lobby für diese Familien ist klein. Es gibt kaum Hilfe und Unterstützung und die meisten Eltern werden zwangsläufig in eine Ecke gedrängt, wo sie sich allein gelassen fühlen. Man fühlt sich isoliert von der Welt da draußen, nicht nur, wenn das Kind, wie meines unter Immunschwäche leidet und deshalb tatsächlich oft isoliert ist. Es ist auch das Nicht-gesehen-werden, das fehlende Verständnis, und vielleicht auch eine gewisse Hemmung, die die normalen Menschen von uns trennt.

Oft war es dieses „Nicht-gesehen-werden“, das alles noch viel schwerer gemacht hat, mit dieser bedrohlichen Situation umzugehen.

Je ausgeschlossener ich mich fühlte, umso schwerer wurde die Last. Und dann las ich einem Forum den Spruch: Wir lassen uns durch die Krankheit die Freude am Leben nicht nehmen.

Mein Sohn und ich sind nicht die einzigen, die in einer solchen Situation leben. Alleine mit seiner Erkrankung wird eines von 15 000 Kindern geboren. Das bedeutet jährlich erkranken 35-40 Kinder an der Gallengangsatresie. Das ist nicht viel. Doch für jeden einzelnen Betroffenen, die Welt.

Manche kommen besser damit zurecht. Der Verlauf ist einigermaßen harmlos, für andere bedeutet es das Ende. Ich habe in den 5 Jahren seit der Geburt meines Sohnes viele erlebt, bei denen alles viel einfacher lief, aber auch mindestens genauso viele, bei denen alles viel schlimmer war.

Manche hatten Familie oder Freunde, die sie unterstützten, Geld macht es auch sehr viel einfacher, andere mussten alles mit sich alleine ausmachen. Viele Ehen sind an den Erkrankungen ihrer Kinder zerbrochen, oder an den Begleitumständen, andere wiederum hat es zusammengeschweißt und sie haben trotz aller Widrigkeiten ihre Familie mit weiterem Nachwuchs noch vergrößert.

Unsere Geschichte steht stellvertretend für viele andere Familien mit Kindern, die eine chronische oder lebensbedrohliche Erkrankung haben.

Ihnen allen ist gemein, dass das Ganze nicht spurlos an ihnen vorüber gezogen ist.

Manche schaffen es trotzdem, ihr Leben zu genießen. Wie schafft man das, wenn die Angst immer dabei ist? Es gibt so viele unterschiedliche Widrigkeiten, die einem das Leben schwer machen können. Krankheiten oder Behinderungen, Verlust, Hass, schmerzhafte Entscheidungen, Kriege, Existenzängste, Trauer. Jeder kann in Situationen kommen, die ihm die Lebensfreude nehmen.

Ich habe in den vergangenen Jahren versucht, eine Lösung zu finden, das Leben wieder zu spüren, nicht nur mit seinem Leid, sondern auch mit seinem Glück und der Lebensfreude.

Teil 1

Wie alles begann

Mein Bruder, der im fernen Kanada lebt und für den ich ursprünglich mit dem Schildern unserer Situation begonnen habe, schlug mir vor einiger Zeit vor, zu beschreiben, wie alles begann. Ich habe lange darüber nachgedacht. Schließlich wäre es meinen LeserInnen gegenüber nur fair, etwas Genaueres über unsere Situation zu erfahren. Ich habe wirklich lange darüber nachgedacht und mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber ich kann nicht darüber erzählen. Noch nicht.

Es fehlen mir die Worte, um zu beschreiben wie es ist, wochenlang in der Klinik zu sein. Jeden Morgen aufs Neue beim Aufwachen nicht zu wissen, ob dein Kind den Tag überlebt. Jeden Tag aufs Neue mit Todesangst zu beginnen. Noch bevor man aus dem Bett steigt, bevor man die Augen öffnet, zu spüren, wie die Angst sich von der Wirbelsäule aus den ganzen Körper entlang frisst und alles lähmt, was Hoffnung ist, oder Leben, oder sich echt anfühlt. Ich kann und möchte das nicht beschreiben.

Deshalb alles nur in ein paar kurzen Worten: Als mein vermeintlich gesunder Sohn zwei Monate alt war, verstärkte sich eines Abends mein ungutes Gefühl (das schon vorher immer wieder mal aufgeflammt, aber von Kinderärzten und Hebammen als übertrieben abgetan worden war) so sehr, dass ich mitten in der Nacht in die Notaufnahme fuhr. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass wir die nächsten drei Monate nicht mehr unser Zuhause betreten würden.

Innere Blutungen, Notoperation, vier Tage Bangen, Diagnose: Leberschaden. Transport in eine Spezialklinik in einer anderen Stadt, weitere OPs, Diagnose: Gallengangsatresie, seltene Erkrankung, 1 von 15 000 Kindern, Ursache unbekannt. Weitere Operationen, die Leber war jedoch schon zu sehr zerstört. Keine Zeit, auf ein Organ zu warten. Sechs Wochen später Lebertransplantation.

Glück im Unglück: Ich konnte einen Teil meiner Leber spenden. Ob ich keine Angst hatte? Oh doch. Ich habe mein Testament geschrieben, Abschiedsbriefe. Aber dann musste es auch gut sein. Hätte ich die Angst um mein eigenes Leben zugelassen, das einer erwachsenen, gesunden Frau, dann wäre die Angst um meinen Sohn, der drei Monate alt war, bereits sechs Operationen hinter sich hatte und schwer krank war, ins Unerträgliche gewachsen. Dabei war sie doch schon nicht mehr erträglich. Insgesamt sechs Wochen Intensivstation, ein Baby das Tag und Nacht vor Schmerzen weint. Aber er hat die Leber bisher angenommen. Kein Wunder, sag ich immer. Sie war ja noch drei Monate zuvor sein Dach in seiner Wohnung in meinem Bauch gewesen.

Was wir durchgemacht haben, wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Und doch hat es sich gelohnt, und für den Moment ist es gut. Das haben wir in der Klinik gelernt: Sich für den Augenblick freuen, die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn die Angst tief drinnen immer präsent und das Glück ganz schön zerbrechlich ist.

Ein Baby und 11 Medikamente

Man kommt mit ihnen nicht aus, aber ohne sie erst recht nicht. Sie sind lebensnotwendig, ohne sie kann es zur Abstoßung des Organs kommen, um das man solange gekämpft hat. Und gleichzeitig, das kann jede Mutter nachvollziehen, widerstrebt es einem, sein Kind mit so viel Chemie vollzupumpen. Das Verhältnis zu den Medikamenten ist furchtbar ambivalent.

Es gibt für alles Mögliche Medikamente, und gegen die Nebenwirkungen Gegenmedikamente, die auch wieder Nebenwirkungen haben. Es gibt ein Mittel, um den Gallenfluss in Gang zu halten, Aspirin zur Blutverdünnung, ein Mittel zur Wasserausscheidung, Cortison, Vitamine und natürlich die Immunsuppressiva, die das Immunsystem unterdrücken, damit es das neue Organ nicht bekämpft. Und die entsprechend die Abwehrkraft so schwächen, dass the Kid auch zweimal am Tag prophylaktisch Antibiotika nehmen muss, da der kleine Organismus durch das künstlich geschwächte Immunsystem auch von normalerweise harmlosen Keimen bedroht wird.

Ich darf gar nicht daran denken, wie ich in Panik geraten bin, als ich während der Stillzeit drei Tage Antibiotika nehmen musste und Angst hatte, dass der Kleine etwas davon abbekommen könnte. Damals war er sogar noch offiziell ein ganz normales, gesundes Kind. Wenn ich mich also zu oft daran erinnern würde, dann müsste ich bei jeder Antibiotikagabe schier durchdrehen. Und das zweimal täglich, für mindestens ein Jahr.

Andererseits kann ich froh sein, dass genau dieses Antibiotikum mit auf dem Medikamentenplan steht, denn es scheint zuckersüß zu sein. Also wird es als Belohnung verwendet. Jedes Mal als abschließende Belohnung nach der ganzen bitteren Medizin. The Kid spitzt dann sein kleines Mündchen voller Erwartung zu einem kleinem Schnäbelchen, wie ein Küken, das auf die Fütterung wartet.

Ich setze mich also zweimal täglich hin und ziehe die Medikamente babygerecht auf Spritzen. Nachbarn, die mich durch das Fenster beobachten, denken wahrscheinlich die schlimmsten Dinge, wenn ich meine Gummihandschuhe überziehe und meine kleine Fläschchen- und Tablettensammlung hervorhole.

Nein, das mit den Gummihandschuhen ist eine Lüge. Nicht mal eine Woche habe ich durchgehalten, nachdem wir aus der Klinik nach Hause kamen. Dabei wurden wir Eltern in der Klinik strikt davor gewarnt, das Immunsuppressivum an unsere Haut zu lassen. Viel zu gefährlich, hieß es. Wir Mütter reagierten geschockt. Wie sollten wir unserem Kind etwas oral verabreichen, was schon auf der Haut so gefährlich sein soll. Die Antwort der Schwestern lautete: „Auf der Haut ist es gefährlicher als innerlich.“

Ähem. Ja. Liebe Krankenschwestern, es ist ja süß, dass Ihr uns beruhigen wollt. Aber selbst Müttern, die nie Biologie studiert haben, leuchtet ein, dass das so nicht stimmen kann. Aber, bis auf die Tatsache, dass wir die Handschuhe weglassen und einfach sehr vorsichtig sind, hinterfragen wir es nicht. Es hat keinen Sinn. Unsere Kinder müssen die Giftcocktails schlucken. Und zwar regelmäßig, um zu überleben. Ich werde den Tag nie vergessen, an dem wir Mütter in der Elternküche der Kinderstation saßen und uns geschworen haben, die Beipackzettel nie zu lesen. Es würde uns wahnsinnig machen. Aber wir werden gebraucht, bei klarem Verstand…

Ein Baby und 11 Medikamente – Teil II

Auf was Mütter so alles stolz sein können. Ich war so glücklich und stolz, als the Kid endlich seine Medikamente bei sich behielt, ohne sich übergeben zu müssen. In der Klinik konnte man pünktlich zur „Medi“-Zeit überall auf den Gängen Mütter mit schreienden Babies beobachten, bewaffnet mit kleinen Spritzen und jeder Menge Spucktüchern. Zehn Minuten später waren die Spucktücher nass, ebenso wie die schweißgebadeten Mütter und die erschöpften Babies, die kaum mehr als die Hälfte der Medikamente bei sich behalten hatten. Aber irgendwann klappte es dann bei den meisten doch, und das bedeutete, die Entlassung war nah. Wenn nicht wieder irgendetwas Unvorhergesehenes eintraf.

Irgendwie dachte ich, wenn es einmal mit den Medis klappt, dann immer. Doch nun zahnt the Kid. Bei der allmorgendlichen Cortison-Tablette oder der abendlichen Aspirin-Tablette, schön in Wasser aufgelöst und mittlerweile als winziges babygerechtes Schlückchen verabreicht, hat the Kid plötzlich keine Lust mehr. Vier Monate hat er sie brav eingenommen, doch nun, durch die wunderbare Spuckeproduktion – dem Zahnen sei Dank – lässt sich die Tablette wieder wunderbar ausspucken. Mit gutem Zureden und bestimmender Hand ist es eigentlich kein Problem, ihm die Medis zu verabreichen. Er öffnet brav sein Mündchen, schließt es, ich atme erleichtert aus und… schwupp, kommt ein großer Schwall Spucke samt aller Medis wieder raus. Dieser Schwall ist viel größer als das kleine Schlückchen, dass ich ihm gegeben habe.

Ich habe mittlerweile die Vermutung, dass the Kid, sobald es die Spritze erblickt, bisher unbekannte Speicheldrüsen aktiviert, um genug Spucke zu sammeln, damit auch ja alles wieder heraus geschwemmt wird. Es ist mir wirklich ein Rätsel woher diese ganze Flüssigkeit stammt. Das wäre ein Thema über das ich, wenn ich Zeit hätte, meine Doktorarbeit schreiben könnte. Aber die Zeit habe ich nun mal nicht. Stattdessen schlucke ich als gutes Vorbild jeden Morgen aus einer Spritze Wasser, um the Kid zu motivieren, es mir nachzumachen. Und oh Wunder, er macht es mir nach, öffnet den Mund und schluckt sogar. Ich greife erleichtert zur Belohnungsspritze. In dem Augenblick fängt the Kid an zu lachen und ein Schwall Spucke samt weißer Tablettenkrümmel läuft heraus.

Wie kann ein so kleines Baby, das noch kein Wort sprechen kann, sich nur so ausgetüftelte Tricks ausdenken? Vortäuschen, dass er alles herunterschluckt um dann, sobald die Mutter sich in Sicherheit wähnt, alles wieder auszuspucken. The Kid muss hochbegabt sein, es gibt einfach keine andere Erklärung. Na also, das ist doch ein Grund stolz zu sein. Nur leider bringt uns das nichts. Eine gesunde Leber ist nun mal wichtiger als intellektuelle Fähigkeiten. Zumindest in dem Alter.

 

Statt mich also auf die Suche nach Förderstellen für hochbegabte Säuglinge zu machen, werde ich morgen mal in der Klinik anrufen. Immerhin müsste es ja eine winzige Chance geben, dass die Krankenschwestern wieder behaupten, die Medikamente würden auf der Haut stärker wirken als oral. Dann könnte ich ihm seine Medikamente auf das Kinn streichen. Oder besser noch, auf die Fußsohle, in der Hoffnung, dass die nächste Sabberattacke nicht bis dorthin reicht. Was für eine schöne Vorstellung!

Aber letztlich wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als meinen Schwur zu brechen und doch einen Blick in den Beipackzettel zu werfen. Nur fürchte ich, dass ich auf der Suche nach alternativen Darreichungsformen auch alle Nebenwirkungen durchlesen werde. Vielleicht löst sich ja dann auch das Rätsel mit den genialen intellektuellen Fähigkeiten.