Resilienz

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Wollen wir die Folgen negativer, schädlicher oder traumatischer Erfahrungen rückgängig machen, ist wenig und oft die Devise, das heißt jeweils nur mit einem kleinen Teil der Erinnerung zu arbeiten. Wir machen kleine Schritte, damit das Gehirn nicht überwältigt oder von Neuem traumatisiert wird. Die Praxis von wenig und oft erlaubt es uns nicht nur, zu lernen und das neu Erlernte am besten zu untermauern, sondern sie hilft uns auch dabei, nutzlose Muster zu verlernen und neue Muster wirksamer zu etablieren.

2. Sicherheit initiiert Neuroplastizität

Die Notwendigkeit für Resilienz entsteht zunächst, weil wir auf etwas Neues oder Unbekanntes stoßen, ein Problem oder eine Gefahr, eine Herausforderung oder eine Krise. Wir entwickeln unsere Fähigkeit zur Resilienz jedes Mal dann, wenn wir uns erfolgreich mit diesen unbekannten Faktoren beschäftigen, das Problem lösen oder auf der anderen Seite einer Krise oder eines Traumas wieder auftauchen. Aber das Gehirn braucht auch eine Wahrnehmung (Neurozeption) von innerer Sicherheit, um die Neuroplastizität zu initiieren, die für alles Lernen und Neuverdrahten zuständig ist.24 Ein entspanntes Gehirn nimmt besser wahr und integriert das, was es aus Erfahrungen lernt, leichter als ein angespanntes, kontrahiertes Gehirn, das eng auf Überleben eingestellt ist.

In Kapitel 2 werden Sie mehr über das natürliche physiologische Gleichgewicht des Gehirns erfahren und wie Sie damit kompetent arbeiten. Ruhig und entspannt und dabei gleichzeitig aktiv und wachsam zu sein ermöglicht es dem Gehirn – Ihnen –, jeder Aufregung, Störung, potenziellen Gefahr oder lebensbedrohlichen Situation kompetent zu begegnen. Sie bleiben in Ihrer Mitte, im Gleichgewicht, bewusst gegenwärtig für die Erfahrung, Sie sind in der Lage, ruhig zu bleiben und fortzufahren.

Dieses natürliche Gleichgewicht des Gehirns wird in der Psychotherapie als Resilienzbandbreite und in der Traumatherapie als Toleranzfenster bezeichnet. In der buddhistischen Tradition gibt es ein ähnliches Konzept und wird dort Gleichmut genannt – als die Fähigkeit, den Tumult des Lebens mit ruhigen Augen zu betrachten. Und es gibt eine Geschichte aus dieser Tradition, die die Potenz dieser Art der inneren Sicherheitszone veranschaulicht.

Ein buddhistischer Meister und seine Anhänger meditierten in einem Tempel, als ein Bandit mit seiner Bande, die die umliegenden Dörfer in Angst und Schrecken versetzte, hereinstürmte. Die Mönche flüchteten, aber der Meister fuhr still mit seiner Kontemplationspraxis fort. Außer sich vor Wut, dass der Meister nicht reagierte, zog der Bandit sein Schwert, hob es bis über den Kopf und schrie: »Verstehst du denn nicht? Ich könnte dich mit diesem Schwert durchbohren und dabei noch nicht einmal mit der Wimper zucken!« Der Meister erwiderte ruhig: »Verstehst du denn nicht? Ich könnte mit diesem Schwert von dir durchbohrt werden und dabei noch nicht einmal mit der Wimper zucken.« Der Bandit war durch den Gleichmut des Meisters so verunsichert, dass er mit seiner Bande umkehrte und floh. Er ward nie mehr gesehen.

Das ist ein sehr hoher Maßstab, was das Bewahren von Ruhe angesichts von Gefahr anbelangt, aber Sie verstehen, was ich meine. Zu lernen, diese Art von Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, erlaubt es Ihnen, sich potenziellen Katastrophen ganz und gar zu stellen, ohne in Ihre automatischen Überlebensreaktionen von Kampf, Flucht, Erstarren oder Zusammenbruch zu fallen.

3. Positive Emotionen schalten Gehirnfunktionen um

Sämtliche Emotionen, negative und positive, sind starke Signale des Körpers an das Gehirn, die sagen: »Achtung! Es passiert gerade etwas Wichtiges!« Kapitel 3 stellt Werkzeuge vor, mit deren Hilfe Sie das Auf und Ab selbst der schwierigsten, manche würden sogar sagen destruktiven Emotionen bewältigen, damit diese Emotionen Sie eher informieren und motivieren, statt Sie zu überwältigen oder sich Ihrer vollständig bemächtigen. Sie werden auch lernen, wie Sie gewohnheitsmäßige Reaktionen neu verdrahten können, wenn solche negativen Emotionen an die Oberfläche gelangen.

Aber zuerst sehen wir uns an, wie die Macht der positiven Emotionen die Funktionsweise des Gehirns aus Kontraktion und Reaktivität heraus und in mehr Offenheit, Empfänglichkeit und Optimismus hinein umschalten kann. Das direkte, messbare Ergebnis von Ursache und Wirkung dieser Umschaltung ist größere Resilienz. Sie lernen, positive Emotionen wie Dankbarkeit, Ehrfurcht und Freude zu kultivieren, nicht nur, um Ihre Stimmung zu verbessern und sich selber besser zu fühlen, sondern auch um es Ihrem Gehirn zu ermöglichen, besser zu arbeiten und klüger und kompetenter in all Ihren Interaktionen zu sein.

4 Resonante Beziehungen vermitteln uns neue Strategien

Von einem anderen Menschen wirklich gesehen, verstanden, akzeptiert und bestätigt zu werden als der Mensch, der wir wirklich sind, hilft uns sehr dabei, uns selber zu verstehen, zu akzeptieren, zu bestätigen und wertzuschätzen als der Mensch, der wir sind. Es hilft uns, eine innere sichere Resilienzgrundlage aufzubauen, die unerlässlich für unser Zurechtfinden in der Welt mit Ruhe, Mut und Kompetenz sind. Es erlaubt uns, anderen als Zuflucht und als Ressource für unsere Resilienz zu vertrauen.

Vielleicht konnten Sie diese Wertschätzung nicht früh genug erleben oder ihr vertrauen. Fast der Hälfte von uns geht es so.25 Vielleicht zeigen Sie immer noch Muster des Misstrauens (gegenüber sich selber und anderen) aus der Kindheit, Muster, die durch wiederholte Erfahrungen von Verletzung, Verrat, Vernachlässigung, Verlassen-Werden, Zurückweisung und Kritik verstärkt werden. Kapitel 4 und 5 geben Ihnen einen Einblick in viele Werkzeuge und Techniken, um diese Muster aufzulösen und neu zu verdrahten, damit Sie dieses Vertrauen wieder vollständig zurückgewinnen. Sie werden Sie darin unterstützen, Ihre interpersonellen Fähigkeiten zu erweitern, wie um Hilfe zu bitten, Veränderungen auszuhandeln und Grenzen zu setzen. Diese Fähigkeiten, sowohl intime als auch soziale Beziehungen aufzubauen, sind eine grundlegende Quelle des Wohlbefindens und der Unterstützung Ihrer Resilienz.

In ihrem Buch Macht der Liebe: Ein neuer Blick auf das größte Gefühl zeigt uns Barbara Fredrickson, die Pionierin der Positiven Psychologie, wie sich das Fundament für resonante Beziehungen entwickelt.26 Sind sich zwei Menschen körperlich nahe, haben Blickkontakt, teilen positive Emotionen (Güte, Heiterkeit, Freude) und das Gefühl der gegenseitigen Fürsorge und Sorge miteinander, dann fangen ihre Gehirnwellen an, sich aufeinander abzustimmen, sich widerzuspiegeln und das Gefühl von Resonanz zu schaffen, das ich als Vertrauen bezeichne und sie Liebe nennt.

Diese neuronale Synchronie wird vermutlich durch die Freigabe von Oxytocin angetrieben, dem Hormon der Sicherheit und des Vertrauens, über das ich mehr in Kapitel 2 berichte. Oxytocin bringt Sie in jene Sicherheitszone, in der optimale Bedingungen für Neuroplastizität und damit für Lernen und Wachstum herrschen. Wir werden uns anschauen, wo es möglich ist, solche Momente der Beziehungsresonanz oder neuronalen Synchronie zu kreieren – mit Eltern oder Elternfiguren, Geschwistern, Freunden, Lehrerinnen, Coaches, Therapeutinnen, Lebensgefährten, Ehepartnerinnen, Selbsthilfe- oder Therapiegruppen –, damit Resilienz in Ihrer Psyche und in Ihrem Gehirn Wurzeln schlägt.

5. Bewusste Reflexion hilft uns, klarzusehen und kluge Entscheidungen zu treffen

Das Gehirn verarbeitet Erfahrungen ohne die Beteiligung des bewussten Gewahrseins. Traumatisierende Erfahrungen sind sehr häufig als implizite somatische Erinnerungen in die neuronalen Schaltkreise der betroffenen Person codiert. Sie stammen aus einer Zeit, in der die Person zu jung war, um bewusste Erinnerungen an bestimmte Situationen und Ereignisse zu formen. Aber die gleiche unbewusste Verarbeitung kann mit positiven oder neutralen Erfahrungen stattfinden. Das Gehirn tut das die ganze Zeit über. Ihre tägliche Pendelstrecke kann so tief in Ihrem Gehirn codiert sein, dass Sie im Autopilot zur Arbeit fahren können und nur dann »aufwachen«, wenn Sie falsch abbiegen und alles plötzlich anders aussieht. Das Gehirn registriert eine Schwingung von einem Partygast, noch bevor Sie sich daran erinnern, wo Sie diesen Menschen zum ersten Mal getroffen haben.

Wollen Sie neue Muster der Wahrnehmung und des Verhaltens in Ihrem Gehirn aufbauen, müssen Sie sich in bewusster Reflexion üben, damit die Resilienzressourcen, die Sie herstellen, auch abrufbar und anwendbar sind. Bewusste Reflexion ist nicht dasselbe wie Denken. Es ist mehr das Wissen, was Sie erleben, während Sie es erleben. Sie werden sich Ihrer Wahrnehmungen von der Erfahrung und von Ihrer Reaktion darauf bewusst, um die gesamte Bandbreite des Schaltens Ihrer neuronalen Schaltkreise zu erleben. Und so verdrahten Sie Muster hinsichtlich Ansicht, Einstellung, Identität oder Verhalten neu, die Ihre Resilienz blockieren.

Das Kultivieren einer Achtsamkeitspraxis ist eine zuverlässige Methode, Ihre bewusste Reflexion zu erweitern. Achtsamkeit bündelt nicht nur Ihre Aufmerksamkeit und lässt Sie das Bewusstsein erleben, welches jeden Inhalt halten und darüber reflektieren kann, sondern sie stärkt die Gehirnstrukturen, die Sie benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren, über Erlebtes zu reflektieren, Ihre Perspektive zu wechseln, Alternativen zu erkennen und sich für kluge Handlungen zu entscheiden. Ich stelle Ihnen diese unbezahlbare, selbststärkende Übung in Kapitel 6 vor.

Es mag weit hergeholt klingen, dass diese Werkzeuge, die diese Prozesse, die Arten von Intelligenz und die Praktiken fördern, Ihnen tatsächlich ermöglichen, mit wirklich allem umzugehen. Aber genau das werden Sie in Kapitel 7 üben: Sie integrieren diese Übungen für ein neu verdrahtetes Gehirn und vorbehaltlose Resilienz.

 

Das zugrunde liegende Thema dieses Buchs ist, dass Sie sich entscheiden können, sich zu entscheiden – von Moment zu Moment, für Erfahrungen, die Ihre neuronalen Schaltkreise ausbilden und Ihre Resilienz vertiefen. Sie können lernen, »Ihr Gehirn zu verändern, um Ihr Leben zu verbessern«,27 und das oft sofort und dauerhaft. Zu lernen, wie das Gehirn funktioniert, um jene Momente der Entscheidung und der Veränderung zu schaffen, gibt Ihnen das authentische Gefühl von Können und Kompetenz.

Fang den Moment ein; entscheide dich.

JANET FRIEDMAN

Jeder Moment enthält eine Wahl und jede Wahl enthält eine Wirkung.

JULIA BUTTERFLY HILL

Das Ziel dieses Buches ist es, Ihnen genau diese Werkzeuge und Entscheidungen mit auf den Weg zu geben.

Gehen wir’s an.

KAPITEL 2

Übungen zur somatischen Intelligenz

Atem, Berührung, Bewegung,

Visualisierung, soziale Kontakte

Du kannst die Wellen nicht aufhalten,aber du kannst lernen, auf ihnen zu reiten.

SWAMI SATCHIDANANDA

Wir haben uns angesehen, welche Möglichkeiten es gibt, mit Situationen kompetent umzugehen, wenn alles drunter und drüber läuft. Unsere Grundreaktionen auf alle Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens haben ihren Anfang in unserem Körper. Um unsere Resilienz zu stärken, fangen wir mit körperbasierten Werkzeugen, sprich unseren Übungen zur somatischen Intelligenz, an.

Denken Sie zurück an Ihren Biologieunterricht und das Thema vegetatives Nervensystem oder VNS. Ihr vegetatives Nervensystem scannt dauernd die Umgebung mitsamt Ihrem sozialen Umfeld ab und sucht nach Signalen der Sicherheit, Gefahr oder Bedrohung Ihres körperlichen Überlebens oder Ihres psychologischen Wohlbefindens.28 Dieses Scannen entspringt tief im Hirnstamm und Rückenmark. Es findet rund um die Uhr statt, sogar im Schlaf, und immer außerhalb Ihres Bewusstseins. Ihr höheres Gehirn kann sich jedoch dieses Absuchens der Umgebung nach Signalen bewusst werden. Die Kontrolle Ihres höheren Gehirns ist sogar notwendig für die Deutung der Signale aufgrund Ihrer Erfahrung und Konditionierung. Aber während Ihr höheres Gehirn komplexer und umfassender in seiner Analyse von dem ist, was passiert und was Sie diesbezüglich tun sollten, so erledigt es diese Aufgabe auch langsamer. Das körperbasierte VNS reagiert innerhalb von Millisekunden auf ein Signal, Ihr präfrontaler Kortex benötigt dagegen weitaus mehr Zeit dafür: von einigen Sekunden bis zu mehreren Minuten.

Sie haben vermutlich auch gelernt, dass das vegetative Nervensystem zwei Zweige hat: das sympathische Nervensystem (Sympathikus) und das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus). Das sympathische Nervensystem regt Sie an, sofort zu handeln, wenn etwas nicht stimmt oder Sie Gefahr wittern: Das ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Diese schnelle, schützende Reaktivität bringt Ihren Körper jetzt in Bewegung, um sich einer Gefahr zu stellen oder vor ihr zu fliehen, eine unsichere oder toxische Person zu konfrontieren oder vor ihr wegzulaufen.

Ihr tieferes Gehirn teilt Ihrem Körper mit, sich zu bewegen, noch bevor Ihr höheres Gehirn sich überhaupt bewusst ist, dass gerade etwas passiert ist. Ihr Nervensystem reagiert, um Sie am Leben zu erhalten, noch bevor Ihr bewusstes Gehirn überhaupt weiß, dass Sie sich in Lebensgefahr befinden.

Nach dem gleichen Prinzip ermöglicht das parasympathische Nervensystem Ihnen, sich selber zu beruhigen, um zu »ruhen und zu verdauen«, wenn die Gefahr vorüber ist. Diese beiden Zweige fungieren wie Gas- und Bremspedal im Auto: Die Aktivierung des Sympathikus kommt dem Betätigen des Gaspedals gleich, die Aktivierung des Parasympathikus dem des Bremspedals.

Es gibt viele Vorteile, den Sympathikus auch ohne eine Gefahrensituation zu aktivieren. Er schafft es, dass wir morgens aufstehen, dass wir aufstehen wollen, und er motiviert uns, auf unsere Mitmenschen zuzugehen, die Welt zu erkunden, zu spielen, kreativ und produktiv zu sein. Weil es den Sympathikus gibt, bilden wir Regierungen, komponieren Sinfonien, entwerfen und bauen Gebäude und arbeiten daran, das Problem Klimawandel zu lösen. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Sympathikus ist die Basis menschlicher Zivilisation, so wie wir sie kennen.

Und auf ganz ähnliche Weise erlaubt das Einschalten des Parasympathikus außerhalb einer Gefahrensituation es uns, uns sicher und geerdet zu fühlen, im Reinen und zufrieden. Die positive Aktivierung des vom präfrontalen Kortex regulierten Parasympathikus ist die Basis unseres menschlichen Wohlbefindens. Es ist das Gefühl, am Strand ein Nickerchen zu machen, sich in kontemplativer Stille zu entspannen oder nach dem Liebesakt einzuschlafen.

Es wird jedoch kompliziert, wenn entweder der Sympathikus oder der Parasympathikus als Reaktion auf eine vermeintliche Gefahr oder Lebensbedrohung überaktiviert werden. Eine plötzliche Überaktivierung des Sympathikus kann Sie zu Wut oder Angst, Furcht und Panik anstacheln. Eine plötzliche Überaktivierung des Parasympathikus kann dazu führen, dass Sie sich innerlich taub fühlen, abschalten, sich zurückziehen oder dissoziieren. Ein solch übermäßiges Anstacheln oder Abschalten kann die Funktionsweise des höheren Gehirns komplett, zumindest zeitweise, aus der Bahn werfen. In dem Moment reagieren Sie nur noch aus Ihren automatischen Überlebensreaktionen und aus dem konditionierten Lernen heraus, das im frühen Kindesalter in die neuronalen Schaltkreise Ihres Gehirns codiert wurde. Dieses neurobiologische Reagieren ist unmittelbar und es ist dominant.

In diesem Kapitel stelle ich Ihnen Übungen zum Atem, zur Berührung, zur Bewegung und zur Visualisierung vor. Sie dienen der Stärkung Ihrer somatischen Intelligenz und sollen Ihnen helfen, die vom Nervensystem an Ihr Gehirn gesendeten Signale zu erkennen, zu interpretieren und zu verwalten. Sie kehren wieder zu Ihrem physiologischen Grundzustand des Wohlbefindens zurück – zu Ihrer Resilienzbandbreite, Ihrem Toleranzfenster, Ihrem Gleichmut. Sie sind wieder ruhig und entspannt, beteiligt und wachsam, Sie meistern die Situation, Sie reiten die Wellen. In diesem Gleichgewichtszustand verfügen Sie über die Reaktionsflexibilität, die Sie benötigen, um die Signale zu interpretieren, die die Stressoren in Ihrem Umfeld aussenden (oder auch Ihre eigenen inneren Botschaften über diese Stressoren oder über Sie selbst in Bezug zu ihnen). So machen Sie Alternativen aus und reagieren danach mit Resilienz und Klugheit.

Anders als unsere Vorfahren, die sich mit akuten Gefahren ihrer physischen körperlichen Sicherheit beschäftigen mussten, ist der moderne Mensch eher einer chronischen Gefährdung seiner psychischen Sicherheit und seines psychischen Wohlbefindens ausgesetzt. Mithilfe dieser Übungen lernen Sie auch, Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System (Social Engagement System) im Gehirn (ebenfalls unbewusst) zu stärken und Ihr Nervensystem besonders als Reaktion auf diese Gefährdung zu regulieren.

Im »Ein« oder »Aus« feststecken

Eine Reihe von Stressoren sorgt dafür, dass das sympathische Nervensystem im »Ein« stecken bleibt. Dazu gehören unermüdlicher Arbeitsdruck; ständige Beschwerden und Kritik von Menschen, an denen Sie einen Teil Ihres Selbstwerts ausmachen wie Ihr Partner oder Ihre Partnerin oder Ihre Kinder; das Nichterreichen gesteckter Ziele im Vergleich zu anderen oder zu Ihren eigenen Erwartungen. Die Erregung ist zu groß, Sie halten nicht inne, man lässt Sie einfach nicht; Sie sind ständig unruhig, auf der Hut und gestresst und nicht in der Lage, das Gefühl der Sicherheit und Ruhe wiederzuerlangen, das unerlässlich für Ihr Wohlbefinden ist.

Andere Umstände lassen das parasympathische Nervensystem im »Aus« feststecken. Dazu zählen unermüdliche Langeweile auf der Arbeit, zu viele Verluste oder Verbindungsabbrüche in zu kurzer Zeit, zu viel Scham und Schuld, Kritik und Zurückweisung – oder Erfahrungen, die Sie als solche wahrnehmen. Statt sich der Situation zu stellen und sie anzugehen, kollabieren Sie in einem Zustand der erlernten Hilfslosigkeit oder Depression, Sie sind nicht mehr in der Lage, die Energie oder Motivation aufzubringen, es zu versuchen und wieder zu versuchen. Eine derartige Reaktion gehört zu unserem neurobiologischen Erbe aus Millionen von Jahren, in denen unsere Vorfahren sich tot stellten, um nicht von Löwen aufgefressen zu werden, und aus Hunderttausenden von Jahren der Evolution in sozialen Gruppen, in denen man Konflikten aus dem Weg ging oder andere beschwichtigte, damit man nicht aus dem Stamm verbannt wurde.

Vor nur zwanzig Jahren entdeckte der Neurophysiologe Stephen Porges einen dritten Zweig des vegetativen Nervensystems: die Bauch-Vagus-Leitungsbahn, die er als sozialen Vagus bezeichnet.29 Der soziale Vagus ist eine neuronale Leitungsbahn, die Körper und Hirnstamm miteinander und danach mit den Nerven im Nacken, im Hals, in den Augen und Ohren verbindet. Diese Leitungsbahn der Kommunikation zwischen Gesicht und Herz erzeugt eine unbewusste Neurozeption von Sicherheit dann, wenn Sie sich inmitten anderer sicher fühlen. Menschen sind soziale Wesen. Sie werden in Familien hineingeboren und wachsen in Großfamilien, unter Verwandten und in Gemeinschaften auf. Das Gehirn hat sich so entwickelt, dass es automatisch nach Kontakt und Verbindung zu anderen zur Beruhigung sucht, wenn sein eigenes Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens unterbrochen wird. Das auf soziale Kontakte ausgerichtete System kann, selbst unbewusst, Signale wahrnehmen wie »Es ist in Ordnung«, »falscher Alarm«, »Dir geht es gut« oder »Du bist sicher«. Das ist die neurobiologische Grundlage sicherer Bindung und eines inneren Gefühls der Sicherheit und Ruhe. Es ist ebenfalls das neuronale Fundament, das es uns ermöglicht, dann Risiken einzugehen, wenn sie nötig sind.

Deb Dana, die Kollegin von Stephen Porges, sagt in A Beginner s Guide to Polyvagal Theory:

»In diesem [ventralen Vagus-] Zustand ist der Herzschlag reguliert, unser Atem voll, wir nehmen die Gesichter unserer Freunde wahr, wir können uns in Gespräche einstimmen und ablenkende Geräusche abschalten. Wir sehen das »große Ganze« und stellen eine Verbindung zur Welt und den Menschen in ihr her. [Sie können sich selbst erleben] als glücklich, aktiv, interessiert und die Welt als sicher, voller Freude und friedlich. Dieser Zustand beinhaltet, dass Sie Pläne machen und diese ausführen, dass Sie auf sich selber achten und sich Zeit fürs Spielen und für Aktivitäten mit anderen nehmen, dass Sie sich produktiv auf der Arbeit fühlen und das generelle Gefühl von Regulierung und Kontrolle haben. Wir haben die Fähigkeit, Störungen anzuerkennen und Alternativen zu erkunden, um Hilfe zu bitten und geordnete Reaktionen zu haben.«30

Auf Ihr auf soziale Kontakte ausgerichtetes System zurückzugreifen, um ein inneres Gefühl von Sicherheit zu erzeugen, bedeutet nicht unbedingt, dass die Umstände selber sicher sind. Das Risiko, dass Ihr Haus zwangsversteigert wird, oder dass Sie sich einen Hexenschuss beim Schuhe-Zubinden holen, gibt es immer noch, und Sie müssen Resilienz beweisen, um mit solchen Gefährdungen fertigzuwerden, trotzdem gibt es die innere Neurozeption von Ruhe und Gleichgewicht.

Ist die Bauch-Vagus-Leitungsbahn vollständig ausgereift und funktioniert zuverlässig, dann fungiert sie als »Bremse« und reguliert die Aktivierung des sympathischen und des parasympathischen Nervensystems und verhindert so, dass Sie sich hoch in eine Panik schrauben oder hinab in den Treibsand von Rückzug geraten. Ihr Körper reagiert zwar, aber Ihr Gehirn kann das Gefühl von Ausgeglichenheit aufrechterhalten und sich recht schnell von diesem Ungleichgewicht erholen. Sie vertrauen sich selber genug, um sich zu sagen: »Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Ich kann lernen, jetzt damit umzugehen.« Sie vertrauen darauf, dass Ihre Mitmenschen Ihre Ressourcen sind: Sie kehren in einen Ruhezustand zurück, weil Ihre Mitmenschen ruhig sind. Sie vertrauen darauf, die Situation zu meistern, weil diese auf Ihre Fähigkeiten vertrauen, die Situation zu meistern.

Die Übungen in diesem Kapitel sind so angelegt, dass Sie die vielen Werkzeuge Ihrer körperbasierten somatischen Intelligenz, die Atem, Berührung, Bewegung, Visualisierung und soziale Kontakte beinhalten, anwenden lernen, um zu Ihrem natürlichen physiologischen Gleichgewicht zurückzukehren. Selbst angesichts vieler Herausforderungen, Turbulenzen, Verluste und Traumata, wenn es unmöglich scheint, auch nur einen kurzen Augenblick des Gleichmuts zu finden, können diese Werkzeuge Ihnen helfen, zu Ihrem Resilienzbereich zurückzukehren und die Neuroplastizität Ihres Gehirns auf Lernen und Bewältigen vorzubereiten. Hier ist ein Beispiel einer solchen Rückkehr zum inneren Gleichgewicht:

 

An einem Freitagnachmittag holte ich mein fünfjähriges Patenkind Emma von der Schule ab. Ich trug sie auf dem Arm zum Auto, stolperte dabei aber über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig. Ich fing mich wieder und fiel nicht hin. Weder Emma noch ich nahmen Schaden. Weiter ging’s, wie immer. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Yogalehrerin Ada davon und sie meinte: »Siehst du, Yoga ist nicht nur für die Fitness. Yoga ist für’s Leben.«

Und genau das ist der Punkt aller dieser Übungen. Resilienztraining bedeutet nicht ein Satz an Fertigkeiten, sondern es schafft Gewohnheiten für das ganze Leben. Sie mögen stolpern, aber sich selber vor dem Hinfallen bewahren. Und sollten Sie doch hinfallen, dann können Sie wieder aufstehen. Und sollten Sie hinfallen und sich etwas brechen und deswegen eine Zeit lang – oder überhaupt nicht mehr – wieder aufstehen können, dann können Sie die Energie, die Fertigkeiten und die Ressourcen aufbringen, um Ihr Wohlbefinden wieder zu erlangen.

Neue Konditionierung

Diese Übungen unterstützen Sie darin, Herausforderungen mit mehr Resilienz und Flexibilität zu begegnen. Auch dann, wenn alles aus den Fugen gerät, werden Sie in der Lage sein, bewusst neue Entscheidungspunkte im Gehirn zu schaffen, mit deren Hilfe Sie Ihre Reaktionen flexibler gestalten.

Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht

Diese Werkzeuge stärken die bestehenden neuronalen Leitungsbahnen, welche einen stabilen Resilienzbereich aufrechterhalten, in dem Sie nicht allzu sehr aus der Balance geraten. Sie können es vermeiden, durch eine unerwartete oder unliebsame Situation Ihr Gleichgewicht zu verlieren, oder aber Ihr Gleichgewicht schnell wiedererlangen und zu Ihrer natürlichen Basis des Gleichmuts zurückkehren. Es fällt Ihnen leichter, die Ruhe zu bewahren und weiterzumachen. Eines der grundlegenden Werkzeuge ist die Aufmerksamkeit auf den Atem.

Langsames Atmen erhöht die Aktivierung des Vagus und den parasympathischen Tonus und führt damit zu einem besseren physischen und psychologischen Wohlbefinden. Langsames, tiefes Atmen kann wirksam Angst verhindern. Langsames und tiefes Atmen in Augenblicken der Angst bringt den Bauch-Vagus in einen Zustand der Kontrolle zurück, und so wie sich unser automatischer Zustand ändert, so kann sich auch unsere Geschichte ändern.

DEB DANA, RHYTHMS OF REGULATION

Sie atmen ständig. Zu atmen bedeutet zu leben. Jedes Einatmen aktiviert den Sympathikus Ihres Nervensystems ein wenig (oder sehr, wenn Sie auf etwas überreagieren oder hyperventilieren). Jedes Ausatmen aktiviert den Parasympathikus ein wenig (oder sehr, wenn Sie panische Angst haben und in Ohnmacht zu fallen drohen). Sie können lernen, diesen Rhythmus des Ein- und Ausatmens (längere Ausatmung) dazu zu benutzen, mehr Ruhe im Körper zu kultivieren und auf ein tieferes Gefühl des Wohlbefindens zuzugreifen.

ÜBUNG 2–1: MINI-ATEM-MEDITATION31

1. Atmen Sie bitte fünf bis zehn Atemzüge ganz natürlich und ruhig. Achten Sie dabei auf die Empfindungen des Einatmens (bemerken Sie die kühle Luft in den Nasenlöchern und im Hals und die sanfte Ausdehnung von Bauch und Brustkorb) und des Ausatmens (bemerken Sie die ausströmende wärmere Luft und die Entspannung von Bauch und Brustkorb). Und denken Sie an die praktische und enorm effiziente Formel »wenig und oft«. Halten Sie inne und wiederholen Sie die Übung dann mehrmals am Tag.

2. Wenn Sie möchten, können Sie folgende Sätze des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh still beim Atmen aufsagen: »Einatmen, ich bin zu Hause. Ausatmen, ich lächele.«

3. Stellen Sie sich beim Einatmen »nach Hause kommen« vor und sagen dabei »Ich bin hier. Ich bin zu Hause«. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, wie Sie eine sichere Verbindung zu der äußeren Welt herstellen und in einen Zustand der Leichtigkeit und Harmonie mit anderen kommen. Stellen Sie sich vor, in das Wort Ich einzuatmen und in das Wort Wir auszuatmen. Wiederholen Sie diesen Rhythmus eine Minute lang.

4. Diese Übung dient dazu, sich in ein beruhigendes Gefühl des Wohlbefindens und der Verbindung hinein zu entspannen und die Leichtigkeit beziehungsweise Ruhe in Körper und Geist zu vertiefen. Vielleicht bemerken Sie sogar ein Gefühl der Sicherheit in dem Augenblick: »Nichts wird in diesem Augenblick passieren, das mein Gefühl des Wohlbefindens zunichtemacht.« Lassen Sie sich in diese Leichtigkeit und Sicherheit fallen, auch wenn es nur diesen einen Augenblick lang ist.

ÜBUNG 2–2: LIEBEVOLLES ATMEN32

In dieser Übung benutzen Sie das gütige Gewahrsein Ihres Atems, um das Gefühl von Sicherheit und Ruhe in Körper und Geist zu stärken.

5. Nehmen Sie eine bequeme Haltung ein, in der Sie Ihren Körper zwar stützen, sich aber nicht anstrengen müssen, um in dieser Haltung zu verweilen. Schließen Sie die Augen, wenn Sie möchten, oder lassen Sie Ihren Blick weich werden. Kommen Sie in ein Gefühl der Gegenwärtigkeit und entspannen Sie sich in Ihrem Körper. Atmen Sie mehrmals langsam ein und wieder aus, um unnötige Anspannung loszulassen.

6. Richten Sie Ihr Gewahrsein auf den Atem. Bemerken Sie, wo Sie den Atem am ehesten spüren – vielleicht an den Nasenlöchern, im Hals oder im sich hebenden und wieder senkenden Bauch. Erlauben Sie sich, die einfachen Empfindungen beim Atmen zu bemerken. Fühlen Sie einfach nur Ihren Atem eine Zeit lang.

7. Können Sie sich mit Offenheit, Neugier und Fürsorge auf sich selber und auf Ihren Atem einstellen? Wenn Sie dabei Unbehagen in Körper und Geist spüren, versuchen Sie einfach, mit diesem Unbehagen zu sein, lassen Sie sich auf das Unbehagen ein, akzeptieren Sie, dass es in diesem Moment so ist. Begegnen Sie sich selber mit Güte.

8. Stellen Sie einfach fest, dass Sie sich nicht ans Atmen erinnern müssen. Ihr Körper atmet für Sie. Ihr Körper atmet Sie.

9. Versuchen Sie, Ihren ganzen Körper beim Atmen zu fühlen. Bemerken Sie, wie Ihr Atem sich im ganzen Körper ausbreitet und jede Zelle mit Sauerstoff versorgt.

10. Geben Sie sich dem Atem hin. Werden Sie Ihr Atem. Ruhen Sie eine oder zwei Minuten lang in der Leichtigkeit dieses Augenblicks.

11. Erlauben Sie sich einen Moment der Wertschätzung und Dankbarkeit für diesen Atem, der Sie jeden Moment am Leben erhält.

12. Lassen Sie dann Ihr Gewahrsein vom Atem los. Erlauben Sie allem, was in Ihr Gewahrsein tritt, für den Moment einfach nur so zu sein, wie es ist. Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie wieder die Augen.

Diese Übung hilft dabei, Ihre eigenen Intentionen und klugen Bemühungen anzuerkennen, ein authentisches Gefühl der Leichtigkeit und des Gleichgewichts zu erzeugen. Machen Sie sich klar, dass Sie ein Werkzeug lernen, mit dessen Hilfe Sie das Hoch- und das Herunterfahren Ihres Nervensystems zuverlässig regulieren können.

Ein sanftes Ausrichten auf die Körperlichkeit Ihres Körpers kann Ihr Gewahrsein in der Sicherheit des gegenwärtigen Moments erden. Das Gewahrsein subtiler Bewegungen im Körper weckt Ihr Gehirn auf und bereitet dessen Neuroplastizität auf Neugier und Lernen vor.

ÜBUNG 2–3: SICH AUF DIE FUSSSOHLEN FOKUSSIEREN33

1. Stehen Sie bitte auf und fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Fußsohlen im Kontakt mit dem Boden. (Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, wenn Sie mögen.) Bemerken Sie die Empfindungen in Ihren Füßen, wie sie den Boden berühren.