Resilienz

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Ein Großteil dieses konditionierten Lernens geschieht in den ersten drei Lebensjahren, noch bevor es ein bewusstes Gewahrsein gibt von dem, was geschieht. Das Gehirn codiert dieses prozedurale Lernen in das implizite Gedächtnis (außerhalb des Bewusstseins). Und das gehört ebenfalls zur außergewöhnlichen Effizienz des Gehirns.

Das Gehirn lernt die meisten seiner Selbstregulationsprozesse – wie es auf andere reagiert und in Beziehung zu ihnen steht – von anderen, noch ehe wir unsere eigenen Entscheidungen treffen und von alleine lernen. Studien haben gezeigt, dass sichere Bindung und frühe Anpassung an andere gesunde Gehirne und gut regulierte Nervensysteme die besten Puffer gegen Stress und Traumata später im Leben sind.

Während wir älter werden, beginnen wir, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen und selber zu lernen. Der präfrontale Kortex entwickelt sich und wir lernen jetzt weniger durch Anpassung (wenngleich dieser Prozess das ganze Leben lang stattfinden kann) und mehr durch unsere eigenen wachsenden Fähigkeiten des Selbstbewusstseins, der Selbstreflexion und der Selbstakzeptanz. Diese Fähigkeiten helfen uns, die Erfahrungen auszuwählen, die alle Fähigkeiten des Gehirns ausbilden. Und alle diese Erfahrungen rufen Veränderungen in den neuronalen Schaltkreisen unseres Gehirns und damit in unserem Verhalten hervor.

2. Wenn die Reaktionsflexibilität sich nicht vollständig entwickelt hat

Wenn unsere frühesten Bindungsbeziehungen dagegen nicht die kompetente Anpassung und Formung der Gehirnentwicklung oder die Vorbildfunktion von Resilienz bereitstellen, wenn wir zu viel Vernachlässigung oder Gleichgültigkeit, Kritik oder Zurückweisung oder widersprüchliche Botschaften und Unvorhersehbarkeit erlebt haben, wird unser Gehirn leider nur schwer die Fertigkeiten entwickeln, die es für Resilienz benötigt: unsere Stressreaktionen und starken Emotionen wie Wut, Furcht, Traurigkeit zu regulieren; zu lernen, uns selber und unseren Mitmenschen zu vertrauen; zu lernen, wie man das, was gerade geschieht, richtig deutet und wie man dann damit umgeht; zu lernen, umzuschalten; zu lernen, wie man lernt.

Das Wachstum der für Resilienz nötigen neuronalen Schaltkreise kann in Abwehrhaltung und Rigidität stecken bleiben oder keine Form annehmen und chaotisch bleiben: Zustände, die meine Kollegin Bonnie Badenoch »neuronalen Beton« oder »neuronalen Morast« nennt.10 Stattdessen entwickeln wir Bewältigungsstrategien, die nicht besonders kompetent sind. Entweder sind sie nicht flexibel oder nicht stabil genug. (Man beachte bitte: Das ist eine völlig normale menschliche Erfahrung.)

3. Negative Kindheitserfahrungen und -traumata

Zu viele negative Kindheitserfahrungen, wie Übergriffe, Suchterkrankungen oder Gewalt zu Hause oder im näheren Umfeld, erschweren es für ein Kind, Situationen überhaupt zu bewältigen, weil diese Erfahrungen die organische Entwicklung des Gehirns kompromittieren.11 Für ein Kind, das mit einem alkoholkranken Elternteil und einem schikanierenden älteren Bruder und dem anderen Elternteil aufwächst, das bei all dem wegschaut, kann das Trauma zu Hause überwältigend sein und sogar das sich entwickelnde Gehirn traumatisieren. Derartige Störungen behindern die normale Entwicklung des Gehirns, was wiederum seine Fähigkeit beeinträchtigt, Bewältigungsstrategien zu lernen. Denken und Gedächtnisfunktion können gestört werden und die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren und Beziehungen zu anderen aufzubauen, kann extrem gehemmt sein. Ein Kind lernt dann, durch Dissoziation Situationen zu bewältigen: »auszuchecken«, statt gegenwärtig zu sein. In diesem Zustand können auch das Gefühl des Lebendigseins, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und das Bewusstsein des Selbst verschwinden.

4. Akutes Trauma

Die Folgen akuter Traumata wie schwere Krankheiten, der Tod eines geliebten Menschen oder der Verlust des Hauses durch eine Naturkatastrophe können die Funktionsweise des präfrontalen Kortex jederzeit, zumindest vorübergehend, offline schalten. Ohne die umfassenderen Optionen des höheren Gehirns müssen wir auf die begrenzte Reaktivität des auf das Überleben ausgerichteten tieferen Gehirns und die bereits in unseren neuronalen Schaltkreisen konditionierten automatischen Muster zurückgreifen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass 75 % aller US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner mindestens ein traumatisches Ereignis im Leben erfahren, das heißt, bei den meisten von uns wird die Resilienz irgendwann im Leben auf eine harte Probe gestellt.12 Wissenschaftlerinnen haben ebenfalls entdeckt, was Peter Levine, der Begründer der Somatic-Experiencing (SE)®-Traumatherapie, so treffend beschreibt: »Trauma ist eine Tatsache des Lebens. Es muss aber nicht lebenslänglich sein.«13

Hier ist die gute Nachricht. Selbst wenn sich Ihre Reaktionsflexibilität in Ihrer Kindheit nicht vollständig ausgebildet hat oder durch störende Ereignisse im Leben aus der Bahn geworfen wurde, können Sie immer noch die Entscheidungen treffen, die Ihnen dabei helfen werden, Ihre Fähigkeit zur Resilienz vollständig zu entwickeln und wiederzuerlangen.

Sehen wir uns jetzt die Prozesse der Gehirnveränderung an, die Sie lernen können, um genau das zu tun.

Konditionierung und drei Optionen, Ihre Konditionierung zu ändern

Diese Prozesse der Gehirnveränderung sind alle umfänglich durch die Entdeckungen der modernen Neurowissenschaft bestätigt. Ich beschreibe alle zur besseren Verständlichkeit und Anwendung hier in vereinfachter Form.

1. Konditionierung

Das Gehirn lernt durch Erfahrung. Am Ende dieses Kapitels werden Sie diesen Satz auswendig können. Jede Erfahrung, wirklich jede Erfahrung, ob positiv oder negativ, verursacht das Feuern von Neuronen im Gehirn: Informationen werden durch elektrische und chemische Signale ausgetauscht. Werden diese Erfahrungen wiederholt, wird dieses neuronale Feuern im Gehirn wiederholt, wodurch wiederum Reaktionsmuster, ob positiv oder negativ, wiederholt werden. Das nennt man Konditionierung. Dieser bekannte Grundsatz in der modernen Neurowissenschaft stammt von dem kanadischen Neurowissenschaftler Donald Hebb: »Neuronen, die zusammen schießen, schließen sich zusammen.« (»Neurons, that fire together, wire together.«)

Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Regen an einem Hang. Zuerst fallen die Regentropfen in mehr oder weniger zufälligem Muster den Hang herunter. Dann aber schneidet der Wasserfluss Furchen und Spuren und schließlich größere Rinnen in den Hang hinein. Haben sich diese erst einmal gebildet, fließt der Regen nur noch in diesen Furchen und Rinnen den Hang hinunter. Und auf die gleiche Weise entwickelt unser Gehirn Leitungsbahnen und Reaktionsmuster, die – es sei denn, wir greifen ein – uns automatisch auf die Stressoren auf dieselbe Weise reagieren lassen, wie wir vorher schon reagiert haben. Konditionierung ist das, was all unser frühes Lernen von Bewältigungsstrategien codiert.

Das Gehirn lernt und codiert von selber auf diese Weise immer dann, wenn wir es nicht anweisen, etwas anderes zu tun. Wenn wir es nicht anweisen, neue Bewältigungsmuster zu installieren oder alte Muster neu zu verdrahten, lernt das Gehirn alleine und codiert automatisch alle Reaktionen in seine neuronalen Schaltkreise. Wir müssen dem Gehirn nicht beibringen, wie es lernt, und wir können es nicht vom Lernen abhalten. Wir können dieses Lernen jedoch dann steuern, wenn wir das, was das Gehirn bereits gelernt hat, neu verdrahten wollen.

Das Gehirn ist mit zahlreichen Mustern ausgestattet, die sich im Laufe der menschlichen Evolution fest verdrahtet haben. Die Reaktionen von Kampf-Flucht-Erstarren-Zusammenbruch sind automatische Überlebensmuster unseres Nervensystems, das uns ohne bewusstes Verarbeiten vor einer Spinne zurückschrecken, einem rasenden Auto ausweichen oder hilflos zusammenbrechen lässt.14 Negativitätstendenz ist die (unbewusste) Neigung, Erinnerungen an negative Ereignisse eher zu speichern als positive Erinnerungen.15 Diese Tendenz, die uns schnell auf Gefahren aufmerksam macht, ist für das menschliche Überleben unerlässlich, aber sie ist nicht immer für unser individuelles Wohlbefinden gut. Unser Gehirn filtert unbewusst unsere Wahrnehmung anderer in die Kategorien »So wie ich« und »Nicht so wie ich« auf der Basis von Geschlecht, Ethnie, Sprache und Kultur.16 Diese Tendenz der automatischen Wahrnehmung eines Wir gegenüber eines Sie ist ein weiteres Merkmal, das für das Überleben wichtig, aber im Alltagsleben potenziell problematisch ist.

Wir können bewusst neue Gewohnheiten auf diese automatischen Reaktionen schaffen. In den nächsten Kapiteln werden wir untersuchen, wie wir Gewohnheiten oder Regeln zu von Familie oder Kultur erlernten Reaktionen verdrahten können, die uns nicht mehr dienlich sind, wie der Rückzug in passiver Wut, statt dem Gegenüber aufrichtig zu sagen, sie mögen netter sein, oder die Zurückweisung eines Mitmenschen und seines Potenzials, weil er nicht in unser Vorverständnis von »gut« oder »fähig« passt.

Wann immer wir neue Schaltkreise kreieren oder alte konditionierte Bewältigungsmuster neu verdrahten wollen, können wir die im Nachfolgenden beschriebenen drei Prozesse der Gehirnveränderung anwenden.

2. Neukonditionierung

Neukonditionierung ist mein Begriff für den Prozess, sich bewusst und absichtsvoll für eine neue Aktivität oder Erfahrung zu entscheiden, die die Funktionsweise und die Gewohnheiten des Gehirns in eine bestimmte Richtung lenkt. Jedes Mal, wenn Sie eine Dankbarkeitsübung machen, Ihr Zuhören vertiefen, daran arbeiten, den Fokus Ihrer Aufmerksamkeit zu verstärken, mehr Selbstmitgefühl oder Selbstakzeptanz kultivieren und diese Praktiken wiederholen, dann praktizieren Sie Neukonditionierung. Sie schafft neues Lernen, neue Schaltkreise und neue Gewohnheiten, auf Ereignisse zu reagieren, sogar potenziell oder auf zuvor traumatisierende Situationen. Sie verdrahten Ihr Gehirn neu, sie schaffen neue Erinnerungen und neue Wege des Seins, aus denen dauerhafte positive Gewohnheiten werden können.

 

Neukonditionierung heißt nicht, alte Konditionierung ungeschehen machen. Wenn Sie gestresst oder müde sind, wird Ihr Gehirn, seine alten Gewohnheiten als Standardeinstellung übernehmen. Es ist einfacher und effektiver für das Gehirn, das zu tun, was es bereits kann. Sie können jedoch mit ausreichender Wiederholung einen Entscheidungspunkt in der Funktionsweise des Gehirns aufbauen und mit dem nächsten Prozess, Rekonditionierung, können Sie tatsächlich alte Schaltkreise neu verdrahten.17

3. Rekonditionierung

Der Fachbegriff für Rekonditionierung ist Dekonsolidierung-Rekonsolidierung von Erinnerung. In den letzten Jahren haben neue bildgebende Verfahren es möglich gemacht, diesen Prozess, während er im Gehirn abläuft, zu beobachten. Er ist jedoch bereits seit Jahrzehnten die Basis der Traumatherapie.

Sie beginnen den Prozess der Rekonditionierung, indem Sie bewusst, behutsam und kompetent eine frühere Erinnerung in Ihr bewusstes Gewahrsein bringen, die Ihre Resilienz entgleisen ließ, Ihre Reaktionen auf diese Erfahrung und die Art und Weise, wie Sie jetzt über sich selbst aufgrund dieser Entgleisung fühlen und denken.

Indem Sie Ihren Fokus auf diese Erfahrung ausrichten, aktivieren Sie das gesamte neuronale Netzwerk, welches diese Erinnerung trägt: Bilder, Körpergefühle, Emotionen, Körperstellen, an denen Sie diese Emotionen spüren, Gedanken, die Sie in dem Moment über sich selber hatten, und Gedanken, die Sie jetzt über sich haben. Diese Aktivierung der neuronalen Schaltkreise ist der Schlüssel für deren Neuverdrahtung.

Wenn Sie zum Beispiel immer noch die Erinnerung an das Geschäftstreffen belastet, das Sie versäumt und dann über den Grund dafür gelogen haben, dann nehmen Sie jetzt nur ungern an solchen Geschäftstreffen teil, weil Sie davor Angst haben, was Ihre Kolleginnen und Kollegen von Ihnen halten. Ihre Unsicherheit lässt Sie nun in Ihrem Beruf nicht vorankommen. Sie gehen das Problem damit an, sich jedes Detail des verpassten Treffens in Erinnerung zu rufen, einschließlich Ihrer Gefühle und Gedanken heute über sich selber.

Sie können lernen, diesen Rekonditionierungsprozess selber anzuwenden. Dabei ist jedoch unbedingt zu beachten, es zu vermeiden, von der alten Erinnerung überwältigt oder von Neuem traumatisiert zu werden. Sie sollten daher immer nur mit einem kleinen Teil der Erinnerung arbeiten, damit Ihr Gehirn sich sicher genug für das Lernen und die Neuverdrahtung fühlt. (Die Übungen in Kapitel 2 bis 7 vermitteln diesen Prozess.)

Sobald die negative Erinnerung aktiviert worden ist und zur Neuverdrahtung zur Verfügung steht, stellen Sie sie in Ihrem Gewahrsein bewusst neben eine stärkere, positivere und auf Resilienz basierende Erinnerung oder sogar ein imaginäres Ereignis und halten sowohl die ursprüngliche negative Erfahrung als auch die neuen positiven Erfahrungen zur gleichen Zeit in Ihrem Gewahrsein (oder Sie wechseln von der einen zur anderen hin und her). Dieses Nebeneinanderstellen bewirkt, dass der ursprüngliche neuronale Schaltkreis auseinanderfällt (dekonsolidiert) und sich kurz darauf neu verdrahtet (rekonsolidiert). Neurowissenschaftlerinnen können diesen Prozess mittels bildgebender Verfahren nun sehen. Wenn die neue positive Erinnerung oder Erfahrung stärker als die ursprüngliche negative Erinnerung ist, wird sie die negative Erinnerung »übertrumpfen« und sie neu verdrahten.

Sie können beispielsweise die Erinnerung an das versäumte Geschäftstreffen und die nachfolgende Lüge neu verdrahten, indem Sie sich einen anderen Ausgang dieses Szenarios vorstellen, selbst wenn es erfunden ist. Sie könnten sich vorstellen, dass Sie sich einige Tage später mit zwei wichtigen Teilnehmerinnen am Geschäftstreffen treffen und ihnen erklären, warum Sie nicht zum Treffen kamen, auch wenn Ihre Erklärung dürftig ist. Sie stellen sich vor, Sie entschuldigen sich für diese Fehleinschätzung und Ihre anschließende Lüge und schlagen vor, es wieder gut zu machen. Sie stellen sich dann vor, die beiden Teilnehmerinnen zeigten Verständnis und verziehen Ihnen (selbst wenn das im wahren Leben nie passieren würde). Und dann stellen Sie sich vor, wie Sie zum nächsten Treffen gehen.

Dieser Mechanismus verändert nicht, was in Wirklichkeit passiert ist – das ist nicht möglich –, aber er verändert Ihr Verhältnis zum Geschehenen. Er schreibt die Geschichte nicht neu, aber er verdrahtet das Gehirn neu. Sie vergessen die alte Erinnerung nicht, aber sie hat nicht mehr die gleiche Bedeutung oder Macht, Sie aus der Bahn zu werfen. Diejenigen, die diesen Prozess der Rekonditionierung anwenden, um eine ursprünglich negative Erinnerung neu zu verdrahten, sagen oft: »Warum hat mich diese Sache so aufgeregt?«

VERARBEITUNGSMODI

Sowohl die neue Konditionierung als auch die Rekonditionierung sind auf einen fokussierten Verarbeitungsmodus im Gehirn angewiesen. Wir richten die Aufmerksamkeit des Gehirns bewusst auf eine bestimmte Aufgabe, eine bestimmte Übung. Als Neurowissenschaftlerinnen zum ersten Mal begannen, die Gehirne von Probandinnen zu scannen, um mehr darüber zu erfahren, welche Gehirnstrukturen zusammenarbeiten, wenn diese musizierten, Kriegsszenen in den Nachrichten sahen oder um den Tod eines Haustieres trauerten, nahmen die Wissenschaftlerinnen an, das Gehirn wäre untätig, wenn die Probandinnen ihm keine Aufgabe gaben, wie eine Farbe zu benennen oder ein Rätsel zu lösen.

Nun, das stimmt so nicht. Sie stellten fest, dass das »untätige« Gehirn aktiver ist als je zuvor – und zwar nicht nur in bestimmten Hirnregionen, sondern im gesamten Gehirn.18 Dieser Vorgang wird heute als Ruhezustandsnetzwerk (Default Mode Network oder DMN) der Hirnaktivität bezeichnet: Es ist das, was das Gehirn von ganz alleine tut, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nicht bewusst auf eine Aufgabe ausrichten. Wir können diesen Modus für die Dekonditionierung benutzen.

4. Dekonditionierung

Wenn Sie die Aufmerksamkeit des Gehirns nicht bewusst in Dienst nehmen, schaltet sich das Ruhezustandsnetzwerk ein und das Gehirn spielt, schafft neue Assoziationen und Verbindungen, wandert dorthin, wohin es will, und stellt neue Zusammenhänge her. Das ist der Verarbeitungsmodus, der bei Fantasie und Intuition greift. Das ist, was passiert, wenn Sie sich in Tagträumen verlieren oder einen plötzlichen Einfall oder ein Aha-Erlebnis haben.

Dekonditionierungsübungen, mit denen Sie in geführten Visualisierungen und Meditationen Ihre Fantasie nutzen, erschließen den »offenen Raum unbegrenzter Möglichkeiten« in Ihrem Gehirn, so bezeichnet von Daniel Siegel vom Mindsight Institute an der University of California in Berkeley.19 Sie können diese neuen Einblicke anzapfen, die von Ihrem wandernden und spielenden Gehirn erzeugt werden, um neue Verhaltensweisen zu kreieren.

Ich bitte jedoch in zwei wichtigen Punkten um Vorsicht, wenn das Ruhezustandsnetzwerk als Verarbeitungsmodus zur Wiedererlangung von Resilienz benutzt wird.

Punkt eins: Weil das Ruhezustandsnetzwerk der Ort ist, an dem Sie Ihre soziale Selbstwahrnehmung verarbeiten, kann seine Aktivierung Sie in einen Zustand der Sorge und des Grübelns versetzen.20 Mögen die anderen mich? Gehöre ich dazu? Habe ich mich gerade vor allen dumm verhalten? Was denken sie von mir? Praktizierende von Achtsamkeitsmeditation kennen die Neigung des Gehirns, in einen Zustand der Grübelei zu fallen. Er wird manchmal als »wandernder Geist« oder »Affengeist« bezeichnet. Sie versuchen beispielsweise Ihre Aufmerksamkeit auf den Atem oder ein Mantra zu fokussieren, aber Ihre Gedanken befassen sich mit dem Abendessen oder dem nächsten Sommerurlaub, einer Auseinandersetzung mit einem Kollegen oder der Sorge um die Freundin, die sich scheiden lässt. Wenn Sie Scham, Sorge oder Angst angesichts der eigenen Person empfinden oder mit einer noch nicht gelösten, unangenehmen Situation zu tun haben, kann Ihr Gehirn sich zu lange mit diesen Gedanken und Emotionen beschäftigen.

Punkt zwei: Kommt eine beunruhigende oder schmerzliche Erinnerung, die wir aus unserem Bewusstsein verdrängt haben, zurück in dieses, vermeidet das Gehirn durch Dissoziation, sich damit zu befassen: Wir checken aus, richten unsere Aufmerksamkeit auf etwas Angenehmes oder schalten ab. Die potenziell beunruhigende oder schmerzliche Erinnerung ist nicht mehr in unserem bewussten Gewahrsein gegenwärtig. Dissoziation ist einer der stärksten Mechanismen des Gehirns, um uns vor zu viel Stress, Schmerzen oder Trauma zu schützen.21 Unser Gehirn ist beinahe von Geburt an zu Dissoziation fähig. Und Dissoziation unterstützt tatsächlich unsere Resilienz, wenn wir Traumata wie Gewalt oder Missbrauch bewältigen müssen, aus denen es keinen anderen Ausweg gibt.

Wir haben vermutlich alle in mancherlei Hinsicht schon einmal dissoziiert: Sie haben sich, zu Tode gelangweilt in der dritten Klasse, vielleicht in Tagträumen verloren und waren bis zur Pausenglocke geistig abwesend. Es gibt hier weder Scham noch Schuld. Aber Dissoziation ist nicht dasselbe, wie etwas bewusst im Ruhezustandsnetzwerk zu verarbeiten, um Gewahrsein zu fördern und davon zu lernen.

Sie können das Gehirn sofort aus der Grübelei oder der Dissoziation herausholen, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas im gegenwärtigen Moment fokussieren – auf die Empfindungen des Atems oder den Kontakt der Füße mit dem Boden. Aber Sie können ebenso den positiven Aspekt des Ruhezustandsnetzwerks, der Vorstellungskraft und freien Assoziation, nutzen, um spontan und wahllos neue Einblicke und Verhaltensweisen aus Ihrer eigenen tiefen inneren Weisheit zu schaffen.

Konditionierung, neue Konditionierung, Rekonditionierung und Dekonditionierung: Den Prozess der Gehirnveränderung in dieser Reihenfolge zu lernen wohnt eine besondere Weisheit inne.

Konditionierung bildet neuronale Schaltkreise während des gesamten Lebens in Ihrem Gehirn. Es ist gut, wenn Sie sich Ihrer zuvor konditionierten Reaktionsmuster bewusst werden, denn diese nun im impliziten Gedächtnis gespeicherten Muster, also außerhalb Ihres Bewusstseins befindlich, können durch ein gegenwärtiges Ereignis ausgelöst werden und Sie so, wie Sie immer schon darauf reagierten, reagieren lassen, ehe Sie überhaupt die Möglichkeit haben, sich zu entscheiden, ob Sie so reagieren möchten.

Manchmal sind Ihre konditionierten Reaktionen genau richtig, manchmal sind sie nicht mehr hilfreich. Kompliziert ist, dass implizite Erinnerungen keinen Zeitstempel haben. Kommen sie »wie aus dem Nichts« an die Oberfläche, fühlen sie sich jetzt so real an wie damals und Sie reagieren vielleicht so, als ob die erinnerten Ereignisse jetzt gerade stattfänden, ohne zu merken, dass sie nur eine Erinnerung sind. Wenn Sie sich dieser Muster gewahr werden (und Sie werden dies das ganze Buch hindurch üben), können Sie sich entscheiden, sie neu zu verdrahten oder ganz neue Reaktionsgewohnheiten aufzubauen.

Neue Konditionierung erzeugt neue neuronale Schaltkreise und neue, effektivere und resilientere Reaktionsmuster. Diese neuen Schaltkreise verlaufen neben den alten Schaltkreisen oder überlagern sie und geben Ihnen damit weit mehr Möglichkeiten, mit neuen oder wiederkehrenden Herausforderungen fertig zu werden.

Mit zusätzlichen neuen Möglichkeiten und mit einer größeren Stabilität innerhalb des Gehirns können Sie nun entscheiden, Rekonditionierung bewusst einzusetzen, um alte Muster neu zu verdrahten, wenn Sie sich ihrer bewusst werden. Dieser Prozess ist höchst effektiv. Bewusst und sorgfältig angewendet, können Sie mithilfe von Rekonditionierung Ihre Aufmerksamkeit fokussieren und nicht nur alte Muster neu verdrahten, sondern bewusst Veränderungen in der Gehirnstruktur bewirken.

Sind Sie in der Lage, die Aufmerksamkeit Ihres Gehirns zu fokussieren, dann können Sie auch lernen, Ihre Aufmerksamkeit zu defokussieren und das Gehirn ohne die Vormundschaft des präfrontalen Kortex spielen zu lassen, ganz im Wissen, dass Sie jederzeit, wenn nötig, zu einer fokussierten Aufmerksamkeit zurückkehren können. Im Ruhezustandsnetzwerk kreiert das Gehirn seine eigenen Assoziationen und Verbindungen und stellt Bezüge auf neue und manchmal sehr einfallsreiche Weise her. Dieser Prozess der Dekonditionierung erzeugt unsere tiefe intuitive Weisheit. Mithilfe der Übungen in diesem Buch können Sie auf diese Weisheit zugreifen.

 

Während Sie diese Prozesse kompetent einsetzen, um eine größere Resilienz in Ihren Wahrnehmungen von Ereignissen und Ihren Reaktionen darauf aufzubauen, werden Sie anfangen, sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der diese Prozesse effektiv zur Veränderung des Gehirns benutzen kann. Sie werden sich selbst als jemanden sehen, der Werkzeuge gekonnt einsetzt, um mit Schwierigkeiten, Enttäuschung und sogar Katastrophen umzugehen. Sie werden verstehen, dass Sie mehr Resilienz und ein größeres Wohlbefinden entwickeln können.

Die fünf Arten von Intelligenz

Kapitel 2 bis 7 beschreiben viele Werkzeuge, die diese drei Prozesse der Gehirnveränderung benutzen, um Ihnen zu helfen, Ihre fünf Arten von Intelligenz zu stärken.

1. Somatische Intelligenz

Um auf die somatische Intelligenz, die dem Körper innewohnende Intelligenz, zurückzugreifen, bedarf es körperbasierter Werkzeuge wie Atem, Berührung, Bewegung, soziale Kontakte und Visualisierung, um den Stress und die Überlebensreaktionen des Nervensystems handzuhaben, um die umfassendere Funktionsweise des höheren Gehirns einzuschalten und die Körper-Gehirn-Einheit wieder in ihr natürliches physiologisches Gleichgewicht zurückzubringen. Die Entwicklung dieser Intelligenz fördert Ihr Gefühl von Sicherheit und Vertrauen und bereitet die Neuroplastizität Ihres Gehirns auf neues Lernen vor. Ihre »Resilienzbandbreite« dehnt sich aus, Sie sind willens und bereit, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und neue Risiken einzugehen.

2. Emotionale Intelligenz

Mithilfe von emotionaler Intelligenz können Sie intensive Momente wie Wut, Furcht, Trauer, Scham und Schuld besser bewältigen; positive Emotionen kultivieren, die Ihr Gehirn aus Kontraktion, Reaktivität und Negativität heraus- und in mehr Offenheit, Empfänglichkeit und Reaktionsflexibilität hineinbringen; und die Praxis des Mitgefühls, der achtsamen Empathie und eines bewussten Arbeitsmodells des Geistes (Theory of Mind) kultivieren. Sie erlauben Ihnen, auch die Wellen der Emotionen anderer zu reiten und auf sie einzugehen.

3. Beziehungsintelligenz in uns selber

Wenn Sie auf die Beziehungsintelligenz in Bezug auf die eigene Selbstwahrnehmung zugreifen, lernen Sie, die Resilienz, die Sie bereits besitzen, und die Weisheit Ihres klügeren Selbst zurückzufordern; den inneren Kritiker außer Dienst zu stellen, der Ihr Gefühl von Kompetenz, Mut und gesunden Verbindungen zu anderen gefährdet; und all die verschiedenen inneren Stimmen und Teile, die Ihr Selbst ausmachen, zu akzeptieren und, ja, auch willkommen zu heißen. Sie werden den »Ausgangspunkt« eines sicheren, vertrauenswürdigen und mutigen Selbst, die Grundlage Ihrer Resilienz und der Person, die Sie sein wollen, wiederfinden und fördern.

4. Beziehungsintelligenz in Bezug auf andere

Beziehungsintelligenz beinhaltet, zu lernen, mit anderen Menschen Beziehungen einzugehen, sowohl intimer als auch sozialer Art, auf eine Weise, die es möglich macht, diesen Menschen als Zufluchtsort und Ressourcen der Resilienz zu vertrauen und eine Verbindung zu ihnen herzustellen. Sie lernen, zu Ihren Mitmenschen eine Verbindung herzustellen, ohne sich darin zu verstricken, und sich von ihnen zu unterscheiden, ohne sich zurückzuziehen oder zu isolieren; Sie entwickeln eine gesunde Wechselbeziehung mit der gemeinsamen Menschlichkeit der anderen und initiieren und vertiefen Beziehungen, die gesund, resonant, produktiv und erfüllend sind.

5. Reflexive Intelligenz

Wenn Sie reflexive Intelligenz benutzen, dann üben Sie sich in achtsamem Gewahrsein, um klarzusehen, was gerade geschieht und welche Reaktionen Sie darauf haben, um Ihre gewohnten Denkprozesse absichtsvoll zu verlagern und neu zu verdrahten, die ansonsten Ihre Reaktionsflexibilität blockieren, und um geistigen Gleichmut zu kultivieren, der Sie Optionen erkennen und kluge Entscheidungen treffen lässt.

Die drei Ebenen von Unterbrüchen

Die Stärkung dieser fünf Arten von Intelligenz hilf Ihnen dabei, jegliche Ebene von Unterbrechungen Ihrer Resilienz zu umschiffen. In diesem Buch ordne ich Unterbrechungen in drei Ebenen ein:

Ebene 1: Nur ein kleines Ungleichgewicht

Ein wenig aus der Balance geraten ist das, was von Moment zu Moment geschieht, wobei Ihr inneres Resilienzfundament dennoch ziemlich stabil ist. Die Reaktionsflexibilität in Ihrem präfrontalen Kortex ermöglicht es Ihnen, jeder neuen Situation, jedem Unbekannten und jeder Ungewissheit mit ruhiger Zuversicht zu begegnen. Was auch passiert, Sie geraten nur ein wenig aus dem Gleichgewicht. Dieses Buch bietet Ihnen viele Werkzeuge, dieses innere sichere Fundament zu entwickeln und zu stabilisieren. Was auch passiert, Sie können schnell und sicher zu der gefühlten Wahrnehmung dieses Ausgangspunkts zurückkehren.

Ebene 2: Pannen und Kummer, Unruhen und Stürme

Dumm gelaufen. Sie verlieren für kurze – oder manchmal längere – Zeit das Gleichgewicht und Ihre Resilienz entgleist. Es kann aber auch gut laufen. Sie benutzen viele Werkzeuge und Techniken, mit deren Hilfe Sie sich wieder erholen und kompetent reagieren. Sie entscheiden sich, trotzdem zu erscheinen und Ihre Fertigkeiten einzusetzen, um sich wieder aufzurichten und schnell und sicher Fuß zu fassen.

Ebene 3: Zu viel

Menschen werden nur selten mit Schwierigkeiten oder gar Katastrophen konfrontiert, die sie sich selber aussuchen, eine nach der anderen, schön der Reihe nach, ohne vorangegangene Schwierigkeiten. Manchmal hält das Leben mehr parat, als wir handhaben können. Vielleicht passiert eine Katastrophe, vielleicht passieren viele Katastrophen auf einmal. Vielleicht gab es zu viele Katastrophen oder zu viele Traumata zu früh im Leben. Die defensiven Bewältigungsstrategien, die wir womöglich früh gelernt haben, gefährden nun die natürliche Entwicklung des präfrontalen Kortex, sie behindern jegliches neue Lernen und schränken unsere Reaktionsflexibilität heute ein. Vielleicht haben sich die Folgen zu vieler Katastrophen mit der Zeit angesammelt und unsere Resilienz geschwächt. Wenn wir Störungen erleben, die einfach zu viel sind, können Traumata entstehen. Zu lernen, ein Trauma zu verarbeiten und es zu durchleben, ist die Grundlage von Resilienz.

Zu jeder Zeit in Ihrem Leben können Sie sich einer dieser drei Ebenen der Resilienzstörung gegenübergestellt sehen. Die Werkzeuge in meinem Buch helfen Ihnen, sie alle zu umschiffen. Sie finden heraus, welche Werkzeuge Sie benötigen auf der Basis der Resilienz, die Sie in der bestimmten Situation fördern müssen, und verdrahten Ihr Gehirn nach Bedarf neu.

Gehirnveränderung beschleunigen

In meiner Arbeit habe ich fünf Praktiken entdeckt, die diese Prozesse der Gehirnveränderung beschleunigen.

1. Wenig und oft funktioniert am besten

Das Gehirn lernt immer von Erfahrung, jeder Erfahrung, ob positiv oder negativ. Das ist Teil der menschlichen Neurobiologie. Neurowissenschaftler haben auch festgestellt, dass das Gehirn am besten durch die Praxis von wenig und oft lernt, soll heißen, kleine Erfahrungen, viele Male wiederholt.22 Anders ausgedrückt: Es ist vermutlich besser für Sie, eher zehn Minuten pro Tag jeden Tag zu meditieren als eine Stunde lang nur einmal die Woche. Es ist vermutlich hilfreicher für Ihr Gehirn, die Perspektive zu ändern, wenn Sie drei bis fünf Dinge, für die Sie dankbar sind, wahrnehmen und jeden Abend notieren, als eine Liste mit zwanzig Dingen alle auf einmal am Wochenende aufzustellen.

Der Neurowissenschaftler Richard Davidson sagt, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl seien zwei der wissenschaftlich etabliert effektivsten Praktiken und Akteure für Gehirnveränderung.23 Diese Praktiken fungieren ganz genau so, wie das Gehirn am besten lernt: durch Moment-zu-Moment-zu-Moment-Praxis, die viele, viele Male wiederholt wird.