Museum des Gewissens

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Kapitel 3 Flucht

Ich hatte noch nie gehört, geschweige denn gewusst, was ein Kinderheim war. Und wie sich herausstellte, war ich nicht der Einzige, der keine Verwandten und Freunde hatte. Von meinesgleichen gab es mehr als genug. Solche, die niemand haben wollte. Nicht Eltern, nicht Verwandte, nicht fremde Familien, nur die Beamten, die für uns bezahlt wurden. Die in ihren dicken Berichtsbüchern einen weiteren fetten Haken machten.

Einnahmen – Ausgaben.

Netto – brutto.

Eine nächste Einnahme, die vor ihren Köpfen landete, um die staatlichen Gelder, die ohnehin ständig fehlten, zu verschwenden.

Nein, meine Eltern hätten mich nie weggegeben.

Sie hätten es niemals tun können.

Niemals so, wie andere ihre leiblichen Kinder im Stich lassen. Sie hätten nicht zugelassen, dass ich in eine Atmosphäre von Abneigung und Bosheit geriet. Mama und Papa liebten mich sehr. Mich, ihren einzigen Sohn Antoschka. An ihrem Tod, der sie gleichzeitig ereilte, trugen sie keine Schuld. Wie schade, dass ich damals nicht bei ihnen war. Dann hätten mich die grenzenlose Einsamkeit, die Angst der Ungewissheit und das Gefühl des unersetzlichen Verlustes nicht verrückt gemacht. Diese Art von Erfahrungen durchzumachen, gehört nicht zur Kindheit. Es ist das Leben eines Erwachsenen, dem ich noch nicht gewachsen war.

Das Kinderheim machte auf mich einen schrecklichen Eindruck. Sowohl von außen wie von innen.

Unordentlich verputzte Wände mit schäbigem Anstrich.

Rissiger, splitteriger und dreckiger Boden aus knarrenden Dielenbrettern.

Geruch ewiger Armut, der aus jeder Ecke in die Nase stieg.

Dunkle Farben, dunkle Gerüche, dunkle Gefühle.

Essen, das Ekel erregt.

Blaues Kartoffelpüree.

Dünne Suppe mit einem schlecht geschälten Kartoffelstück und einem einsam schwimmenden Kohlblatt.

Weißlicher, ungesüßter Kissel.

Keine Lust, sich auf die graue, streng nach Chlor riechende Bettwäsche zu legen. Es kam mir vor, als ob ich zwischen zwei in Zement getauchte schmutzige Handtücher gebettet würde: hart, kalt, kratzig und schmerzhaft vor Ungemütlichkeit.

Zähne putzen ohne Zahnpasta und Zahnbürste. Es gab weder das eine noch das andere.

Waschen mit kaltem gelbem Wasser.

Handtücher hier – ein Luxus.

Toilettenpapier auch.

Die alltäglichen Kleinigkeiten, an die ich mich in den vierzehn Jahren gewöhnt hatte, verschwanden sofort. Überließen den Platz einem großen stinkenden Loch, in das mich das Leben hineingestoßen hatte und in dem es unmöglich war, etwas Menschliches zu finden. Keine Gegenstände, kein Mitgefühl, keine Freundlichkeit. Nichts davon, was den Anfang des sich entfaltenden Lebens – die Jugend – begleiten sollte.

Worte wie „Liebe“, „Aufmerksamkeit“, „Mitleid“ hörte dort keiner. Diese Worte waren Tabu. Die Erzieherinnen und Lehrer kämpften um ihren eigenen Platz an der Sonne, und der Weg führte über unsere dünnen, vor Abneigung und Hunger erschöpften Körper. Über unsere vor Verlust und geistiger Anspruchslosigkeit hart gewordenen Seelen.

Ich kann mich noch recht gut an eine Erklärung meiner Großmutter erinnern. Sie sagte, dass unsere Seelen nach dem Tod erst zum Gottesgericht kommen und von dort in das Paradies oder in die Hölle. Der Mensch wird nach seinen Verdiensten und seinem Glauben beurteilt. Zwar hatte sie dabei gelacht und gesagt, dass bis jetzt noch keine einzige Nachricht aus dem Jenseits an die Lebenden gelangt sei. Deshalb könne keiner der Erdbewohner den Ablauf des Gottesgerichts genau wissen. Doch lieber nichts riskieren und sich noch im Leben den Weg nach oben, zur Sonne und zum Guten, und nicht in den dunklen Abgrund der Hölle verschaffen.

An diese Worte erinnerte ich mich bereits am zweiten Tag meines Aufenthaltes im Kinderheim. Mir wurde klar, dass ich schon zu Lebzeiten in die Hölle kam, ohne vor Gottes Gericht gestellt zu werden.

Ganz am Ende des Weges in der Sackgasse landete.

Schlechter ging es nicht mehr.

Tiefer auch nicht.

Hier wurde niemand geliebt, weil keiner wusste, was Liebe war. Wie man lieben muss und kann, da er selbst dieses Gefühl nicht erleben konnte.

Liebe war hier ein fremder Begriff.

Keiner hatte Mitleid, weil er nicht wusste, wie man jemanden bemitleiden kann. Keiner beschützte den anderen, da er nicht wusste, was dies bedeutet – jemanden, der schwächer als er selbst ist, zu beschützen.

Die Erzieherinnen vereinten Grobheit, Respektlosigkeit und Bosheit in sich. Schlampig und ärmlich gekleidet drückten sie sich ebenfalls gemein und gedankenarm aus. Genauso schlampig arbeiteten und lebten sie.

Die Mädchen wuchsen entweder schüchtern oder vulgär und frech auf.

Die Jungen verängstigt, wie ich, oder unverschämt und aggressiv.

Jeder der Bewohner dieses ungemütlichen und schmutzigen Hauses war eingehüllt in seinen eigenen und individuellen Kokon.

Kokon des Hasses.

Kokon des Schmerzes.

Kokon der Angst.

Erst hier begriff ich endlich die weisen Worte meiner Großmutter: „Wenn der Mensch Angst hat, wird er aggressiv.“

Dieses beherrschende Gefühl der Angst, die von den Kindern kam, spürte ich. Sie durchbrach die dünnen Wände des Kokons, lief nach außen oder saugte fremde Ängste auf, und dabei umhüllte und eroberte sie die gesamte Umgebung.

Wurde stärker, dichter, fester.

Erfüllte jede freie Zelle mit ihrem klebrigen Gefühl.

Steckte an, wie eine Infektion.

Zwang, sich noch mehr zu fürchten.

Nahm die Reste der Freiheit.

Würgte die Kehle.

Saugte die Kraft zum Leben und Kämpfen aus.

Deutlich spürend, wie sich der freie Raum um mich einengte, fing ich an, mich mit meinem gesamten Wesen – dem mageren Körper und dem unreifen Verstand eines Jugendlichen – zu wehren und über die Flucht nachzudenken. Mich von der immer weiter zunehmenden Angst zu befreien. Den Kopf zu erheben und mit voller Brust einzuatmen. Ein zukünftiges Leben in dieser Hölle konnte ich mir nicht vorstellen.

Aufgrund dieses starken negativen Drucks entstand in mir das Gefühl des Widerstandes. Je schwerer das Leben im Kinderheim von außen auf mich drückte, desto stärker wuchs in mir der Widerstand. Ich wollte hier nicht zu Staub werden und vom Erdboden verschwinden.

Ich wollte weiterleben. Trotz allem.

Leben, für meine Eltern.

Für meine Großmutter.

Für meine umgebrachte Familie.

Leben, nicht irgendwann später, sondern jetzt, jede heutige Stunde, jede Minute.

Mein Wunsch war so groß, dass sich schon sehr rasch die Gelegenheit ergab, sich aus dieser Gefangenschaft zu befreien. Am achten Tag meiner Existenz im Kinderheim rief mich die Direktorin auf ihr Arbeitszimmer. Ihren Namen konnte ich mir noch immer nicht merken. Trotz ihrer stolzen Erscheinung, der herrischen Stimme und ihres schweren Ganges rief diese nicht mehr junge, graue und farblose Frau statt Angst das Gefühl der Gleichgültigkeit in mir hervor.

Nachdem ich an die verkratzte, etwas schiefe Tür des Zimmers der Direktorin geklopft und die Erlaubnis zum Eintreten erhalten hatte, schritt ich schüchtern in den großen Raum, in dem ein seltsam unangenehmer Geruch herrschte. Schweigend setzte ich mich auf den wackeligen, vor dem Tisch stehenden Stuhl und blickte flüchtig zu einer Frau hinüber, die an der Wand saß. Die Direktorin blätterte irgendwelche Unterlagen durch, wandte mir den Blick zu und sagte:

„Also, guten Tag, Glebow. Das ist Frau Julia Mutik, deine Nachbarin. Sie möchte dich zur Beerdigung deiner Großmutter mitnehmen. Die Beerdigung ist heute, deshalb entscheide dich sofort. Möchtest du mitkommen?“

Großmutter!

Großmutters Beerdigung?!

Als hätte ich einen Stromschlag bekommen: Meinen gesamten Körper durchfuhr eine starke Welle eines merkwürdig stechenden Gefühls. Ich zuckte unfreiwillig zusammen und fiel fast vom Stuhl.

Von Kopf bis Fuß bekam ich eine Gänsehaut.

Der Magen schmerzte.

Der Mund füllte sich mit Speichel.

Das Blut stieg mir ins Gesicht.

Als die Direktorin mein mechanisches Kopfnicken, meine zitternden Hände und Augen voller Tränen sah, fügte sie finster hinzu:

„Komm aber nicht auf den Gedanken, zu fliehen. Nach der Beerdigung bringt Frau Mutik dich sofort zurück. Ich ließ mir von ihr schriftlich bestätigen, dass sie die Verantwortung für dich übernimmt. Sei so nett und bring eine Bekannte nicht in Verlegenheit. Komm zum Abendessen zurück. Deine Portion wird auf dich im Speiseraum warten.“

Sonst nichts weiter: Kein Beileid, keine ermunternde Geste oder einen einfachen warmen Blick. Ein Steinklotz eiskalter bürokratischer Gleichgültigkeit. Vor mir saß keine Pädagogin, sondern ein trockener, herzloser Paragraph, der nicht die einfachsten menschlichen Gefühle kannte.

Nach diesen Worten verabschiedete sich die Frau, die sich Julia Mutik nannte, von der Direktorin, und reichte mir die Hand. Mit feuchten Augen voller Tränen schaute ich an ihr vorbei, stand auf und schleppte mich zum Ausgang. Meine Knie zitterten. Ich wollte schreien, schreien vor Schmerz und Mitleid mit mir selbst. Während ich am Kleiderständer vorbeiging, riss ich blindlings die erstbeste Jacke vom Haken und zog sie mir an.

Draußen wehte uns die herbstliche Kühle ins Gesicht. Die Sonne versteckte sich. Der Wind trieb die restlichen Herbstblätter durch die Straße, wirbelte trockenen Staub und kleinere Müllreste auf. Der dunkelgraue Himmel mit seinen dicken Wolken drohte mit baldigem Regen. Wir gelangten aus dem alten dreckigen Gebäude mit schmutzigen Fenstern an die frische Luft. Mit der unbekannten Frau, die sich als Nachbarin ausgab, ging ich zur Bushaltestelle.

 

„Du kannst dich nicht an mich erinnern, Anton“, sprach mich die Unbekannte an, als der Bus losfuhr. Die gekauften Tickets steckte sie in die Manteltasche. „Vor ungefähr zwei Monaten zog ich mit meinem Mann in eure Wohnung ein. Es war im späten Sommer. Ich arbeitete sehr viel, kam spät nach Hause. Es kann sein, dass du mich daher nicht mehr im Gedächtnis behalten hast. Aber ich kannte deine Großmutter Alina Michajlowna. Sie war ein sehr guter Mensch. Glaube mir, es tut mir von ganzem Herzen leid, dass dieses Unglück in deiner Familie geschah.“

Schweigend schaute ich durch das Fenster auf die vorbeifliegenden Gebäude mit grauen schmutzigen Fenstern, auf die nackten Bäume und auf die finsteren Menschen, die mit ihren Sorgen beschäftigt waren. Ich bedurfte der Offenbarungen dieser Frau nicht. Doch die Wahrheit über das, was in Wirklichkeit vorgefallen war, wollte ich dennoch wissen. Diese „Sachlage“, von der der Polizeibeamte vor der Türe unserer Wohnung gesprochen hatte. Die Wahrheit darüber, warum meine Großmutter gegangen war, ohne sich von mir zu verabschieden. Und wieso ich mich als Erster verabschieden musste. Von ihr, der Toten.

„Woran ist Großmutter gestorben?“, presste ich mit großer Mühe aus mir heraus und verschmierte dabei mit der Hand die Tränen auf meinen Wangen.

Die Nachbarin holte ruhig ein großes Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es mir, wobei sie vorsichtig meine Wange berührte. Nachdem ich das Gesicht abgewischt und die feuchte Nase gesäubert hatte, beantwortete sie meine Frage:

„Nun gut, Anton, du bist kein Kind mehr. Du bist schon ein großer Junge, deshalb erzähle ich dir alles, was ich weiß. Es ist besser so. Kennst du noch unseren Nachbarn Raschid? Als er aus dem Geschäft nach Hause kam, sah er die offene Tür eurer Wohnung und deine Großmutter, die tot in einer Blutlache auf dem Boden lag. So erklärte er das den Polizisten. Ich kam damals in der Mittagspause nach Hause und bekam dieses Gespräch mit.“

„Ich möchte zurück in unsere Wohnung. Im Kinderheim kann ich nicht mehr bleiben. Ich ersticke dort. Es ist ekelhaft. Können Sie mir helfen?“

Für die Frau kam diese Frage sehr überraschend.

„Entschuldige, Anton. Außer, dass ich dich zur Verabschiedung deiner Großmutter begleite, kann ich nichts mehr für dich tun. Verzeih. Aber ich halte es für richtig, dir einfach das zu erzählen, was ich selbst weiß.“ Die Frau zupfte an ihren gestrickten Handschuhen und schaute mich an, als trüge sie Schuld an dem geschehenen Unglück. „Ehrlich gesagt, haben wir nicht erfahren, was an diesem Tag passiert ist und wer Alina Michajlowna überfallen hat. Aber weißt du, die Sache ist irgendwie merkwürdig. Am zweiten Tag nach dem Überfall verschwand Raschid aus der Wohnung. Sein Zimmer stand offen, aber er war nicht da. Keiner hat ihn gesehen und keiner wusste, wo er ist ... Raschid ist spurlos verschwunden. Mein Mann und ich haben unerwartet ein Angebot für einen Wohnungswechsel bekommen. Eine separate Wohnung. Ohne Zuzahlung! Für uns ist das eine große Freude. Wir haben schon die Papiere unterzeichnet. Gepackt haben wir auch, ziehen nächste Woche um ... Alles kam so überraschend ... Was aus euren Zimmern wird, weiß ich nicht, ich habe keine Ahnung. Sie sind noch versiegelt. Vielleicht sagt es dir deine Direktorin? Oder du musst dich an das Jugendamt wenden. Ich habe keine Ahnung, was man in ähnlichen Situationen machen muss ... Im Kinderheim werden sie dir ganz bestimmt weiterhelfen. Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Mach dir aber keine Sorgen, früher oder später klärt sich alles auf, und alles wird wieder gut.“

Die letzte Worte sagte meine Nachbarin sehr schnell und erhob sich von ihrem Sitz: Im Fenster war das Schild „Friedhof Kinoweewskoje“ erschienen.

Unsere Haltestelle.

Die Beine trugen mich wie von alleine aus dem Bus. Den Kopf umhüllte ein Luftsack, der die Ohren verstopfte. Die Schultern sanken nach unten, niedergedrückt durch den Kummer. Von Antoscha Glebow blieben nur die Augen übrig. Er selbst löste sich wie in feuchte, kalte Luft auf. Kraftlos und nicht in der Lage, die Last des geschehenen Unglücks zu tragen.

An den Abschied von der Großmutter kann ich mich nur szenenhaft erinnern. Genauer gesagt, nicht an den Abschied von ihr, weil sie mir gar nicht gezeigt wurde. Von den Erinnerungen an sie. Ich sah nur die grob zusammengeschlagene Holzkiste, in der sie lag. Nicht lebend. Schweigend, kalt, steif. Der Sarg war zugenagelt worden, ohne zu gestatten, den letzten lieben Menschen noch einmal zu sehen. Warum? Wer gab ihnen das Recht, mir dieses einzige Privileg zu nehmen? Noch einmal das liebe Gesicht zu berühren, die toten Lippen zu küssen, den Kopf auf die kalten Hände zu legen.

Schreckliche Zeiten.

Herzlose Menschen.

Grausame Welt.

Der Kopf war benebelt. Ab und zu löste sich dieser Nebel auf, verwirrt von Julia Mutiks erschreckenden Worten:

Auf dem Boden in der Blutlache ...

Kam zur Mittagspause ...

Nicht im Gedächtnis behalten ...

Die Zimmer versiegelt ...

Ziehen um ...

Raschid verschwand ...

Deine Direktorin ...

Die Worte wiederholten sich, stießen aneinander und drehten sich im unaufhörlichen Reigen. Sobald mein Gehirn auf das letzte Wort „Direktorin“ stieß, durchdrang meinen Körper ein stromstoßartiger Pfeil, der mich jäh in die Realität zurückbrachte, in die ich aus meinem benebelten Zustand überhaupt nicht mehr hatte zurückkehren wollen. Ich wurde gedreht, gewirbelt und umgekippt, wie auf einer Schaukel.

Endgültig holte mich ein lauter Schlag aus meiner Betäubung zurück, der aus dem Grab kam. Aus dem Loch, das einem schwarzen, aufgesperrten Rachen ähnelte. Ein Klumpen gefrorener Erde war auf den Deckel des ungehobelten Sarges geprallt. Neben dem Grab standen nur Julia Mutik und ich. Sie hatte nach christlichem Brauch Erde auf den Sargdeckel geworfen.

In ungefähr zwei Metern Abstand von uns standen zwei Männer. Sie waren ungepflegt und unrasiert. Sich auf die Umzäunung der daneben liegenden Grabstätte stützend, rauchten sie Papirossy und schauten uns zu. Neben ihnen lagen zwei schmutzige Schaufeln. Die Männer warteten, bis wir gingen, um ihre Arbeit zu erledigen. Um die Überreste des mir lieben Menschen zu begraben, mit Erde zu überschütten. Um die letzte Seite des Lebens von Alina Michajlowna Glebowa, geboren 1926, zuzuschlagen.

Der besten Großmutter auf der Welt ...

In dieser Sekunde glaubte ich zum ersten Mal ihren Worten nicht, dass das Leben sehr schlicht sei. Ich kam wieder zu mir, weil ich aufhörte, die Welt zu verstehen. Das Leben schien mir in diesem Moment so unheimlich schwer wie die Erdkugel. Schrecklich wie die Grauen der Welt. Ungerecht wie mein gesamtes Leiden. Und – beendet. Während ich mit erkaltender Seele die letzten Sekunden in das schwarze Loch der Ewigkeit schaute, in dem mein letzter verwandter Mensch lag, packte mich der Wunsch, auch zu sterben.

Zusammen mit meiner Großmutter.

Meiner Lieben.

Einzigen.

Meiner verstorbenen Welt.

Ich wollte neben ihr liegen.

Zusammenrücken, mich an sie drücken.

Alles auf der Welt vergessen.

Nur ihre Liebe und Geborgenheit spüren.

Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit.

Ihr Tod hinderte mich nicht daran, an sie als lebendige Frau zu denken, mich ihr zu nähern.

Es schien mir, als ließen die fieberhaften Gedanken mein Gehirn anschwellen. Nutzlos rasten sie hin und her im Inneren meines vor Anspannung glühenden Kopfes und fanden weder Bestätigung noch Verneinung. Es zerriss mich zwischen zwei Polen, zwei Welten, zwischen Leben und Tod.

Wurde ich verrückt, an den Tod denkend? An die Tote als Lebendige? Aber die Großmutter war wirklich tot. Ging fort und ließ mich allein. So eine Großmutter würde ich nie wieder haben.

Niemals.

Wozu dann leben? Mein Leben hatte mir ein anderer geraubt, den ich nicht kannte. Nahm es mit und ließ mich hilflos am Scheideweg stehen. Mich, einen unselbständigen Jungen, der keine Erfahrung mit dem erwachsenen Leben hatte ...

In das große zahnlose und schwarze Maul schauend, wurde mir bald heiß, bald kalt, bis ich mich endlich zum Leben entschied. Die Angst vor dem Leben überwältigte die Angst vor dem Tod. Der Wunsch zu leben drang durch einen dünnen, saftlosen Keim nach oben und stieß auf den ersten vernünftigen Gedanken: Und wenn man doch nicht sterben möchte, kann man denn nicht wenigstens etwas vom Leben gewinnen? Ich wurde wach. Wach, um zu leben und um zu kämpfen.

„Dürfte ich noch einmal unser Haus sehen?“ Ich erhob meine vor Tränen feuchten Augen zu Julia Mutik. Ich hatte kaum eine Stimme, sie hatte sich in meinem Kummer aufgelöst. „Wenn ich schon nicht in die Wohnung darf, kann ich denn noch einmal das Haus anschauen? Zum letzten Mal. Bitte!“

Die Frau schwankte ein paar unendlich lange Sekunden. Von oben rieselte es eine mikroskopische Feuchte, die das Gesicht bedeckte und mehr spitzen Nadeln ähnelte als Regen. Mein Herz blieb stehen, in Erwartung der Entscheidung für mein weiteres Leben. Der Atem stockte. Der Körper spannte sich.

„Einverstanden, gut. Wir fahren zu unserem Haus. Aber nur ganz kurz. Du schaust es an, dann bringe ich dich sofort zurück. Ich habe ein Papier unterschrieben, in dem ich die Verantwortung für dich übernommen habe, es tut mir sehr leid, Anton … Wir fahren, ausnahmsweise … Du musst es noch zum Abendessen schaffen. Das sagte deine Direktorin.“

In der Stimme der Frau hörte man Mitleid und etwas wie Schuld.

Aber keine Liebe.

Keine Anteilnahme.

Kein Mitempfinden.

Sie hatte es schon geschafft, sich in den Kokon des eigenen Unglücks zu hüllen ...

Als wir uns dem Haus, das noch vor zwei Wochen meines gewesen war, näherten, setzte ich mich immer mehr mit dem Gedanken auseinander, wegzulaufen und nicht in das verhasste Kinderheim zurückzukehren.

In seine schäbigen und dreckigen Wände.

Zu den halb verhungerten Existenzen.

Zu den groben Verhältnissen.

Zu den benachteiligten und eingeschüchterten Altersgenossen.

Ich wollte mich nicht, wie sie, in einen Hasskokon hüllen. Ich wollte fliehen, bis mir die Knie schmerzten.

Jetzt, diese Sekunde.

Wenn schon keine Liebe bekommen, dann wenigstens ein bisschen Freiheit.

Freiheit vor Gewalt und Einschränkungen.

Meine Gefühle strebten nach außen, ich konnte sie nur mühsam bändigen.

Der Bus hielt am üblichen Platz an. An der Haltestelle, die mir durch den ein wenig schiefen Pfosten mit dem Schild „Newski Prospekt“ bekannt war. Das in der Tiefe des Hofes stehende, gräulich rosarote Haus schaute mich mit seinen ungeputzten Fenstern traurig an, so als ob es nachdächte: Soll ich dich wieder zurücknehmen? Mich, den man nach fremdem und bösem Willen vor wenigen Tagen hier hinausgeworfen hatte. Mich, den Zurückgewiesenen, Unglücklichen, Niedergedrückten. Sogar das alte, gefühllose Mauerwerk hatte Mitleid mit meinem Schicksal. Wollte helfen und trösten.

Je näher wir dem Eingang kamen, desto schneller wollte ich weglaufen. Jetzt und sofort umdrehen und fliehen. Aber eine unbekannte, unerklärliche Vernunft hielt mich zurück und warnte: Noch nicht. Julia Mutik darf nicht mitbekommen, in welche Richtung ich weglaufen werde. Sonst wird ihr klar, dass ich ein Flüchtiger bin, und mein Plan fliegt auf. Sie wird sofort erkennen, hinter welcher Tür ich mich verstecken will.

Holt mich ein.

Fängt mich.

Packt fest zu.

Und dann bin ich erledigt.

Ohne Vertrauen.

Ohne Alternative.

Ohne Vergebung.

„Au!“, schrie ich unvermittelt meiner Begleiterin zu und rümpfte die Nase vor Schmerz. Ich zeigte der Frau meinen Finger, an dem aus einer kleinen Schnittwunde Blut austrat, und begann, die Hand zu schütteln. „Er blutet schon wieder. Wahrscheinlich eine Entzündung. Ich kann das Blut nicht stoppen. Es will nicht verheilen, schon mehrere Tage nicht. Vielleicht haben Sie zu Hause Jod und einen Verband? Bei ihnen, ich meine, bei uns im Kinderheim ist der Verbandskasten leer.“

Die Hoffnung ließ nicht nach. Mitleid war mein einziges Instrument, meine Waffe. Es sollte doch für eine erwachsene Frau möglich sein, ihren Kokon für ein paar Minuten zu verlassen und den kleinen unglücklichen Jungen zu trösten? So dachte ich. Und mein einfacher Plan funktionierte. Ich als Waisenkind tat jemandem leid. Das war die normale Reaktion eines jeden wohlgeratenen und glücklichen Menschen. „Auch wenn ich jetzt lüge, bringt meine Unwahrheit niemanden um“ – dieser Rettungsgedanke rechtfertigte die Lüge, die mich doch stets angewidert hatte.

 

Hilflos schaute sich Julia Mutik um und dachte einige Minuten nach, was sie mit mir tun sollte. Eine große Wahl hatte sie nicht. Sie musste eine Entscheidung treffen, was wichtiger war – das gegebene Wort oder ein schlechtes Gewissen wegen unterlassener Hilfeleistung gegenüber einem Kind. Eine Entscheidung, die wie ein spitzer Keil zwischen Vernunft und Impuls der Seele drang.

Zwischen Pragmatismus und Anstand.

Im Grunde zwischen Egoismus und Altruismus.

Endlich schaute sie mich mit einem bettelnden Blick an und sagte in etwas beschwörendem Ton:

„Anton, ich kann dich nicht zu mir nach Hause bitten. Mein Mann ist jetzt dort, er wird böse, wenn er erfährt, dass du hier bist. Er weiß nicht, dass ich dich zur Beerdigung mitgenommen habe. Ihm hat diese Idee von Anfang an nicht gefallen. Er war dagegen. Versprich mir, dass du hier auf der Bank auf mich wartest. Ich komme in genau fünf Minuten zurück. Ich hole Jod und Verbandszeug. Ich verbinde dir den Finger und wir fahren ins Kinderheim. Bleibst du auch sitzen?“

Ich nickte mit dem Kopf, senkte den Blick nach unten, versuchte mein frohes Lächeln zu verbergen, indem ich heftig auf den Finger pustete. Die gestrige Wunde hatte ich extra aufgekratzt. Sobald Julia Mutik mir der Rücken zuwandte, begann ich, den Finger energisch zu schütteln, damit sich die Wunde schneller zuzog. Das hatte mir einmal meine Großmutter beigebracht. Mit großer Freude im Herzen schaute ich auf den Rücken der sich von mir entfernenden Frau. Der Frau, die mir unfreiwillig die Freiheit schenkte. Wovon sie aber noch nichts wusste.

Kaum hatte sich die schwere hölzerne Eingangstür hinter dem Rücken meiner ehemaligen Nachbarin geschlossen, sprang ich von der Bank und lief mit aller Kraft in die nächste Straße. Mein Ziel war die große Eremitage, die sich ein paar Minuten zu Fuß von unserem Haus befand. Diese hatte ich oft mit meiner Alina besucht, und ich fand mich ziemlich gut in deren zahlreichen Sälen zurecht.

Ich musste es bis dahin schaffen.

In der Menschenmenge verschwinden.

Unter den Besuchern auflösen.

Die langersehnte Freiheit erlangen.

Die letzten Meter zum Hauptgebäude der Eremitage, dem Winterpalast, ging ich absichtlich langsam und richtete inzwischen meine zerzausten Haare her. Meine weißblaue Strickmütze hatte ich unterwegs verloren, ohne es in der Eile zu bemerken. Ich schaute vorsichtig zurück, und als ich nichts Verdächtiges feststellte, betrat ich diesen Tempel der Rettung. Einen Tempel, unendlich wie die Welt und wunderschön wie das Leben – den Tempel der Kunst und der Kultur.

Ich drehte meinen Kopf in alle Richtungen und starrte auf die bekannten Skulpturen, die in der riesigen Eingangshalle aufgestellt waren. Gleichzeitig überlegte ich angespannt, wie ich ohne Eintrittskarte in das Museum gelangen könnte. Nachdem ich eine Weile unter den zahlreichen Touristen herumgeschlendert war, verließ mich etwas der Mut, bis ich eine Schülergruppe entdeckte, die einen Ausflug machte. Ich ging sofort zu ihr und stellte mich so hin, dass ich für sie abgesondert, für die Blicke aller anderen aber der Gruppe zugehörig schien. Gut, dass die Museumswärterin abgelenkt wurde und die Klassenlehrerin nicht in meine Richtung schaute. Auf diese Weise schlich ich mich unbemerkt zwischen die anderen Kinder. Als ich an der Kontrolleurin vorbeilief, sonderte ich mich ein wenig von der Schülergruppe ab, verließ sie aber nicht ganz. Zusammen mit ihr stieg ich die breite Marmortreppe mit dem ausgelegten roten Teppich hinauf. Neben der Gruppe und gleichzeitig abseits. Auf dem oberen Treppenabsatz senkte ich vorsichtig meinen Kopf, schaute durch den Raum und beruhigte mich etwas. Kein Verfolger in Sicht. Anscheinend war ich gerettet. Frei. Hier würde es nicht einfach sein, mich zu finden.

In der Besuchertoilette wusch ich meine Hände und das Gesicht. Die kleine Wunde am Finger zog sich zu und hörte auf zu bluten. Ich säuberte ein wenig meine Sachen und brachte meine Haare in Ordnung. Jetzt schaute mich kein Waisenkind, sondern ein ganz normaler Petersburger Junge aus dem Spiegel an. Ich drehte mich zum Fenster, holte aus der Tasche ein weiches Butterbrot mit Käse, das Julia Mutik extra für mich gemacht hatte, und begann langsam zu kauen. Denken wollte ich an nichts. Müdigkeit und die Aufregung des langen Tages zerrten an meinen Kräften, leerten meinen Kopf und verwirbelten meine Gedanken. Ich wollte nach Hause, in mein Bett. In das gemütliche Heim.

Die trockene Mahlzeit spülte ich mit Leitungswasser hinunter und machte mich auf die Suche nach einem ruhigen Schlafplatz. Für lange Tage und Nächte, Wochen und Monate. Weil ich sonst keine andere Bleibe hatte. Das große Museum war für mich, ein Waisenkind, der beste Zufluchtsort. Unvergleichlich besser als das Kinderheim. Viel besser als ein obdachloses Leben auf der Straße ...

Die Eremitage befand sich kurz vor der Schließzeit. Die Angestellten teilten dies dem deutlich dünner gewordenen Besucherstrom mit und freuten sich nach langem und schwerem Arbeitstag auf den Feierabend. Ich musste jetzt schnell ein unauffälliges Plätzchen finden und mich dort verstecken. Verbergen, verkriechen, vor den wachsamen Augen der Museumsangestellten verschwinden. Sie würden ganz bestimmt kein Mitleid mit mir haben. Dem Obdachlosen von der Straße, zu dem ich vor zwei Wochen geworden war. Dem ehemaligen normalen Jugendlichen.

Dieses riesige Museum mit hunderten von Sälen, kilometerlangen Parkett- und Marmorböden, Millionen von unschätzbaren Ausstellungstücken wählte ich zu meinem Wohnort.

Als Alternative für das verlorene Haus.

Als Ersatz für Großmutters Liebe.

Als großen und liebevollen Kokon der Sicherheit und Stabilität, in den ich mich so schnell wie möglich einhüllen wollte.