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Kindheit

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24. Die Mazurka

Die Musik begann; Großmutter kam aus dem Gastzimmer; man rollte ihren weichen Sessel herein und sie setzte sich in die Saalecke zu einem alten, ordengeschmückten Herrn, der soeben vom Kartentisch aufgestanden war, und zu einer Dame. Da ich zur Mazurka keine Tänzerin hatte, stellte ich mich hinter die hohe Stuhllehne, lauschte der Unterhaltung und beobachtete die Tanzenden.

Der junge Mann, dem ich die Dame weggeschnappt, tanzte im ersten Paar. Er sprang, seine Dame an der Hand haltend, vom Stuhl auf, anstatt aber den »pas de Basque« zu machen, wie Mimi uns gelehrt, lief er einfach vorwärts, blieb in der Ecke stehen, stampfte mit den Hacken auf, spreizte die Beine, machte kehrt und lief hüpfend weiter.

Was macht der nur, dachte ich, das ist doch gar nicht so, wie Mimi es uns gezeigt hat; sie behauptet, die Mazurka würde schwebend auf den Fußspitzen mit kreisförmiger Beinbewegung getanzt – nun ist es ganz anders. Da sind Iwin und Wolodja ebenfalls. Wenn er sich nur nicht blamiert, der Ärmste! Nein, wirklich gar nicht übel; er tanzt auch so. Großartig!

Die Mazurka ging zu Ende; einige ältere Herren und Damen verabschiedeten sich von Großmutter und fuhren fort. Diener trugen, den Tanzenden vorsichtig ausweichend, Geschirr in die Hinterzimmer. Großmutter war ersichtlich müde und sprach sehr gedehnt, gleichsam unlustig. Die Musikanten spielten zum dreißigstenmal träge dasselbe Motiv. In diesem Augenblick kam das große Mädchen, mit dem ich getanzt hatte, in Begleitung einer der zahllosen kleinen Fürstinnen und Sonjas auf mich zu; wohl um Großmutter zu gefallen, lächelte sie ihr zu und richtete folgende zartsinnige Frage an mich: »Rose oder Hortensie?«

»Ah, du bist hier, Freundchen!« wandte Großmutter sich zu mir um, »geh nur, geh.«

Nicht ohne Zittern und Zagen sagte ich: »Hortensie« und war noch nicht zur Besinnung gekommen, als schon eine kleine Hand im weißen Handschuh in der meinigen lag und Sonja fröhlich lächelnd auf ihren kleinen Zehenspitzen vorwärts tanzte ohne zu ahnen, daß ich mit meinen Füßen nichts anzufangen wußte.

Obgleich ich mir klar darüber war, daß das pas de Basque jetzt unangebracht, ungehörig sei und vielleicht unangenehme Folgen für mich haben könnte, wirkten die bekannten Mazurkaklänge auf mein Ohr, teilten sich den Nerven mit, die ihrerseits die Bewegung auf die Beine übertrugen, so daß diese letzteren unwillkürlich und zum Erstaunen aller Zuschauer die verhängnisvollen, gleitenden, kreisförmigen pas auf den Zehenspitzen beschrieben, die Mimi mir wahrscheinlich zum Schabernack beigebracht hatte.

Solange wir geradeaus tanzten, ging die Sache noch; als wir aber an die Biegung kamen, bemerkte ich, daß ich, beim Beibehalten des pas de Basque, sicher vorwärts tanzen würde. Um das zu vermeiden, blieb ich stehen und wollte dieselben Beinbewegungen auf dem Fleck machen, die der junge Mann im ersten Paar und andere so hübsch ausführten.

In dem Augenblick, als ich die Beine spreizte und schon springen wollte, blickte Sonja, die schnell um mich herumlief, ernsthaft und neugierig auf meine Beine. Vielleicht wäre mein Sprung noch halbwegs gelungen, wenn Sonja nicht so genau zugesehen hätte. Sobald ich das aber bemerkte, verlor ich vollständig die Fassung, und statt des kühnen pas, den ich beabsichtigt, wurde ich so verlegen, daß ich ohne jeden Takt, höchst komisch, und ganz unbeschreiblich auf der Stelle hüpfte. Dann blieb ich vollends stehen und sah mich um. Alle starrten mich an; einige neugierig, andere mitleidig, noch andere spöttisch. Großmutter blickte kaltblütig drein. Wolodja zwinkerte und machte mir Zeichen; Papa wurde rot, stand auf, trat zu mir und nahm mich bei der Hand.

»Il ne fallait pas danser, si vous ne savez pas!« raunte er mir ärgerlich ins Ohr, nahm Sonjas Arm und tanzte unter lautem Beifall der Zuschauer die Tour mit ihr nach alter Manier zu Ende.

Ich hatte nicht einmal den Mut, an meinen Platz zurückzukehren, verschwand im nächsten Zimmer und wälzte mich in stummer Verzweiflung auf einem Sofa. Dieser Übergang vom glücklichen zuversichtlichen Gemütszustand zum drückenden Bewußtsein des tiefen Falles war schrecklich. Wäre in diesem Augenblick die Möglichkeit gewesen und die Versuchung an mich herangetreten, mir das Leben zu nehmen, – ich war so unglücklich, daß ich keine Minute gezögert hätte. Das schlimmste war, daß Sonja mich so fragend und neugierig-mitleidig angesehen hatte. Herrgott, wofür strafst du mich so hart, dachte ich. Jetzt ist alles verloren; alle verachten mich und werden mich stets verachten; mir sind alle Wege versperrt, zum Glück, zur Heiterkeit, Freundschaft, Liebe, Auszeichnung. Alles ist hin. Niemand liebt mich. Gut, jetzt will ich auch niemanden mehr lieben, alle haben sich über mein Unglück gefreut, jetzt will ich mich auch freuen, wenn ihnen etwas passiert!

Warum ist Papa rot geworden und hat mich an der Hand gefaßt? Warum hat Wolodja mir Zeichen gemacht, die alle sehen und die mir nicht mehr helfen konnten? Hätte er das nicht getan, würde niemand etwas bemerkt haben. Er hat es absichtlich getan, um mich zu blamieren; niemand, niemand hat mich hier lieb. Mama wäre sicherlich meinetwegen nicht errötet! …

Und meine Phantasie folgte diesem Bilde weit, weit in die Ferne; ich dachte an Mama, an die Wiese vor dem Hause, die hohen Linden im Garten, den reinen Teich, über dem Schwalben hin und her schossen; an duftende Heudiemen, den blauen Himmel, an dem durchsichtige weiße Wolken standen; an einen stillen heiteren Abend, und viele andere, ruhigfreudige Erinnerungen hielten Einzug in mein aufgeregtes Gemüt.

25. Nach der Mazurka

Die Mazurka war zu Ende. Wolodja, Iwins und der junge Fürst kamen in das Zimmer, in dem ich auf dem Sofa lag und riefen mich, als wenn nichts passiert wäre, nach oben; ich sollte meine Kräfte mit Etienne messen, der sehr prahlte und sagte, er würfe uns alle mit einem Finger um. Hätte jemand sich auch nur die leiseste Anspielung auf mein Mißgeschick erlaubt, so wäre ich rasend geworden und hätte ihnen Unannehmlichkeiten gesagt; da das aber nicht geschah, willigte ich ein, mit nach oben zu kommen, besonders da ich mich in Kraft- und Geschicklichkeitsübungen stets ausgezeichnet habe. Dieser Kampf, das Rennen, Toben und Geschrei zerstreute mich und ließ mich mein Unglück fast vergessen; nur bisweilen kam mir die Erinnerung; dann preßte ich die Zähne zusammen und schrie leicht auf, wie meistens bei sehr unangenehmer Erinnerung. Als wir zum Abendessen gerufen wurden, hatte ich meine misanthropischen Pläne schon vergessen und lief mit dem angenehmen Gefühl der Selbstzufriedenheit, die der Erfolg gebiert, nach unten. Mein Erfolg, ich darf sagen: mein Triumph, bestand darin, daß ich zweimal hintereinander den jungen Fürsten geworfen hatte, einmal derart, daß auf seiner Stirn eine sehr große und sehr lächerliche Beule zum Vorschein kam.

Beim Abendessen, als der Diener jedem von uns aus einer umwickelten Flasche Champagner eingoß, standen wir alle auf und gingen noch einmal zu Großmutter zum Gratulieren. Kaum war das geschehen, so ertönten aus dem Saal die Klänge des Großvatertanzes und überall wurden geräuschvoll die Stühle zurückgeschoben. Ich glaube, ich hätte es niemals riskiert, Sonja wieder aufzufordern, wenn nicht in dem Augenblick, als ich zögerte, Sonjas Mutter vorübergekommen wäre und zu uns beiden gesagt hätte: »Was steht ihr denn da; kommt doch.«

Sonja reichte mir den Arm, und wir liefen aus dem Saal.

Der Ringkampf, das Glas Champagner, die Nähe und Heiterkeit Sonjas ließen mich die unglückliche Mazurka ganz vergessen; ich fühlte nicht die geringste Verlegenheit mehr, war ausgelassen bis zur Tollheit.

Mit den Beinen machte ich die komischsten Dinge; ich ahmte die Gangart eines Pferdes nach, lief in kurzem Trab, hob stolz die Beine, blieb dann auf einer Stelle stehen und trampelte mit den Füßen wie ein Hammel, der über einen Hund böse ist. Dabei lachte ich aus vollem Herzen, ohne mich um den Eindruck zu kümmern, den meine pas auf die Zuschauer machten. Sonja lachte ebenfalls unaufhörlich; lachte, als wir uns Arm in Arm im Kreise drehten; kicherte, als ein Herr mit Schnurrbart und goldenem Ring am Daumen langsam die Beine hebend über ein Schnupftuch stieg, mit einem Ausdruck, als ob ihm das sehr schwer würde, und schüttelte sich vor Lachen, als ich, um meine Geschicklichkeit zu zeigen, fast bis zur Decke sprang. Dieses reizende helle Lachen, bei dem ihr Händchen wie ein Vöglein in meiner Hand zitterte, sowie der schnelle Übergang von der Verzweigung zur Heiterkeit machten mich ganz glücklich.

Als wir durch Großmutters Zimmer kamen, besah ich mich unwillkürlich in dem großen Trumeau in der Ecke. Mein Gesicht war schweißgebadet, das Haar zerzaust, die Borsten sträubten sich mehr als je – trotzdem befriedigte mich der Gesamteindruck; die grauen, noch kleineren Augen als sonst glänzten derart, und der ganze Gesichtsausdruck war so lustig, unbekümmert und gut, gesund und frisch, daß ich mich noch niemals in so vorteilhaftem Licht gesehen hatte. Das rührte wahrscheinlich daher, daß ich mich beim Schauen in den Spiegel gewöhnlich bemühte, einen nachdenklichen und deswegen unnatürlichen dummen Ausdruck anzunehmen. Wäre ich nur immer so wie jetzt! dachte ich, dann könnte ich noch gefallen.

Als ich dann aber wieder auf das schöne Gesichtchen meiner Dame blickte, fand ich dort außer der Fröhlichkeit, Gesundheit und Sorglosigkeit, die mir in meinem Gesicht gefielen, so viel vornehme, zarte Schönheit, daß ich mich über mich selbst ärgerte; ich sah ein, wie dumm es war zu hoffen, die Aufmerksamkeit eines so herrlichen Geschöpfes jemals auf mich zu lenken.

Ich konnte nicht auf Erwiderung meiner Gefühle rechnen und wünschte sie gar nicht; meine Seele strömte auch so von Glück über. Für all meine unendliche Liebe, die vor keinem Opfer zurückschreckte, wünschte, forderte ich nichts: mir war auch so gut. Ich fühlte nur, wie mir das Blut zum Herzen strömte; daß dieses schlug wie eine Taube, daß ich etwas Sonderbares, Unverständliches wollte – wahrscheinlich weinen.

 

Als wir auf dem Korridor am dunklen Verschlage unter der Treppe vorbeikamen, dachte ich: was wäre das für ein Glück, wenn man ein ganzes Jahrhundert lang mit ihr in diesem dunklen Verschlage leben könnte, so daß niemand etwas davon wüßte. Aber das ist nicht möglich, also hat es auch keinen Zweck, daran zu denken; sie geht gleich, und Gott weiß, wann wir uns wiedersehen … vielleicht nie …

Wir waren das letzte Paar; ich ging langsam und beschloß, ihr alles zu sagen, was ich empfand. Aber was? Und wie?

»Nicht wahr, heute war es nett?« begann ich mit leiser, zitternder Stimme und beschleunigte den Schritt, voll Schreck nicht so sehr über das, was ich gesagt hatte, als über das, was ich sagen wollte.

»Ja, sehr,« antwortete sie, mir das Köpfchen mit so gutem offenen Ausdruck zuwendend, daß meine Furcht verschwand.

»Besonders nach dem Abendessen; wenn Sie aber wüßten, wie leid es mir tut – (›weh‹ wollte ich sagen, wagte es aber nicht), daß Sie gehen und wir uns nicht wiedersehen.«

»Warum nicht?« meinte sie, angelegentlich ihre Schuhspitzen betrachtend und mit einem Finger über den durchbrochenen Wandschirm fahrend, an dem wir vorüberkamen.

»Jeden Dienstag und Freitag um zwei Uhr fahre ich mit Mama auf dem Twerskoi Boulevard spazieren. Gehen Sie denn nicht aus?«

»Ich werde sicher um Erlaubnis bitten, und wenn man mich nicht läßt, laufe ich ohne Mütze fort. Den Weg weiß ich.«

Sonja lachte.

»Wissen Sie was?« sagte sie plötzlich, mit dem Fuß einen kleinen Apfel aus dem Wege schleudernd, »ich sage zu einigen Jungen, die zu uns kommen: ›du‹; wollen wir uns auch duzen? Willst du?« fügte sie hinzu und sah mir, das Köpfchen schüttelnd, gerade in die Augen.

In diesem Augenblick traten wir in den Saal, und es begann der zweite, lebhafte Teil des Großvatertanzes.

»Kom … men Sie,« sagte ich, als die Musik und der Lärm meine Stimme übertönten.

»Komm, und nicht: kommen Sie,« verbesserte sie mich lächelnd.

Das »ie«, das sie möglichst derb auszusprechen suchte, erschien mir als der harmonischste Ton, den die menschliche Stimme hervorbringen kann. Ich war hingerissen.

Der »Großvater« war zu Ende; ich hatte nicht einen Satz mit »du« zustande gebracht, obgleich ich mir unaufhörlich den Kopf zerbrach und Wendungen ausgrübelte, in denen das Fürwort mehrmals vorkam. Es fehlte mir an Mut. »Willst du? Komm!« klang es in meinen Ohren und rief einen rauschähnlichen Zustand bei mir hervor: ich sah nichts als Sonja. Ich beobachtete, wie Frau Walachin sie musterte, ob sie vom Tanzen nicht zu sehr erhitzt sei und fahren könnte; wie sie sich kätzchengleich an ihre Mutter schmiegte; sah, wie ihre Locken zusammengenommen und hinter die Ohren gelegt wurden, so daß ein Teil der Stirn und die Schläfe frei wurde, die ich noch nicht gesehen hatte. Diese neuen Stellen schienen mir noch schöner als die bereits bekannten. Ich weiß noch, wie sie in ein großes wollenes Tuch so dicht eingewickelt wurde, daß, wenn sie nicht mit ihren Rosenfingern ein kleines Loch für den Mund freigemacht hätte, sie sicher erstickt wäre. Obgleich man hinter dem Tuch nur die Augen und die Nasenspitze sah, waren diese so lieb, daß ich mich von dem Anblick nicht trennen konnte. Als sie hinter ihrer Mutter die Treppe hinunterstieg, wandte sie sich schnell noch einmal um, nickte mit dem Kopf und dann sah ich sie nicht mehr.

Wolodja, Iwins, der junge Fürst, ich, wir alle waren in Sonja verliebt, standen auf der Treppe und warfen ihr Blicke nach. Wem sie eigentlich besonders zunickte, weiß ich nicht; damals war ich aber fest überzeugt, daß ich es sei.

Beim Abschied von Iwins sprach ich sehr frei, ungezwungen und sogar etwas kalt mit Serjoscha und drückte ihm die Hand.

Diese Veränderung in meinem Benehmen überraschte ihn wahrscheinlich unangenehm, denn er sah mich fragend und nicht gerade freundlich an. Wenn er begriff, daß sein Einfluß auf mich mit dem heutigen Abend sein Ende erreicht hatte, tat ihm das sicher leid, obgleich er sich bemühte, ganz gleichgültig zu erscheinen.

Zum erstenmal im Leben war ich treulos in der Liebe, und zum erstenmal empfand ich die Süßigkeit dieses Gefühls. Es war mir eine wahre Herzensstärkung, das überlebte Gefühl der Ergebenheit gegen ein frisches Liebesempfinden voll Heimlichkeit und Ungewißheit einzutauschen. Außerdem bedeutet mit einer Liebe aufhören und eine neue beginnen, doppelt lieben.

Als ich in den Saal zurückkehrte, sah ich niemanden; ich blickte alle Gäste an und suchte Sonja, obgleich ich wußte, daß sie fort sei, und ich sie unmöglich wiedersehen könnte.

26. Im Bett

Karl Iwanowitsch war noch nicht da; wir legten uns schlafen.

Wie hatte ich, trotz seiner Gleichgültigkeit, Serjoscha Iwin so sehr lieben können? überlegte ich. Nein, er hatte meine Liebe nie verstanden, war sie nicht wert und wußte sie nicht zu schätzen. Sonja dagegen? Wie war die reizend! »Willst du; du mußt anfangen.« Ich sprang auf allen vieren hoch, stellte mir ihr reizendes Gesicht vor, bedeckte den Kopf mit der Bettdecke, stopfte sie auf allen Seiten zu, und als nirgends eine Öffnung mehr war, legte ich mich wieder hin und versank, im angenehmen Gefühl der Wärme, in süße Träume und Erinnerungen. Den Blick auf das Futter der Steppdecke gerichtet, sah ich Sonja so deutlich vor mir, wie eine Stunde vorher; ich sprach in Gedanken mit ihr, und diese Unterhaltung, die gar keinen Sinn hatte, verschaffte mir unbeschreiblichen Genuß, weil das: »du, dir, mit dir, dein« fortwährend darin vorkamen.

Diese Träume waren so klar und angenehm, daß ich vor süßer Erregung nicht einschlafen konnte; ich wollte jemandem mein Glück mitteilen. »Lieb–ling!« sagte ich fast laut, mich schnell auf die andere Seite drehend.

»Wolodja, schläfst du?«

»Nein,« erwiderte dieser schläfrig. »Was ist?«

»Ich bin verliebt, Wolodja, total verliebt in Sonja Walachin.«

»Na u–und?« meinte er gedehnt.

»Ach, Wolodja, du kannst dir nicht vorstellen wie mir ist; eben lag ich unter der Decke, und da hab ich sie so deutlich, so klar gesehen und mit ihr gesprochen – einfach erstaunlich. Willst du glauben, so sehr ich mich schäme, aber ich möchte, Gott weiß warum, schrecklich gern weinen.«

Wolodja bewegte sich.

»Ich möchte nur eins,« fuhr ich fort, »nämlich: sie immer sehen … weiter nichts. Bist du auch verliebt? Sag doch die Wahrheit, Wolodja.«

Sonderbar. Ich wünschte, daß alle in Sonja verliebt wären und alle es erzählten.

»Was geht dich das an,« meinte Wolodja, sich mit dem Gesicht zu mir wendend, »kann schon sein.«

»Du willst gar nicht schlafen, hast nur so getan!« rief ich triumphierend. An seinen Augen sah ich, daß er nicht an Schlaf dachte und schlug die Bettdecke zurück. »Laß uns von ihr plaudern. Nicht wahr, sie ist so reizend … so reizend, daß, wenn sie zu mir sagt: ›Nikolas, spring aus dem Fenster, oder stürz dich ins Feuer, ich möchte es‹ – weiß Gott,« sagte ich, mich zur Beteurung meiner Worte bekreuzend, »ich täte es sofort. Ach, dieser Liebling! Ei–jai–jai, wie reizend!« schloß ich, sie mir deutlich vorstellend, und warf mich, um das Bild so recht zu genießen, mit einem Ruck herum in die Kissen. »Ich möchte schrecklich gern weinen, Wolodja.«

»Du Schafskopf,« sagte er lächelnd und meinte dann nach kurzem Schweigen: »ich bin ganz anders wie du; ich denke, wenn ich könnte, möchte ich erst neben ihr sitzen …«

»Aha! Also du bist auch verliebt,« unterbrach ich ihn.

»Dann,« fuhr Wolodja lächelnd fort und machte dabei so verschmitzte Augen (wie Papa, wenn er mit Damen sprach), »dann möchte ich sie an der Hand fassen, dann ihre Fingerchen, Äuglein, das Näschen, die Lippen, Füßchen, alles möchte ich küssen … möchte sie auffressen!« schloß er, mit den Füßen ausschlagend und mit den Zähnen knirschend.

»Dummheit! Gemeinheit!« schrie ich ärgerlich und wandte mich ab.

»Du verstehst nichts,« sagte Wolodja verächtlich.

»Nein, ich verstehe schon, aber du hast keine Ahnung und redest Dummheiten,« erwiderte ich unter Tränen.

»Ist doch gar kein Grund zum Weinen! Bist ein richtiges Weib!«

27. Ein Brief

Am 16. April, fast sechs Monate nach dem soeben beschriebenen Tage, kam der Vater während des Unterrichts zu uns nach oben und teilte uns mit, daß wir heute nacht mit ihm aufs Land, nach Hause fahren sollten. Mir wurde bei dieser Nachricht beklommen ums Herz; meine Gedanken wandten sich sofort der Mutter zu. Der Grund dieser unerwarteten Abreise war folgender Brief:

Petrowskoie, 12. April.

»Soeben, erst um zehn Uhr abends, erhielt ich Deinen lieben Brief vom 2. April, und meiner alten Gewohnheit gemäß beantworte ich ihn sogleich. Fedor hatte ihn gestern aus der Stadt mitgebracht, da es aber schon spät war, übergab er ihn Mimi erst heute morgen. Die behielt ihn unter dem Vorwande, ich sei nicht wohl, den ganzen Tag. Allerdings hatte ich heute etwas Fieber und, um Dir die Wahrheit zu sagen, bin ich schon drei Tage nicht wohl und bettlägerig.

Erschrick bitte nicht, Liebling; ich fühle mich ziemlich gut, und wenn Iwan Wassilitsch erlaubt, gedenke ich morgen aufzustehen.

Freitag voriger Woche fuhr ich mit den Kindern spazieren; wo der Weg auf die Chaussee mündet, bei der kleinen Brücke, die mir stets Schrecken einflößt, blieben die Pferde im Schmutz stecken. Es war gutes Wetter und ich gedachte, während man den Wagen herausgezogen hätte, bis zur Chaussee zu Fuß zu gehen. Bei der Kapelle fühlte ich mich sehr müde und setzte mich hin, um etwas auszuruhen; da es aber fast eine halbe Stunde dauerte bis Leute kamen, die den Wagen herausziehen konnten, wurde mir kalt, namentlich an den Füßen, weil meine Stiefel dünne Sohlen hatten und durchnäßt waren. Nach dem Mittagessen stellte sich Schüttelfrost und Hitze ein; ich ging, aber, wie gewohnt, meiner Beschäftigung nach und spielte nach dem Tee mit Ljubotschka vierhändig. (Du wirst sie nicht wiedererkennen, solche Fortschritte hat sie gemacht.) Denke Dir mein Erstaunen, als ich bemerkte, daß ich nicht Takt halten konnte. Ein paarmal fing ich an zu zählen, aber es drehte sich alles in meinem Kopf, und ich hatte sonderbares Ohrensausen. Ich zählte: eins, zwei, drei, dann plötzlich acht, fünfzehn – ich fühlte, daß ich verkehrt zählte und konnte es doch nicht besser machen. Endlich kam Mimi mir zu Hilfe und brachte mich fast mit Gewalt zu Bett. Das ist, Liebling, mein ausführlicher Bericht, wie ich krank geworden, und daß ich selbst an allem schuld bin.

Den nächsten Tag hatte ich ziemlich starkes Fieber, und unser guter alter Iwan Wassilitsch kam, der bis jetzt bei mir weilt und mich bald zu entlassen verspricht. Ein prächtiger Alter, dieser Iwan Wassilitsch. Als ich Fieber hatte und phantasierte, hat er die ganze Nacht, ohne ein Auge zu schließen, an meinem Bett gesessen; jetzt, wo er weiß, daß ich schreibe, sitzt er mit den Mädchen im Diwanzimmer, und ich kann vom Schlafzimmer aus hören, wie er ihnen deutsche Märchen erzählt und sie vor Lachen vergehen wollen.

La belle Flamande, wie Du sie immer nennst, ist schon vierzehn Tage bei mir, da ihre Mutter irgendwo zum Besuch ist. Sie zeigt mir durch ihre Fürsorge aufrichtige Anhänglichkeit und vertraut mir all ihre Herzensgeheimnisse an. Bei ihrem hübschen Gesicht, ihrem guten Herzen und ihrer Jugend könnte ein in jeder Beziehung reizendes Mädchen aus ihr werden, wenn sie in gute Hände käme; in der Gesellschaft aber, in der sie lebt, geht sie, nach ihren Erzählungen zu urteilen, ganz zugrunde. Mir kam der Gedanke, wenn ich nicht soviel eigene Kinder hätte, täte ich ein gutes Werk, sie zu mir zu nehmen.

Ljubotschka wollte dir selbst schreiben, hat aber schon den dritten Bogen zerrissen und sagt: ›ich weiß, wie gern Papa spottet; wenn ich einen Fehler mache, zeigt er ihn allen.‹ Katja ist immer noch lieb, Mimi gut und langweilig.

Jetzt von etwas Ernstem. Du schreibst mir, Deine Geschäfte gingen in diesem Winter nicht gut; Du wärest genötigt, von dem Chabarower Geld zu nehmen. Es kommt mir sonderbar vor, daß Du dazu meine Zustimmung erbittest; was mir gehört, gehört doch auch Dir!

Du bist so gut, lieber Freund, daß Du aus Furcht, mich zu betrüben, die wirkliche Lage Deiner Geschäfte verheimlichst; ich errate aber, daß Du sicher sehr viel verloren hast und bin, das schwöre ich Dir, darüber nicht bekümmert. Wenn sich also die Sache noch gutmachen läßt, denke nicht weiter daran und quäle Dich nicht unnütz. Ich bin es gewohnt, für die Kinder nicht auf Dein Einkommen zu rechnen, ja, entschuldige, nicht einmal auf Dein Vermögen. Dein Gewinn freut mich ebensowenig, wie mich Dein Verlust betrübt; mich bekümmert nur Dein unseliger Hang zum Spiel, der mir einen Teil Deiner Anhänglichkeit raubt und mich nötigt, Dir so bittere Wahrheiten zu sagen wie jetzt. Gott weiß, wie weh mir das tut! Ich bitte ihn unaufhörlich um das eine, daß er uns behüte … nicht vor Armut (was ist Armut?), sondern vor dem schrecklichen Zustande, wo die Interessen der Kinder, die ich vertreten muß, mit den unsrigen kollidieren. Bis jetzt hat der Herr mein Gebet erhört – Du hast den Schritt nicht getan, nach welchem wir entweder das Vermögen opfern müssen, das schon nicht mehr uns, sondern unseren Kindern gehört, oder … es ist schrecklich, daran zu denken, aber dieses schreckliche Unglück bedroht uns stets. Ein schweres Kreuz, das Gott der Herr uns beiden auferlegt hat.

 

Du schreibst mir noch von den Kindern und kommst auf unseren alten Streit zurück; Du bittest mich, darein zu willigen, daß wir sie einer staatlichen Erziehungsanstalt übergeben. Du kennst meine Abneigung gegen eine öffentliche Erziehung; glaub mir, daß ist keine Kaprice, sondern meine Überzeugung, daß diese Erziehung schädlich und für junge Leute gefährlich ist. Ich bestreite nicht all die Vorteile, die für die Beamtenlaufbahn durch Verbindungen und Konnexionen entspringen; bestreite auch nicht, daß nur Kinder sogenannter besserer Familien diese Schule besuchen und daß man zu Hause den Kindern nicht solche Lehrer geben kann wie sie dort haben. Du wirst mir aber darin recht geben, daß es außer der Beamtenlaufbahn, Konnexionen und glänzenden Kenntnissen noch gute Grundsätze und feines, zartes Empfinden gibt, auf die man am meisten zu achten hat. Ich weiß, daß in den staatlichen Lehranstalten wohl auf die Sittlichkeit geachtet wird, aber es scheint mir unmöglich, auf alle Kinder gleichmäßig zu wirken; man muß die Richtung, die Neigungen, die vorangegangene Erziehung jedes Kindes kennen, um ihm gute Gefühle einzuflößen, damit es an das Gute glaubt und es liebt. Wie ist das bei gemeinsamer Erziehung möglich? Bei einem Kinde wirkt die Rute, beim anderen Zureden und Ermahnungen. Nur Mutter oder Vater, die schon deswegen, weil sie an den Kindern ihre eigenen Neigungen wahrnehmen und sie daher von kleinauf mit den Augen der Liebe beobachten, können ein Kind soweit begreifen, wie für die Erziehung nötig ist. Allen die gleichen moralischen Grundgedanken beibringen ist dasselbe, wie Ananas, Levkojen, Gurken und Jasmin in denselben Topf pflanzen. Wie gut man die Gewächse auch pflegt – die Hälfte oder die Mehrzahl geht sicher ein. Deswegen lachen die Kinder in öffentlichen Lehranstalten über alle Verhaltungsmaßregeln.

Da ein großer Teil der Kinder in staatlichen Erziehungsanstalten keine Sympathie für die trockenen Tugendregeln, die ihnen beigebracht werden, hat und haben kann, lachen sie innerlich und untereinander darüber und meiden das Schlechte nur aus Furcht vor Strafe. Glaub mir aber, ein Kind wird niemals über die Ermahnungen des Vaters lachen, oder über die Tränen der Mutter, die es betrübt hat. Gewohnt mit seinen Mitschülern über alles Gute und Edle zu spotten, vergißt es bald die feinen Gefühle, die ihm zu Hause beigebracht sind. Empfindsamkeit, die beste Fähigkeit der Seele, nämlich die, zu lieben und zu weinen, weicht dem Geist, der unter den Kameraden herrscht und der Forschheit. Religiöses Gefühl, Liebe zu Verwandten, Eltern, Mitleid mit dem Kummer und den Leiden anderer – all die besten Regungen, von denen ein unverdorbenes, kindliches Gemüt so voll ist und ohne die es kein wahres Glück gibt, erregen nur Spott und Verachtung. Dann aber, wenn kein einziges edles, zartes Gefühl, kein einziger fester, moralischer Grundbegriff mehr übriggeblieben ist, fühlt der Knabe das Verlangen, sich hinreißen zu lassen, und nun erscheint das Laster in tausend verschiedenen Formen. Er trachtet nach dem äußersten – in Tugend oder Laster: das hängt von der Richtung ab, die die Umgebung ihm zeigt – nichts hemmt ihn, und er begeht so schreckliche, schmutzige Handlungen, daß er entweder, um sein Gefühl und die Stimme des Gewissens zu betäuben, sich dem Laster ganz in die Arme wirft, oder, wenn er noch die Kraft besitzt, am Rande des Verderbens haltzumachen und die Gewissensbisse zu ertragen, hat er für immer genug zu tun, um wenigstens etwas von seiner Reinheit, Unschuld und Seelenruhe, die fast dahin sind, zu retten. Gewiß, es gibt Leute, die diesem Unglück aus dem Wege zu gehen wissen; es gibt auch solche, die sich schließlich mit ihren Erinnerungen abfinden und sie gnädigst wie Kinderstreiche betrachten, die keine Bedeutung haben. Ich möchte aber für meine Kinder das bessere Teil, möchte, daß sie ins Leben treten, ohne schlechtes Beispiel kennen gelernt zu haben, mit entwickeltem Verstand, festen, von kleinauf eingeflößten moralischen Grundsätzen, einem gestärkten Willen und besonders im Zustande der seelischen Reinheit und Unschuld, durch die sie jetzt so lieb und glücklich sind.

Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Du mit mir übereinstimmst oder nicht; jedenfalls bitte ich, flehe ich Dich bei meiner Liebe zu Dir an, wenn Du mich ganz glücklich sehen willst, gib mir das Versprechen, weder bei meinen Lebzeiten, noch nach meinem Tode, wenn es Gott gefällt uns zu trennen, unsere Kinder in einer Lehranstalt unterzubringen.

Du schreibst mir, Du müßtest notwendig in Geschäften bald nach Petersburg reisen; Gott mit Dir, mein Freund; fahr hin und kehr recht bald zurück. Wir alle grämen uns, wenn Du nicht da bist! Der Frühling ist herrlich; wir haben die Balkontür schon vor vier Tagen geöffnet; der Weg zum Gewächshaus war ganz trocken, und die Pfirsiche standen in voller Blüte; nur hier und da noch Spuren von Schnee; die Schwalben sind da, und heute hat Ljubotschka mir vom Spaziergang die ersten Frühlingsblumen mitgebracht. Der Doktor sagt, in drei Tagen wäre ich ganz gesund und könnte die frische Luft atmen und mich in der Aprilsonne wärmen. Leb wohl, lieber Freund, beunruhige Dich bitte nicht, weder über meine Krankheit, noch über Deine Verluste, sondern bring Deine Angelegenheiten schnell zu Ende und komm mit den Kindern den ganzen Sommer zu uns. Ich mache herrliche Pläne, wie wir ihn verbringen wollen; zu ihrer Verwirklichung fehlst nur Du noch.«

Der folgende Teil des Briefes war mit ungleichmäßiger, enger Schrift, französisch auf einem anderen Stück Papier geschrieben. Ich übersetze ihn Wort für Wort:

»Glaub nicht, was ich Dir über meine Krankheit geschrieben habe; niemand ahnt, wie ernst sie ist; nur ich weiß, daß ich nicht mehr vom Bett aufstehen werde. Komm sofort, verlier keine Minute und bring die Kinder mit. Vielleicht kann ich Dich noch einmal umarmen und sie segnen; das ist mein letzter Wunsch. Ich weiß, welch schrecklicher Schlag diese Nachricht für Dich ist; aber früher oder später, von mir oder anderen würde er Dir doch zugefügt. Laß uns versuchen, dieses Unglück mit Festigkeit und Ergebung in den Willen Gottes zu ertragen. Hoffen wir auf seine Barmherzigkeit.

Glaub nicht, was ich Dir hier schreibe, seien Fieberphantasien einer Kranken; im Gegenteil: meine Gedanken sind in diesem Augenblick außerordentlich klar und ich bin ganz ruhig. Gib Dich nicht der Hoffnung hin, ich hätte mich geirrt, es seien trügerische unklare Vorgefühle einer ängstlichen Seele. Nein, ich fühle, ich weiß – weiß es deshalb, weil es Gott gefallen hat, mir alles zu offenbaren – daß ich nicht mehr lange zu leben habe.

Ob meine Liebe zu Dir und den Kindern mit dem Tode endet? Das sind Zweifel, die mich stets gequält haben; jetzt aber weiß ich bestimmt, daß das unmöglich ist. Ich fühle in diesem Augenblick meine Liebe zu Euch zu deutlich, um glauben zu können, daß das Gefühl, ohne das ich meine Existenz nicht begreife, jemals aufhören könnte. Meine Seele kann ohne die Liebe zu Euch nicht existieren; ich weiß aber, daß sie schon deswegen ewig bestehen wird, weil solch ein Gefühl wie meine Liebe nicht entstehen könnte, wenn sie jemals aufhören müßte. Jetzt bin ich fest überzeugt, daß, wenn ich nicht mehr bei Euch bin, meine Liebe doch niemals aufhört und Euch nicht verläßt. Dieser Gedanke ist so tröstlich für mein Herz, daß ich ruhig und ohne Furcht das Nahen des Todes erwarte. Ich bin ruhig; Gott weiß, daß ich den Tod stets als Übergang zu einem besseren Leben betrachtet habe; aber warum drohen Tränen mich zu ersticken? Warum werden die Kinder der geliebten Mutter beraubt? Warum wird Dir ein so schrecklicher, unerwarteter Schlag versetzt? Warum muß ich sterben, obgleich die Liebe mein Leben so unendlich glücklich gemacht hat? Warum? … Sein heiliger Wille geschehe!