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Kindheit

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22. Die Gäste kommen

Iwins fuhren nach Hause, um sich umzukleiden; um acht Uhr wollten sie wiederkommen.

In allen Zimmern eilten Leute mit weißen Halsbinden geschäftig und besorgt hin und her. Besonders lebhaft ging es im Eßzimmer zu, wo das Silberzeug und Kristall nach langer Verborgenheit ans Licht geholt und geputzt wurde. Im Saal roch es stark nach Terpentin; Filat stand mit umgebundener Schürze da, stieg, nachdem er ein Handtuch untergelegt, auf einen Stuhl, zündete die Lampen an, schraubte die Dochte hinauf und hinunter und setzte Lampenschirme verschiedener Form auf. Die große Stehlampe, der Dreifuß, die Wandlampen, die seit unvordenklichen Zeiten nicht mit frischen Spermazetlichten versehen waren – alle wurden, wie im Saal, so in beiden Gastzimmern angezündet.

Die Wände, Decke, Parkett, Fries, Bilder im Gastzimmer waren von hellem Licht überflutet und hatten ein ungewöhnliches Aussehen – so erschien mir denn alles neu. Sogar der Großvaterstuhl, die Batisttücher, Schachteln und Großmutter selbst, die verdrießlich war, weil das ganze Haus nach Terpentin roch – sahen festtäglich aus.

Die Flurtür öffnete sich, es strömte kalt herein, dann kamen Leute in grauen Mänteln und mit sonderbaren Gegenständen unter dem Arm. Sie traten hinter den in einer Saalecke aufgestellten Wandschirm; von dort her ertönte Räuspern, Spuken; Schlösser knackten; kurze Baßstimmen: »Bitte Licht,« »Wessen Stimme ist das?« »Kolophonium,« »Gott bewahre!« Hierauf einige Pizzikato-Töne auf der Geige und endlich die ganzen schrecklichen Disharmonien eines stimmenden Orchesters: Quinten auf den Saiteninstrumenten, dumme Läufe und Triller auf Flöten, Waldhörnern usw.

Dieses Orchester war eine Überraschung des Fürsten Iwan Iwanowitsch.

Sobald ich einen Wagen rollen hörte, trat ich ans Fenster, legte die Hände gegen die Schläfen und Scheiben und suchte zu erkennen, ob die Leute zu uns zum Ball kämen. Aus der Dunkelheit, die alles vor dem Fenster einhüllte, erschien gegenüber allmählich ein längst bekannter Laden mit Laterne; schräg links ein weißes Haus mit zwei unten beleuchteten Fenstern und mitten auf der Straße eine Chaise mit zwei Insassen oder eine leere Equipage, die im Schritt heimkehrte. Aber jetzt kam bei uns ein Wagen vorgefahren, dem ich in der festen Überzeugung, es seien Iwins, die früher zu kommen versprochen hatten, entgegenlief.

Statt Iwins erschienen hinter der Bedientenhand, die den Wagen öffnete, zwei Personen weiblichen Geschlechts: eine große in blauem Mantel mit Zobelkragen, die andere – klein, vollständig in ein langes schwarzes Tuch gewickelt, aus dem nur die kleinen Füße in Pelzstiefeln hervorguckten. Ohne meine Anwesenheit im Flur im geringsten zu beachten – obgleich ich es für nötig gehalten hatte, ihnen eine Verbeugung zu machen – trat die Kleine zur Größeren und blieb schweigend vor ihr stehen. Diese wickelte das große Tuch los, das den ganzen Kopf der Kleinen verhüllte, knöpfte ihren Mantel auf, und als der Diener diese Sachen in Verwahrung genommen und ihr die Pelzstiefel ausgezogen hatte, kam aus der Verhüllung ein wunderhübsches zwölfjähriges Mädchen in kurzem ausgeschnittenen Tüllkleide, in weißen Höschen und winzigen schwarzen Schuhen zum Vorschein. Den weißen Hals umschloß ein schwarzes Samtband; ihr ganzes Köpfchen war mit dunkelblonden Locken bedeckt, die vorn so gut zu dem hübschen Gesicht und hinten zu den nackten Schultern paßten, daß ich niemandem, selbst Karl Iwanowitsch nicht geglaubt hätte, diese Locken seien dadurch entstanden, daß man sie seit heute morgen mit Stückchen der »Moskauer Nachrichten« umwickelt und nachher mit einem heißen Eisen gebrannt hatte. Es sah vielmehr aus, als wäre sie mit diesem Lockenkopf geboren.

Ihre Augen waren sehr groß und vorstehend, zur Hälfte von den langbewimperten Lidern bedeckt. Diese Augen hatten einen ernsten, etwas traurigen Ausdruck. Die Lippen dagegen waren frisch, und ihre Form entsprach durchaus dem Ausdruck des Mundes.

Überhaupt war dieses Mädchen ein Wesen, von dem man kein Lächeln erwartet und dessen Lächeln infolgedessen um so bezaubernder wirkt.

Während die große Person, Madame Walachin, ihr im Wagen etwas kraus gewordenes Kleid zurechtstrich und die Kleine, ihre Tochter Sonja, sich mit augenscheinlichem Vergnügen im Spiegel betrachtete, schlüpfte ich, jetzt mit dem Wunsch, unbemerkt zu bleiben, in die Saaltür und ging drinnen nachdenklich auf und ab, als wüßte ich gar nicht, daß Gäste gekommen wären. Als die beiden den Saal halb durchschritten hatten, machte ich einen eleganten Kratzfuß und erklärte, Großmutter sei im Gastzimmer. Frau Walachin, die mir besonders wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Tochter sehr gefiel, nickte mir gnädigst zu.

Großmutter empfing die beiden sehr liebenswürdig; besonders schien sie sich über Sonjas Anblick zu freuen, die sie dicht zu sich heranrief. Sie strich ihr eine Locke zurecht und meinte, ihr Gesicht aufmerksam betrachtend: »Quelle charmante enfant!«

Sonja lächelte errötend und tat so lieb, daß ich ebenfalls vor Vergnügen und Verlegenheit errötete.

»Hoffentlich gefällt es dir bei mir, mein Kind,« sagte Großmutter und faßte sie unters Kinn. »Tanz und amüsiere dich, so gut du kannst. Da sind schon zwei Kavaliere,« wandte Großmutter sich an Frau Walachin und berührte mich mit der Hand. Diese Annäherung war mir sehr angenehm und ließ mich noch mehr erröten. Im Gefühl, daß meine Verlegenheit noch zunehmen könnte, und da ich auch das Rollen einer Equipage hörte, hielt ich es für angebracht, mich zu entfernen.

Im Flur traf ich die Fürstin Korpakow nebst Sohn und einer unendlichen Anzahl Töchter, einer geradezu unwahrscheinlichen, wenn man bedenkt, daß alle aus einem Schoß und einer Equipage gekommen waren. Alle Töchter glichen der Fürstin und waren häßlich; deswegen fesselte keine meine Aufmerksamkeit; ich bemerkte nur, daß alle blasse Gesichter und rötliches Haar hatten und beim Ablegen der Mäntel, Boas und Mützen durcheinander rannten, mit ihren dünnen Stimmen plapperten und lachten – wahrscheinlich darüber, daß sie so viele waren.

Etienne war ein dreizehnjähriger, großer, fleischiger, schwitzender Knabe mit bereits »wissendem« Gesichtsausdruck, eingefallenen, blauumränderten Augen und riesigen Füßen und Händen; er war plump, seine Stimme wechselte, er schien aber sehr zufrieden mit sich und war genau so wie ein Junge, der mit Ruten gezüchtigt wird, meiner Auffassung nach sein kann. Die bläulichen Schatten unter den Augen schrieb ich infolge meiner Unerfahrenheit keinem anderen Grunde zu.

Wir standen uns ziemlich lange gegenüber und musterten uns aufmerksam, ohne ein Wort zu sprechen. Die vorübergehende Fürstin befreite uns aus dieser greulichen Lage, indem sie mich gleichzeitig all ihren Kindern vorstellte. Wir drückten uns die Hand, bewegten uns noch näher aneinander heran und wollten uns scheint's küssen; aber nach einem nochmaligen Betrachten überlegten wir es uns anders.

Als die Kleider sämtlicher Schwestern vorübergerauscht waren, begann ich, um etwas zu sagen: »Es war wohl etwas eng im Wagen?«

»Weiß nicht,« erwiderte Etienne. »Ich setze mich niemals in den Wagen. Da drinnen wird mir übel und schlecht; deswegen zwingt Mama mich nicht. Wenn wir abends ausfahren, sitze ich stets auf dem Bock. Da kann man alles sehen, und Philipp gibt mir bisweilen die Zügel, und die Peitsche nehme ich mir – fein!« schloß er.

»Durchlaucht,« ein Diener trat in den Flur, »Philipp läßt fragen, wo die Peitsche wäre?«

»Wieso? Ich habe sie ihm doch gegeben!«

»Philipp sagt: nein.«

»Dann habe ich sie an die Laterne gehängt.«

»Philipp behauptet, sie wäre auch da nicht; sagen Sie schon lieber, daß Sie sie verloren haben,« der Diener wurde lebhafter, »nun kann Philipp mit seinem Gelde für Ihren Mutwillen aufkommen.«

Der Diener, dem Anschein nach ein rechtschaffener Mann, wenn auch mit einem Mopsgesicht, las offenbar seinem jungen Herrn nicht zum erstenmal den Text; dieser war gerade jetzt, bei unserer ersten Bekanntschaft, sehr erregt und schien die Sache nicht auf sich beruhen lassen zu wollen. Aus Zartgefühl ging ich, die Verlegenheit des jungen Fürsten bemerkend, beiseite, tat, als besähe ich das Schloß an der Tür und ließ die beiden sich aussprechen. Anders handelten die anwesenden Diener; sie rückten mit großem Vergnügen näher und blickten zustimmend auf den Diener, spöttisch auf den jungen Fürsten.

»Nun – dann habe ich sie verloren!« sagte Etienne, weiteren Auseinandersetzungen aus dem Wege gehend in scharfem, weinerlichem Ton. »Werd' ihm schon bezahlen, was die Peitsche kostet. Lächerlich!« Er kam auf mich zu und zog mich ins Gastzimmer.

»Nein, erlauben Sie, Herr, womit wollen Sie denn bezahlen? Ich weiß, wie Sie das machen. Maria Wassiljewna bezahlen Sie schon seit acht Monaten zwanzig Kopeken; mir schulden Sie auch schon seit einem Jahr zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken; Petruschka …«

»Willst du schweigen, frecher Kerl!« schrie der junge Herr, bleich vor Wut, »ich werde bestimmt alles melden.«

»Bestimmt alles melden!« wiederholte der Diener zum allgemeinen Gaudium spöttisch in grobem Baß. »Das ist nicht hübsch, Durchlaucht!« schloß er besonders eindrucksvoll und ging mit den Mänteln zur Garderobe.

»Das war recht,« sagte jemand von den Zuhörern, während wir, durch Schweigen unserer Verachtung Ausdruck gebend, uns zu Großmutter begaben.

Diese hatte eine besondere Gabe, durch Anwendung des »Du« und »Sie« in bestimmten Fällen und mit besonderer Betonung den Leuten ihre Meinung direkt ins Gesicht zu sagen. Weil sie diese Fürwörter gerade entgegengesetzt zu der allgemeinen Gewohnheit gebrauchte, bekamen sie in ihrem Munde eine ganz besondere Bedeutung. Ich bin überzeugt, daß sie sich Etienne beim ersten Anblick unter der Rute und mit allen unanständigen Einzelheiten vorstellte; sie empfing ihn sehr kalt und nannte ihn mit solchem Ausdruck der Verachtung und des Abscheus »Sie«, daß ich an seiner Stelle ganz fassungslos geworden wäre. Etienne war augenscheinlich von anderem Kaliber. Er beachtete weder die Art des Empfanges, noch Großmutters Person, sondern verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft nicht gerade geschickt, aber sehr ungezwungen, ging sogar zu Sonja und forderte sie zur Quadrille auf.

 

Sonja fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hatte bemerkt, daß, wenn Wolodja, Etienne und ich uns im Saal am Fenster unterhielten, von wo aus wir Sonja sehen und sie mich sehen und hören konnte – ich mit besonderem Vergnügen sprach; und wenn ich eine nach meiner Auffassung verständige oder komische Bemerkung tat, brachte ich sie lauter heraus und blickte dabei nach der Tür des Gastzimmers. Als wir aber vom Fenster fortgingen und an eine Stelle kamen, wo man uns vom Gastzimmer weder sehen noch hören konnte, schwieg ich und fand kein Vergnügen mehr an der Unterhaltung.

Gastzimmer und Saal füllten sich allmählich mit Gästen; unter ihnen waren, wie stets bei Kindergesellschaften, ein paar große Kinder, die diese Gelegenheit, sich zu amüsieren und zu tanzen, nicht vorübergehen lassen wollten, wenn auch nur, um – anderen ein Vergnügen zu bereiten.

Als Iwins kamen, empfand ich statt der gewöhnlichen Freude bei Serjoschas Anblick eine Art Ärger, daß er Sonja sah und sich ihr zeigte.

23. Vor der Mazurka

Als Iwins aus dem Gastzimmer zurückkamen, wo Serjoscha trotz seines angenehmen Äußeren den allgemeinen Tribut der Verlegenheit entrichtet hatte, faßte ich ihn am Ellbogen und forderte ihn auf, zum Tanz nach oben zu kommen.

»Los, los!« rief Etienne plump zutraulich, Serjoscha am Arm ziehend. »Hat euer Deutscher eine Pfeife?«

Obgleich mir die Gesellschaft des jungen Fürsten und sein freier Umgang mit Serjoscha durchaus nicht angenehm war, mißfiel mir noch mehr Serjoschas Anwesenheit im Gastzimmer.

»Où allez vous, Mr. Serge; ne voyez vous pas, qu'on va danser?« Herr Forst hielt uns auf. »Haben Sie Ihre Handschuhe?« fügte er hinzu.

»Gewiß; man muß Handschuhe anziehen,« Serjoscha holte ein paar neue Glacés hervor.

Und wir haben keine, dachte ich. Was soll man machen. Geschwind lief ich nach oben. Aber obgleich sämtliche Kommodenschiebladen durchgestöbert wurden, fand ich nur unsere grauen Winterhandschuhe, und einen einzelnen Glacé, der mir einmal viel zu weit war und dem obendrein der Mittelfinger fehlte – wahrscheinlich hatte Karl Iwanowitsch ihn vor langer Zeit einmal für einen kranken Finger abgeschnitten. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte, zog den Rest des Handschuhs an, steckte den Mittelfinger durch das Loch und stand, den Finger auf und nieder bewegend und einen Tintenfleck aufmerksam betrachtend, sehr nachdenklich da.

Wenn jetzt Natalie Sawischna hier gewesen wäre, die hätte schon Handschuhe gefunden! Nach unten gehen konnte ich in diesem Aufzuge nicht, denn wenn man fragte, warum ich nicht tanzte – was sollte ich erwidern? Hier bleiben konnte ich auch nicht, weil man mich finden würde. Also was tun? – Ich rang verzweifelt die Hände. Ich war einfach verloren; schrecklich! – sagte ich, stellte das Stearinlicht auf die offene Kommodenschieblade, senkte den Kopf auf die Brust und machte ein finsteres Gesicht.

Plötzlich ertönte unten Musik. Ich sprang unwillkürlich auf, rannte durch alle Zimmer und suchte Handschuhe: in Heften, unterm Globus, zwischen Stiefeln – da aber keine da waren, blieb all mein Suchen umsonst.

Mit den Worten: »Was machst du denn hier?« kam Wolodja hereingelaufen, »engagiere schnell eine Dame; es geht gleich los.«

»Wolodja,« ich zeigte ihm meine vier Finger in dem Glacé und sagte mit einer fast verzweifelten Stimme, »Wolodja, du hast auch nicht daran gedacht, daß wir …«

»Was denn?« fragte er ungeduldig.

»Wie können wir so! …« erwiderte ich fast unter Tränen und hielt ihm meine Hand vors Gesicht.

»Ach Handschuhe,« meinte er ganz gleichgültig. »Nein, das geht nicht … wir müssen Großmutter fragen; was die sagen wird.«

Damit lief er nach unten. Seine Worte verscheuchten den düsteren Schatten, der auf dem Ereignis lag; ich begab mich schnell zu Großmutter.

Vorsichtig an ihren Sessel herantretend und ihre Mantille leicht berührend, fragte ich im Flüsterton: »Großmutter! Was sollen wir machen? Wir haben keine Handschuhe.«

»Was willst du, Kind?«

»Wir haben keine Handschuhe,« wiederholte ich, die andere Hand auf die Sessellehne legend. Ich wollte nur von Großmutter gehört werden.

»Was ist denn das?« sie ergriff meine rechte Hand, an der noch immer der schmutzige Handschuh mit abgeschnittenem Finger saß. »Voyez ma chère,« wandte sie sich an Frau Walachin und zog mich trotz meines Widerstrebens an einen sichtbaren Platz. »Voyez comme ce jeune homme c'est fait élégant pour danser avec votre fille.«

Großmutter hielt mich fest an der Hand und sah sich ernst aber fragend nach den Anwesenden um, bis die Neugierde aller befriedigt war und das Gelächter allgemein wurde.

Die Freude Sonjas, die über meine komische Figur mit den vier Fingern im schmutzigen Handschuh dermaßen lachte, daß ihr Tränen in die Augen traten und die Locken entzückend um ihr gerötetes Gesicht tanzten, steckte mich an: ich lachte jetzt am allerlautesten.

Sehr traurig wäre ich gewesen, wenn Serjoscha mich gesehen hätte, als ich, dunkelrot vor Scham, umsonst versuchte, meine Hand loszureißen; vor Sonja dagegen schämte ich mich nicht. Ich fühlte, daß ihr Lachen zu laut und ungezwungen war, um spöttisch zu sein. Im Gegenteil, dadurch, daß wir zusammen lachten und uns ansahen, wurden wir schneller miteinander bekannt; ich fühlte mich bald so sicher, daß ich sofort um eine Quadrille bat.

Die Episode mit dem Handschuh, die schlecht enden konnte, brachte mir den Nutzen, daß sie mir in einem Kreise, der mir stets am schrecklichsten war, – unter Gästen – Sicherheit gab; ich fühlte jetzt nicht die geringste Befangenheit mehr.

Das Leiden, das aus Verlegenheit entspringt, rührt daher, daß wir nicht wissen, welchen Eindruck wir auf andere machen. Sobald wir hierüber Gewißheit haben, hört das Leiden – mag der Eindruck sein wie er will – auf.

Wie lieb war Sonja Walachin, als sie mir gegenüber mit dem plumpen Etienne die Quadrille à la cour tanzte! Wie reizend, als ob wir uns schon eine Ewigkeit kennen würden, reichte sie mir bei der Chaine lächelnd die Hand. Wie niedlich im Takt hüpften die blonden Locken auf ihrem Kopf und wie zierlich führte sie das »Jeté assemblé« mit ihren kleinen Füßchen in den bebänderten Chevreauschuhen aus – alles nach den Klängen des »Donauweibchens«, die ich bis jetzt nicht ohne süßes Herzbeben hören kann. Obgleich sie dem jungen Fürsten, der sie in eine Unterhaltung zu ziehen suchte, ebenso lieb zulächelte, war ich doch glücklich. Bei der fünften Figur, als meine Dame vor mir auf die andere Seite tanzte und ich, die Takte zählend, mich auf das Solo vorbereitete, legte Sonja ernsthaft die Lippen zusammen und sah zur Seite, als hätte sie Mitleid mit mir und fürchtete, ich könnte konfus werden. Aber diese Sorge war umsonst; ich führte kühn das chassé en avant, en arrière und croissé aus, und als ich an ihr vorbeikam, zeigte ich ihr den Handschuh mit vier Fingern. Wie lieb lachte sie da, und wie lustig und naiv hüpften die Füßchen in den Chevreauschuhen auf dem Parkett. Als wir uns bei dem grand rond alle an der Hand faßten und einen Kreis bildeten, rieb sie sich, ohne meine Hand loszulassen, ihr Näschen am Handschuh.

Alles das steht mir noch heute vor Augen. Dann kam die zweite Quadrille mit Sonja.

Die Musik, das helle Licht, die Diener in weißen Krawatten, der besondere Ballgeruch – alles das bewirkte, daß ich, neben Sonja auf meinem Stuhl mich niederlassend, anstatt einfach zu sprechen, um jeden Preis mit meinem Französisch glänzen wollte und schreckliche Dummheiten sagte.

»Vous êtes une habitante de Moscou?« fragte ich nach kurzem Schweigen. Als sie bejahte, fuhr ich ebenso fort: »Et vous êtes native de quel gouvernement?« dabei besonders auf die Wirkung des Wortes »native« rechnend. Als sie mich dann fragte, ob ich früher schon in Moskau gewesen sei, erwiderte ich, eine malerische Pose auf meinem Stuhl einnehmend: »Et moi, je n'ai jamais frequenté la capitale,« mit dem Bestreben, sie durch das Wort »frequenter« endgültig von meinen vorzüglichen Kenntnissen des Französischen zu überzeugen.

Indessen fühlte ich mich, so glänzend meine Unterhaltung auch war, doch nicht imstande, sie mit derselben Verve fortzusetzen; wenn nicht bald an uns die Reihe zum Tanzen kam, oder sie mir aus der schwierigen Situation hinaushalf, war ich genötigt, die ganze Zeit zu schweigen. In Erwartung ihrer Unterstützung und neugierig, welchen Eindruck mein Französisch auf sie machte, blickte ich ihr unruhig ins Gesicht.

»Wo haben Sie den komischen Handschuh her?« fragte sie mich plötzlich. Diese Frage verschaffte mir große Erleichterung und Vergnügen. Ich erklärte ihr, der Handschuh gehörte Karl Iwanowitsch, und verbreitete mich etwas über seine Person, wie komisch er wäre und wie er einmal mit seiner grünen Pekesche vom Pferd in eine Pfütze gefallen sei.

In der Unterhaltung über Karl Iwanowitsch, das Land, Pilze und das Pferd verging unmerklich die Quadrille. Alles sehr schön, aber warum hatte ich mich ironisch über Karl Iwanowitsch geäußert? Fürchtete ich wirklich, die gute Meinung, die Sonja von mir hatte, zu verlieren, wenn ich ihn mit der Liebe und Verehrung schilderte, die ich bisweilen für ihn hegte?

Bei der Beendigung der Quadrille sagte Sonja mit solch liebem und freundlichem Ausdruck »Merci« zu mir, als wenn sie mir wirklich für etwas zu danken hätte; ich war einfach hingerissen und erkannte mich selbst nicht wieder, so kühn, selbstbewußt, ja frech trat ich auf.

Keck schlenderte ich durch alle Räume, ohne auf etwas zu achten; bog nicht einmal aus, sondern rannte sehr unhöflich mit den Leuten, die mir begegneten, zusammen. Es gibt nichts, was mich jetzt aus der Fassung bringen kann, dachte ich. Ich bin zu allem bereit.

Serjoscha bat mich, sein vis-à-vis zu sein.

»Gut,« sagte ich, »hab' zwar noch keine Dame, werde aber schon eine finden.«

Den Saal mit einem kühnen Blick musternd, bemerkte ich, daß fast alle Damen engagiert waren; nur an der Tür stand ein großes hübsches Mädchen, auf das jetzt ein schlanker junger Mann zuschritt; offenbar in der Absicht, sie zu engagieren. Er war von ihr nur noch drei Schritt entfernt, ich dagegen am anderen Saalende. Im Nu durchflog ich, auf dem Parkett dahingleitend, den ganzen Raum, machte eine Verbeugung und bat sie mit fester Stimme um den Tanz. Das große Mädchen lächelte gönnerhaft, reichte mir den Arm, und der junge Mann hatte das Nachsehen. Ich fühlte so viel Kraftbewußtsein, daß ich meinen Sieg gar nicht bemerkte. Erst später erfuhr ich, der junge Mann hätte gefragt, wer denn der Struwwelpeter wäre, der ihm zwischen den Beinen herumgesprungen sei und so frech die Dame weggeschnappt hätte.