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Kindheit

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3. Papa

Er stand am Schreibtisch und war, auf verschiedene Papiere, Kuverts und Geldpäckchen deutend, in lebhafter Unterhaltung mit dem Verwalter Jakob Michailow begriffen, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf seinem gewöhnlichen Platz zwischen Tür und Barometer stand und die Finger sehr schnell nach verschiedenen Richtungen drehte. Je lebhafter Papa sprach, um so schneller bewegten sich die Finger; wenn er verstummte, ruhten auch die Finger; wenn aber Jakob selbst das Wort nahm, kamen auch die Finger wieder in starke Bewegung. Und aus ihren Bewegungen konnte man die geheimsten Gedanken Jakobs erraten, während sein Gesicht stets den Ausdruck von Würde und Unterwürfigkeit zeigte: »Ich habe recht, aber natürlich ganz wie es Ew. Gnaden beliebt.«

Bei unserem und Karl Iwanowitschs Anblick sagte Papa nur: »Einen Augenblick; sofort,« und deutete durch eine Kopfbewegung an, daß jemand von uns die Tür schließen sollte.

»Ach, lieber Gott! Was hast du heute nur, Jakob?« fuhr er, seiner Gewohnheit nach achselzuckend, zum Verwalter gewandt fort. – »Dieses Kuvert mit achthundert Rubeln …«

Jakob nahm das Rechenbrett, schob achthundert beiseite und starrte, in Erwartung des Weiteren, unbestimmt vor sich hin.

»… sind für Wirtschaftsausgaben in meiner Abwesenheit, verstanden? Für die Mühle bekommst du ja wohl tausend? Ja, oder nein? Für Hypotheken achttausend; für Heu, – nach deiner Rechnung kann man siebentausend Pud rechnen – sagen wir fünfundvierzig Kopeken das Pud, macht zirka dreitausend; also hast du zusammen wieviel? Zwölftausend. Ja oder nein?«

»Jawohl,« sagte Jakob, aber aus den schnellen Fingerbewegungen bemerkte ich, daß er etwas erwidern wollte. Papa schnitt ihm das Wort ab: »Also von diesem Gelde schickst du zehntausend zum Amt in Petrowskoie. Jetzt das Geld im Kontor,« fuhr Papa fort – Jakob warf die früheren zwölftausend zusammen und notierte einundzwanzigtausend – »das bringst du mir und trägst es unterm heutigen Datum als Ausgabe ein« – Jakob schob die Kugeln beiseite und kehrte das Rechenbrett um, dadurch wahrscheinlich andeutend, daß nun auch diese einundzwanzigtausend verloren wären. – »Diesen Geldbrief übergibst du an seine Adresse.«

Ich stand dicht am Tisch und las die Adresse. Da stand: An Karl Iwanowitsch Mauer. Papa bemerkte wohl, daß ich etwas las, was ich nicht zu wissen brauchte. Er sprach weiter, legte aber seine Hand auf meine Schulter und wies mich durch eine leichte Bewegung vom Tisch fort. Ich verstand nicht, ob das eine Liebkosung oder ein Tadel sein sollte, küßte aber für alle Fälle seine große, weiße, nervige Hand mit dem Trauring auf dem Goldfinger.

»Zu Befehl,« sagte Jakob. »Was soll aber mit dem Gelde von Chabarowka geschehen?«

Chabarowka war Mamas Gut.

»Das soll im Kontor bleiben und ohne meine Verfügung nicht angerührt werden,« sagte Papa.

Jakob schwieg einen Augenblick, dann drehten sich plötzlich wieder die Finger mit verstärkter Geschwindigkeit, er änderte den Ausdruck unterwürfigen Stumpfsinns, mit dem er die Befehle des Herrn anzuhören für nötig hielt, nahm den ihm eigenen Ausdruck spitzbübischer Findigkeit und Schlauheit an, zog das Rechenbrett heran und begann: »Gestatten Sie, zu bemerken, Peter Alexandrowitsch – ganz wie Sie wünschen, aber auf dem Amt werden wir das Geld kaum rechtzeitig bezahlen. Sie beliebten zu sagen: das Geld müßte von der Mühle, für Lombard und Heu einkommen …« Er rechnete den Betrag aus und schob die Kugeln auf der Rechenmaschine beiseite. »Ich fürchte aber, daß wir uns in den Voranschlägen irren,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, Papa dabei tiefsinnig anstarrend.

»Warum?«

»Ja, sehen Sie, was die Mühle betrifft, so hat mich der Müller schon zweimal aufgesucht und um Stundung gebeten, hat bei Gott und allen Heiligen geschworen, daß er kein Geld hätte. Er ist auch jetzt wieder da. Wollen Sie nicht selbst mit ihm sprechen?«

Papa machte mit dem Kopf ein Zeichen, daß er das nicht wünsche.

»Was sagt er denn?« fragte Papa.

»Das weiß man schon,« erwiderte Jakob. »Hätte nichts zu mahlen gehabt und alles Geld in das Wehr gesteckt. Wenn wir ihm kündigen, Herr, fragt sich noch, ob wir dabei profitieren. Was Sie über die Hypothek zu bemerken beliebten – so habe ich vielleicht schon ausgeführt, daß unser Geld dort festliegt und wir es so leicht nicht wiederbekommen. Ich habe eigens in der Angelegenheit eine Fuhre Mehl und ein Schreiben an Iwan Afanasjewitsch in die Stadt geschickt; der antwortet, er wolle sich gern Ihretwegen bemühen, die Sache hinge aber nicht von ihm ab und allem Anschein nach würden wir kaum in einem Monat Ihre Quittung bekommen. Bezüglich des Heus beliebten Sie zu bemerken – selbst angenommen wir verkaufen für dreitausend« – er warf dreitausend auf dem Rechenbrett zur Seite, schwieg einen Augenblick und blickte bald auf das Rechenbrett, bald in Papas Augen, als wollte er sagen: Sie sehen selbst, wie wenig das ist. »Und mit dem Heu fallen wir auch wieder herein, wenn wir es jetzt verkaufen, das wissen der Herr selbst.«

Offenbar hatte er noch einen großen Vorrat von Argumenten; deswegen unterbrach Papa ihn: »Es bleibt bei meinen Anordnungen. Sollte wirklich im Eingang des Geldes eine Verzögerung eintreten, dann ist nichts zu machen; dann nimmst du von Chabarowka Geld soviel wie nötig ist.«

»Zu Befehl.«

Jakob war Papas Leibeigener. Er war zunächst sein Wärter gewesen, dann Kammerdiener und jetzt Verwalter. Er hatte alle Feldzüge mit Papa mitgemacht, und dieser hatte ihn wegen seiner Anhänglichkeit, seines Eifers und seiner Treue gern. Wie alle guten Verwalter war er im Interesse seines Herrn äußerst knauserig und hatte von dessen Vorteil die sonderbarsten Vorstellungen. Er war stets bemüht, das Eigentum Papas auf Kosten Mamas zu vermehren und suchte zu beweisen, daß alle Einkünfte von Mamas Gütern auf Petrowskoie (das Dorf, in dem wir lebten) verwandt werden müßten. Gegenwärtig war ihm das gelungen, und als er »zu Befehl« sagte, konnte man an seinem Gesicht erkennen, daß er sehr mit sich zufrieden war, wie jemand, der seine liebste Tätigkeit ausübt.

Nachdem Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir wären jetzt keine kleinen Kinder mehr, es sei Zeit, daß wir ernstlich etwas lernten. Deswegen führe er heute nacht nach Moskau zur Großmutter und nähme uns ganz dahin mit. Er fügte noch hinzu, Mama bliebe mit den Mädchen hier, und das eine würde sie trösten, die Überzeugung, daß wir gut lernen und daß man mit uns zufrieden sein würde.

Obgleich wir an den Vorbereitungen seit einigen Tagen bemerkt hatten, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war, überraschte uns diese Neuigkeit vollständig. Wolodja sagte, um seine Verwirrung zu verbergen: »Mama läßt dir bestellen, du möchtest zu ihr kommen, Papa,« und ging zum Fenster. Mir aber tat Mütterchen sehr, sehr leid, und gleichzeitig freute mich der Gedanke, daß wir nun groß seien.

Wenn wir heute reisen, gibt es keine Schule mehr, das ist famos, dachte ich. Aber der arme Karl Iwanowitsch tat mir leid; der wurde sicher entlassen, weil man das Kuvert für ihn zurechtgemacht … Dann schon lieber immer lernen, nicht fortreisen, sich nicht von Mama trennen und dem armen Karl Iwanowitsch nicht weh tun, der schon so sehr unglücklich ist.

Diese Gedanken zogen mir durch den Sinn. Ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte unverwandt auf die schwarzen Schleifen an meinen Schuhen.

Nachdem Papa mit Karl Iwanowitsch noch einige Worte über das Fallen des Barometers gewechselt und Jakob befohlen hatte, die Hunde nicht zu füttern, weil er zum Abschied nach Tisch die jungen Treibhunde probieren wollte, schickte er uns wider Erwarten zum Unterricht. Allerdings bekamen wir den Trost mit auf den Weg, daß wir nach Tisch mit auf die Jagd genommen würden.

Traurig und zerstreut gingen wir nach oben zum Lernen in Begleitung unseres noch mehr zerstreuten und traurigen Mentors Karl Iwanowitsch, der seine Entlassung erwartete.

Unterwegs lief ich auf die Veranda. Dicht an der Tür lag mit zugekniffenen Augen in der Sonne, wie ein Hase im Lager, Papas Lieblingswindhund Milka.

»Milkachen,« sagte ich, den Hund streichelnd und auf die Schnauze küssend, »wir reisen heute, leb wohl, wir sehen uns nie wieder.«

Wahrscheinlich gefiel der Hündin mein tränenfeuchtes Gesicht nicht, oder sie war nicht bei Laune; jedenfalls brüllte sie mich an, stand auf, ging beiseite und legte sich faul an einer anderen Stelle nieder.

»Was bin ich für ein unglücklicher Junge,« sagte ich und rannte Hals über Kopf nach oben.

4. Was mein Vater für ein Mann war

Er war groß und stattlich von Wuchs, machte auffallend kleine Schritte, hatte die Gewohnheit mit der Achsel zu zucken, besaß kleine, stets leuchtende Augen, eine große Adlernase, ungleichmäßige Lippen, die er ungeschickt, aber zu einem angenehmen Ausdruck zusammenlegte. Eine große, fast über den ganzen Kopf reichende Glatze, mangelhafte Aussprache und Lispeln vervollständigten das Äußere meines Vaters, seitdem ich ihn kenne, ein Äußeres, mit dem er aller Welt zu gefallen und als homme à bonne fortune bekannt zu werden wußte. Daß er dem weiblichen Geschlecht gefiel, verstehe ich, weil ich weiß, wie unternehmend und sinnlich er veranlagt war; aber welches Zaubermittel besaß er, um Leuten jeden Alters, Standes und Charakters, Greisen, Jünglingen, Berühmten, Einfachen, Männern der Welt, Gelehrten und besonders denen zu gefallen, auf die er es abgesehen hatte?

Er verstand im Verkehr mit jedermann die Oberhand zu gewinnen. Obgleich er nie zu den höchsten Kreisen gehört hatte, verkehrte er stets mit Angehörigen dieser Kreise und zwar so, daß man ihn achtete. Er kannte das Maß von Selbstvertrauen und Stolz, das ihn in den Augen der Welt erhöhte, ohne andere zu kränken. Bisweilen originell, verfiel er doch nie ins Extrem, sondern benutzte die Originalität als Mittel, das ihm bisweilen Stand und Reichtum ersetzte. Nichts in der Welt brachte ihn zum Erstaunen, und so glänzend auch seine Lage sein mochte, es schien stets, als sei er für sie geboren. Er wußte stets die Lichtseite seines Lebens nach außen zu kehren und verstand die andere, kleinliche, mit Ärger und Verdruß erfüllte, jedem Sterblichen beschiedene so gut zu verbergen, daß man ihn unbedingt beneiden mußte. Er war Kenner in allem, was Bequemlichkeit und Genuß verschafft und wußte sich dessen zu bedienen.

 

Obgleich er niemals etwas gegen die Religion sagte und äußerlich stets fromm war, zweifle ich bis auf die Gegenwart, ob er überhaupt an etwas glaubte. Seine Grundsätze und Lebensanschauungen waren so dehnbar, daß diese Frage sehr schwer zu entscheiden ist. Mir scheint, daß er fromm nur für andere war.

Moralische Überzeugungen, unabhängig von religiösen Geboten hatte er schon gar nicht; sein Leben war so voll von allen möglichen Passionen, daß er weder Zeit hatte, noch es überhaupt für nötig hielt, darüber nachzudenken. In reiferem Alter aber bildete er sich feste Grundsätze und Anschauungen nicht auf Grund moralischer oder religiöser, sondern praktischer Überzeugung; das waren die Handlungsweise und diejenige Lebensform, die ihm Glück oder Zufriedenheit verschafften, die er für gut hielt und meinte, daß alle so handeln müßten. Er sprach hinreißend, und diese Gabe begünstigte, glaube ich, die Dehnbarkeit seiner Grundsätze; er war imstande, ein und denselben Vorfall als unschuldigen Scherz und als erbärmliche Gemeinheit zu schildern, stets mit derselben Überzeugung.

Als Vater war er gnädig, glänzte gern mit seinen Kindern und war auch zärtlich, aber nur in Gegenwart anderer; nicht etwa, weil er sich verstellte, sondern weil Zuschauer ihn anregten – er brauchte Publikum, um etwas Gutes zu tun.

Er besaß heftige Leidenschaften, namentlich für das Spiel und die Frauen, hatte in seinem Leben etwa zwei Millionen gewonnen und alles wieder verloren. Ob er häufig spielte oder nicht, ist mir unbekannt; ich weiß nur, daß er wegen einer Spielaffäre verbannt wurde, dabei aber den Ruf eines tüchtigen Spielers genoß und als Partner gesucht war. Wie er es fertig brachte, die Leute bis zur letzten Kopeke auszuplündern und dabei ihr Freund zu bleiben, ist mir ein Rätsel – er tat den Leuten, die er rupfte, damit gleichsam einen Gefallen.

Sein Steckenpferd waren glänzende Verbindungen, über die er wirklich verfügte; teils verdankte er sie der Verwandtschaft meiner Mutter, teils seinen Jugendkameraden, über die er sich im stillen ärgerte, weil sie zu hohen Würden gelangt waren, während er stets Gardeleutnant a. D. blieb. Aber diese Schwäche nahm niemand an ihm wahr, außer einem Beobachter wie ich, der ständig bei ihm lebte und ihn zu ergründen suchte.

Wie alle alten Militärs verstand er nicht, sich elegant zu kleiden; im modernen Rock und Frack sah er etwas herausgeputzt aus; dafür war seine Hauskleidung originell und hübsch. Übrigens stand ihm bei seiner großen kräftigen Statur, dem kahlen Kopf und den selbstbewußten Bewegungen fast alles. Zudem hatte er eine besondere Gabe und den unbewußten Wunsch, stets und überall Eindruck zu machen. Er war sehr empfindsam und sogar zu Tränen gerührt. Wenn er beim Vorlesen an eine leidenschaftliche Wendung kam, begann seine Stimme oft zu zittern, Tränen traten in seine Augen, und er ließ das Buch sinken. Selbst in minderwertigen Theatern konnte er keine Rührszenen sehen, ohne zu weinen. In solchen Fällen war er über sich selbst ärgerlich und suchte seine Empfindsamkeit zu verbergen und zu unterdrücken.

Er liebte Musik und sang, sich selbst begleitend, nach dem Gehör Romanzen seines Freundes A… Zigeunerlieder und einige Opernmelodien. Gelehrte Musik war ihm unsympathisch, und er sagte offen, ohne auf die allgemeine Meinung Rücksicht zu nehmen, daß ihn Beethovensche Sonaten langweilten und einschläferten und daß er nichts Schöneres kannte als »Weck mich junges Mädchen nicht« wie die Semjonowa und »Nicht Eine«, wie es die Zigeunerin Tanjuscha sang.

Er war ein Mann des vorigen Alexandrinischen Jahrhunderts und besaß die undefinierbaren Eigenschaften, welche der Jugend jener Epoche eigentümlich waren, nämlich: einnehmendes Wesen, Courmacherei, Ritterlichkeit, Unternehmungsgeist, Selbstvertrauen und moralische Verderbtheit. Auf die Menschen unseres Jahrhunderts blickte er verächtlich herab. Vielleicht geschah das nicht aus Stolz, sondern aus heimlichem Ärger darüber, daß er in unserer Zeit nicht mehr denselben Einfluß ausüben und den Erfolg haben konnte, wie in der seinigen …

Wer jemals auf dem Lande gelebt, wird wissen, wieviel Unannehmlichkeiten durch ihre Ränke und Streitereien die Nachbarn, durch Geschwätz die Gutsbesitzer desselben Kreises, und durch Händel und Schikanen die Behörden bereiten, wie sie einen bis aufs Blut peinigen und das ganze Leben verbittern können.

Um all diesen Nachstellungen zu entgehen, die unausbleiblich jeden Gutsbesitzer überraschen, gibt es drei Methoden. Die erste Pflicht besteht darin, in jeder Beziehung korrekt seine Pflichten als Gutsbesitzer zu erfüllen und die Rechte eines solchen zu genießen. Diese erste und einfachste, vernünftige Art besteht leider vorläufig nur in der Theorie, weil man unmöglich mit Leuten gesetzmäßig verfahren kann, die das Gesetz als Mittel benutzen, ungestraft Gesetzwidrigkeiten begehen zu können. Die zweite Methode besteht in der Bekanntschaft und Freundschaft nicht nur mit den Vertretern der Bezirks- und Gouvernementsbehörden, sondern auch mit allen Gutsbesitzern, mit denen uns das Schicksal in Berührung bringt, oder die unsere Bekanntschaft wünschen, sowie in gütlicher Beilegung aller entstehenden Streitigkeiten. Diese Art ist wenig zu empfehlen, weil erstens ein freundschaftlicher Verkehr mit dem ganzen Bezirk an und für sich schon eine Unannehmlichkeit bedeutet, nicht geringer als die, die man vermeiden wollte, und zweitens, weil es für Ungeübte schwer ist, unter Vermeidung aller üblen Nachrede und Bosheit inmitten all der Feindseligkeiten, Ungesetzlichkeiten und Gemeinheiten des Gouvernementslebens seinen Standpunkt zu bewahren, nichts zu vergessen, niemanden zu ignorieren, so daß alle ohne Ausnahme mit uns zufrieden sind. Wehe, wenn wir uns auch nur einen Feind erworben haben! Jeder Schmutzfink, der heute noch demütig an unserer Schwelle steht, kann uns morgen die größten Unannehmlichkeiten bereiten.

Die dritte Methode besteht darin, zu niemandem Beziehungen zu unterhalten und dafür Tribut zu zahlen. Der wird in zwiefacher Form entrichtet: als Ergebenheit und Leutseligkeit. Mit Ergebenheit zahlen Leute, die die dritte Methode erwählt haben, aber nicht imstande sind, der Willkür der Behörde zu begegnen. Mit Leutseligkeit zahlen Leute, die Beziehungen zu den höchsten Gouvernementsbehörden haben, aus Gründen der Sicherheit und Gewohnheit aber auf jene Steuer nicht verzichten.

Es gibt noch eine Art, die sehr im Schwange ist, die ich aber wegen ihrer Ungesetzmäßigkeit nur als Ausnahme erwähnen will. Sie besteht darin, sich im Gouvernement oder Kreis den Ruf eines gefährlichen Schikaneurs und Intriganten zu verschaffen.

Papa hielt es in bezug auf die Behörde und die Nachbarn mit der dritten Art, das heißt er war mit niemandem näher bekannt und zahlte den Tribut der Leutseligkeit. Obgleich er nicht häufig in die Gouvernementsstadt fuhr, wußte er es so einzurichten, daß wenigstens einmal im Jahre alle großen Tiere: der Gouverneur, der Adelsmarschall und der Staatsanwalt nach Petrowskoie kamen.

Natürlich erzählte dann Jakob Michailow bei seinem nächsten Aufenthalt in der Stadt dem Isprawnik und anderen umständlich, wie Seine Exzellenz bei uns übernachtet, und diese und jene Bemerkung fallen gelassen hätten, und die Folge war, daß weder Isprawnik noch Stanowoi die Nase nach Petrowskoie hineinsteckten, sondern ruhig den Leutseligkeitstribut abwarteten.

Wenn die Behörde in irgendeiner unbedingt notwendigen Angelegenheit dennoch nach Petrowskoie kam, ließ Papa sie durch Jakob empfangen; und wenn er wirklich selbst jemanden begrüßte, so geschah es so kalt, daß Mama oft zu ihm sagte: »Genierst du dich nicht, mon cher, die Leute so zu behandeln?«

Darauf erwiderte Papa: »Du weißt nicht, Liebe, was das für Leute sind; gib ihnen soviel –« dabei zeigte er den kleinen Finger – »so nehmen sie soviel,« dabei zeigte er den Arm bis zur Schulter.

Ebenso war der Verkehr mit den Nachbarn von der Höhe stolzer Erhabenheit herab.

Man darf ihm wegen solchen Verhaltens keine Vorwürfe machen; zu seiner Zeit, das heißt anderhalb Jahrzehnte zurück, war es das einzige Mittel, um auf dem Lande Ruhe zu haben. Jetzt hat sich das alles geändert und ist viel besser geworden. Ein Gutsbesitzer, den ich danach fragte, antwortete mir: »Ach, lieber Freund, Sie kennen unsere jetzigen Kreis- und Landrichter nicht. Diese Ordnung, Sauberkeit, Bescheidenheit, Klugheit. Der unterste Schreiber hat seinen Frack. Kommt man zum Isprawnik, so sieht man seine Frau in modernster Toilette; sie ist eine höchst gebildete Dame, spricht Französisch, Italienisch, Spanisch – was Sie wollen. Die Töchter sind höchst musikalisch: Piano – wird zum Flügel, Fußboden – Parkett. Oder, was noch besser, wir haben in unserem Bezirk zwei Stanowois; der eine kommt von der Moskauer Universität, der andere ist mit der Fürstin Schedrischpanskaja verheiratet – der reine Pariser! Sehen Sie, verehrter Herr, so sieht jetzt unsere Semstwopolizei aus.«

»Wie ist's denn jetzt mit den Schmiergeldern und Schikanen?« fragte ich. »Hat das aufgehört?«

Der Gutsbesitzer antwortete mir nicht direkt, sondern lobte weiter die neue Ordnung der Dinge, die Klugheit und Bildung der Gutsbesitzer, dabei bemerkend, daß mancher Stanowoi über tausend Rubel im Jahr ausgäbe und mit seinen Pferden, seiner Tafel und Wohnung manchen Gutsbesitzer in den Schatten stellte.

5. Das Klassenzimmer

Als wir nach oben kamen, zog Karl Iwanowitsch seinen Schlafrock an, band den Gürtel um und setzte sich sehr nachdenklich auf seinen Platz. Wir gingen mit unserem Lesebuch zu ihm, er sah uns streng an und strich mit seinem starken Fingernagel die Stelle an, bis zu welcher wir auswendig lernen und ihm aufsagen sollten. Wolodja trieb nicht wie gewöhnlich Possen, sondern lernte ordentlich; ich dagegen war so zerstreut, daß ich entschieden nichts tun konnte. Ich starrte lange gedankenlos in das Buch, konnte aber vor Tränen nicht lesen. Und als ich Karl Iwanowitsch das Gelernte aufsagen sollte, konnte ich gerade an der Stelle, wo einer sagt: »Wo kommen Sie her?« und der andere antwortet: »Ich komme aus dem Kaffeehause« die Tränen nicht länger zurückhalten und vor Schluchzen die Worte: »Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?« nicht herausbringen, obgleich ich die ganze Seite sehr gut auswendig konnte. Als es ans Schönschreiben ging, machte ich infolge der Tränen, die auf das Heft fielen, solche Kleckse, als hätte ich mit Wasser auf Löschpapier geschrieben.

Karl Iwanowitsch wurde böse, ließ mich niederknien, sagte, das sei Eigensinn, eine Puppenkomödie (sein Lieblingsausdruck), drohte mit dem Lineal und verlangte, ich sollte um Verzeihung bitten, während ich vor Tränen kein Wort herausbringen konnte. Endlich sah er sein Unrecht wahrscheinlich ein, ging in Nikolas' Zimmer und schlug die Tür zu.

Als er fort war, setzte ich mich nieder und beruhigte mich etwas. Vom Klassenzimmer aus konnte man die Unterhaltung im Wärterzimmer hören.

»Hast du gehört, Nikolas, daß die Kinder nach Moskau fahren?« fragte Karl Iwanowitsch beim Eintritt ins Zimmer.

»Gewiß habe ich das gehört.«

Wahrscheinlich wollte Nikolas aufstehen, denn Karl Iwanowitsch sagte: »Bleib sitzen, Nikolas,« und dann wurde die Tür geschlossen, und man konnte nur noch hören, daß sie sprachen, ohne einzelne Worte zu verstehen. Ich stand auf und lief hin, um zu horchen. Wolodja drohte mir scherzend mit dem Finger.

Durch das Schlüsselloch sah ich Nikolas mit gesenktem Kopf am Fenster Stiefel nähen, während Karl Iwanowitsch mit der Tabaksdose in der Hand vor ihm stand und eifrig redete.

Er sprach Deutsch recht gut und einfach; im Russischen aber machte er bei jedem Wort einige Fehler und bildete sich dabei, glaube ich, ein, ein guter Redner zu sein. Er zog die Worte so auseinander und sprach mit so kläglicher Betonung, daß seine Rede, so lächerlich das klingen mag, für mich stets besonders rührend war. Er sprach wie ein Professor vom Katheder, oder wie man gefühlvolle Verse deklamiert, in einer Art traurigem einförmigen Singsang.

»Man mag den Leuten noch soviel Gutes tun und noch so anhänglich sein – auf Dankbarkeit darf man nicht rechnen, Nikolas. Ich lebe zwölf Jahre in diesem Hause und kann vor Gott beteuern, Nikolas« – fuhr Karl Iwanowitsch, die Augen und die Tabaksdose gegen die Decke richtend, fort – »daß ich die Jungens geliebt und mich mehr mit ihnen beschäftigt habe, als wenn es meine eigenen Kinder wären. Weißt du noch, Nikolas, als Wolodja Fieber hatte, wie ich da neun Tage lang, ohne ein Auge zuzutun, an seinem Bette saß? Ja, damals war ich der liebe, gute Karl Iwanowitsch; damals hatte man mich nötig, aber jetzt,« fügte er ironisch lächelnd hinzu, »jetzt müssen sie etwas Ordentliches lernen. Als ob sie hier nichts lernten …«

 

»Gewiß doch, freilich lernen sie,« meinte Nikolas, den Pfriem hinlegend und mit beiden Händen den Pechdraht ziehend.

»Ja, jetzt bin ich nicht mehr nötig; da jagt man mich wie einen Hund vom Hofe! Wo bleibt da Dankbarkeit, wo alle Versprechungen, vornehme Gesinnung? Natalie Nikolajewna habe ich stets geliebt und verehrt und werde das auch in Zukunft tun, Nikolas. Aber was hat sie zu sagen? … Ihr Wille bedeutet in diesem Hause soviel wie das da!« dabei warf er einen Lederschnitzel von der Fensterbank auf den Boden. »Ich weiß, wer mir das alles eingefädelt hat und warum ich überflüssig geworden bin: weil ich nicht zu allem ja sagen und schmeicheln kann, wie gewisse Leute! Ich sage stets nur jedermann die Wahrheit. Gott mit ihnen! Dadurch, daß ich nicht mehr da bin, werden sie nicht reicher, während ich, so Gott will, schon noch mein Stück Brot finde, nicht wahr, Nikolas?«

Nikolas hörte auf zu nähen und blickte ihn einen Moment voll Teilnahme an, sagte aber nichts.

Lange und viel sprach Karl Iwanowitsch in dem Sinne: wo er früher gelebt, wie man ihn dort besser gewürdigt (es tat mir weh, das zu hören), sprach von Sachsen, von seinen Eltern, seinem Freunde namens Schönheit usw.

Aus alledem begriff ich, daß er Maria Iwanowna haßte und sie für die Urheberin all seines Unglücks hielt, daß er Papa nicht gern hatte, Mama und uns aber sehr liebte und Nikolas überzeugen wollte (vielleicht auch sich selbst), daß, wie schwer ihm auch die Trennung von uns würde, er diesen Schicksalsschlag dennoch mit Ruhe und Würde zu tragen hoffe.

Ich fühlte ihm seinen Kummer nach, und es tat mir weh, daß zwei Personen, die ich fast gleich liebhatte, Papa und Karl Iwanowitsch, sich nicht verstanden. Ich kniete wieder in meiner Ecke nieder und grübelte, wie man zwischen beiden eine Einigung herbeiführen könnte.

Karl Iwanowitsch kehrte bald ins Klassenzimmer zurück, ließ mich aufstehen und das Diktatheft vornehmen. Als das geschehen war, ließ er sich auf seinem Platz nieder und begann mit einer Stimme, die irgendwo aus der Tiefe zu kommen schien, zu diktieren: »Von allen menschlichen Leidenschaften …« er wiederholte: »menschlichen Leidenschaften … ist die grausamste … Haben Sie geschrieben …?« Er machte eine Pause und nahm langsam eine Prise, »ist die grausamste,« wiederholte er, »die Undankbarkeit. Ein großes U.«

Nachdem ich das letzte Wort geschrieben, sah ich ihn in Erwartung des weiteren an. Er aber sagte mit unbeschreiblicher Majestät »Punktum!« und gab ein Zeichen, ihm die Hefte zu übergeben. Mehreremal las er laut, mit verschiedener Betonung, augenscheinlich mit größter Zufriedenheit diese Phrase, die seine innersten Gedanken ausdrückte, gab uns dann ein Pensum aus der Geschichte und blieb selbst am Fenster sitzen. Sein Gesicht war aber schon nicht mehr so verdrießlich wie vorher; es drückte die Zufriedenheit eines Mannes aus, der sich für eine ihm zugefügte Schmach würdig gerächt hat.

Ich lernte am offenen Fenster gerade über Papas Zimmer. Unten hörte man Papas und Mamas Stimmen, aber Wolodja sagte Karl Iwanowitsch, der mit geschlossenen Augen dasaß, so laut seine Lektion her, daß man nicht hören konnte, was sie sprachen.

Warum ist Mama zu ihm gegangen, und nicht er zu ihr? dachte ich. Sie hat ihn zu sich gerufen, was macht ihm das für Mühe; warum muß er sie beunruhigen?

Papa und Mama lebten sehr gut miteinander. Niemals während ihrer Ehe wurde von irgendeiner Seite gegen den anderen ein Vorwurf laut oder bestand der geringste Verdacht der Untreue oder des Betruges. Mama war ein so reines, liebendes und gläubiges Wesen, daß sie nichts argwöhnen, geschweige selbst Argwohn einflößen konnte.

Oft, wenn ich an ihr Verhältnis dachte, wollte ich mir das Gefühl vergegenwärtigen, das sie verband; aber entweder weil meine Erinnerungen mich im Stich ließen oder weil ich Enttäuschung fürchtete, brachte ich das nicht fertig. Bald war mir das Gefühl, das ich mir ausmalte, in der Erinnerung nicht gegenwärtig, bald brachte ich es nicht fertig, daran zu glauben. Fest überzeugt war ich, daß Papa seine Wange hinhielt und Mama ihn küßte, das heißt, er übte stets und in allen Dingen einen großen Einfluß auf sie aus.

Sie gehörte zu den weiblichen Wesen, deren Lebensaufgabe Selbstaufopferung und das Glück anderer bilden. Deswegen war Papa, obgleich er aufmerksam war und mit einer anderen Frau ein guter Mann gewesen wäre, mit Mama grob. Das konnte man daran merken, daß er sich bisweilen von ihr bedienen, sich ihre kleinen Vergnügen zum Opfer bringen ließ, ihr bisweilen das Wort abschnitt. Ja selbst bei den häuslichen Anordnungen war das zu sehen. Wer hatte im Hause die meisten Fenster? Aus wessen Fenster hatte man die schönste Aussicht? Wessen Dienerschaft war am besten untergebracht? Wer hatte den schönsten und bequemsten Eingang? Wer den Ausgang in den Garten? Auf wessen Hälfte war der Kamin? Wer empfing die gemeinsamen Gäste? Wem brachte der alte Gärtner die Kaktus Grandiflora und erklärte mit ruhiger Wichtigkeit, morgen stände sie in Blüte? Vor wessen Fenstern tanzten Bienen und versammelten sich das Hofgesinde und Kinder? Alle diese Vorteile waren auf Papas Seite.

Als Wolodja mit Aufsagen innehielt, drangen aus dem Arbeitszimmer deutlich einige Sätze an mein Ohr. Aus diesen Bemerkungen verstand ich den ganzen Inhalt der Unterhaltung. Papa sagte, die Einnahmen seien dieses Jahr so klein und die Ausgaben so groß, daß man nicht daran denken könnte, mit der ganzen Familie nach Moskau zu übersiedeln, daß aber die Kinder, besonders Wolodja, der bald dreizehn Jahre alt würde, endlich etwas anderes lernen müßten als Tiroler Lieder und Karl Iwanowitschs Dialoge, daß er sie im Sommer aufs Land bringen und im nächsten Winter, so Gott wolle, alle nach Moskau überführen würde.

»Ich weiß, Liebster, daß es zu ihrem Besten dient, es ist aber doch recht traurig,« erwiderte Mama und trat vom Fenster fort.

Es war dreiviertel ein Uhr; einstweilen schien aber Karl Iwanowitsch nicht die Absicht zu haben, den unerträglichen Unterricht zu schließen. Ich sah das Hofmädchen vorübergehen, um die Teller zu waschen, hörte wie im Eßzimmer am Büfett mit Geschirr geklappert, der Tisch ausgezogen und mit Stühlen geschurrt wurde.

Wahrscheinlich werden wir bald zum Essen gerufen; nur eins kann es noch verzögern – ich hatte gesehen, daß Mama mit Mimi, Ljubotschka und Katja (das war Mimis zwölfjährige Tochter) in den Garten gegangen, aber nicht zurückgekehrt waren.

Da schien es, als wenn ihre Schirme auftauchten. Nein, es war Mimi mit dem Mädchen … Ach, und da war auch »sie«. Wie sie langsam ging und wie traurig, das arme Mädchen! Warum fuhr sie nicht mit uns?

Ich wollte folgendes tun: Wenn »er« sagte, es sei Zeit zur Reise, würde ich zu ihr gehen, sie umarmen und sagen: ich will lieber sterben, aber ohne sie gehe ich nicht. Dann würde man mich sicher bei ihr lassen. Dann würden Mama, ich, Ljubotschka, Katja und Karl Iwanowitsch alle zusammen stets in Petrowskoie bleiben; ich würde zu Hause bei Karl Iwanowitsch lernen und dann, wenn ich groß geworden wäre, ihm ein kleines Haus schenken, da würde er immer wohnen; ich würde dann beim Militär eintreten, wenn ich es bis zum General gebracht, jemanden heiraten, vielleicht Katja, und Karl Iwanowitschs Verwandte aus Sachsen kommen lassen, oder nein, ihm lieber Geld geben, um selbst nach Sachsen zu fahren …