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Anna Karenina, 2. Band

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13

Lewin fiel die kürzlich stattgehabte Scene mit Dolly und ihren Kindern ein. Die Kinder, allein gelassen, hatten Himbeeren über Kerzen geröstet und sich die Milch als Fontäne in den Mund gespritzt. Die Mutter, welche sie auf der That ertappt, hatte ihnen in Lewins Gegenwart zu Gemüt geführt, welche große Mühe den Erwachsenen das verursache, was sie da verdorben, und daß diese Arbeit doch für sie geschähe, und sie, wenn sie die Tassen zerschlügen, nichts haben würden, woraus sie Thee tränken; wenn sie aber Milch vergössen, so würden sie nichts zu essen haben und müßten Hungers sterben.

Lewin überraschte die stille Niedergeschlagenheit und der Argwohn, mit welchem die Kinder diese Worte der Mutter anhörten. Sie waren nur darüber erbittert, daß ihr unterhaltendes Spiel abgebrochen worden war, und glaubten kein Wort von dem was die Mutter sagte. Sie konnten es auch nicht glauben, weil sie sich den ganzen Umfang dessen, was sie begangen, gar nicht vorstellen, und infolge dessen sich nicht denken konnten, daß das, was sie verdorben hatten, eben das sei, wovon sie lebten.

„Das ist alles für sich allein da,“ dachten sie, „und etwas Interessantes oder Wichtiges liegt nicht darin, deswegen weil es stets war und sein wird und stets ein und dasselbe ist. Wir brauchen daher gar nicht daran zu denken, denn das ist alles schon da und wir wollen nur etwas Eigenes und recht Neues dabei ausdenken. So haben wir uns ausgedacht, in die Tasse Himbeeren zu nehmen und sie über einem Licht zu rösten, die Milch aber als Fontäne uns gegenseitig in den Mund zu spritzen. Das ist lustig und neu und in nichts schlechter, als aus den Tassen zu trinken.“

„Thun wir nun nicht etwa ganz das Nämliche, thue ich es nicht, mit meinem Verstande die Bedeutung der Naturkräfte erforschend und den Gedanken des menschlichen Lebens?“ fuhr Lewin fort zu denken. „Und thun dies nicht alle philosophischen Theorieen, indem sie auf einem seltsamen, dem Menschen nicht eigenen Gedankenweg, zu der Erkenntnis dessen führen, was der Mensch lange schon weiß, so genau weiß, daß er ohne es gar nicht hätte leben können. Ist es denn nicht aus der Entwicklung der Theorie eines jeden Philosophen klar ersichtlich, daß er im voraus unfehlbar ebenso gut, wie der Bauer Fjodor und durchaus nicht genauer als dieser, den Hauptgedanken des Daseins kennt, und nur auf dem zweifelhaften Wege des Verstandes zu dem gelangen will, was allen bekannt ist? Wollte man die Kinder allein auf Erwerb ausgehen lassen, sollten dieselben Geschirr fertigen, Milch melken &c., würden sie dann Mutwillen treiben? Sie würden Hungers sterben. Nun, so wollen wir doch mit unseren Leidenschaften und Gedanken ohne Verständnis des einigen Gottes und Schöpfers bleiben, oder ohne Verständnis von dem, was gut ist, ohne Offenbarung des moralisch Schlechten. ‚Aber schafft Ihr etwas ohne dieses Verständnis!‘ ‚Wir zerstören nur, weil wir geistig satt sind. Wir sind eben Kinder!‘ Woher kommt in mir diese freudige, mir mit dem Bauern gemeinsame Erkenntnis, welche mir allein die Seelenruhe verleiht? Woher habe ich sie genommen? Erzogen in der Vorstellung eines Gottes, als Christ, und mein ganzes Leben hindurch erfüllt von diesen geistigen Gütern, die mir das Christentum verliehen hat, welches an diesen lebendigen Schätzen überreich ist und in ihnen lebt, zerstöre ich diese, wie die Kinder, ohne sie zu verstehen, – das heißt, ich will zerstören – das, wodurch ich lebe. Sobald jedoch eine ernste Minute des Lebens naht, gehe ich, wie die Kinder, wenn sie frieren oder hungrig sind, zu Ihm, und fühle noch weniger als Kinder, welche die Mutter wegen kindischer Streiche schilt, daß meine kindlichen Versuche, über die man genugsam schelten könnte, mir nicht angerechnet werden. Also das, was ich weiß, weiß ich nicht infolge des Verstandes, sondern es ist mir gegeben, mir geoffenbart, und ich weiß es durch mein Herz, meinen Glauben an das Höchste, was die Kirche bekennt.“

„Die Kirche? Die Kirche?“ wiederholte Lewin, sich auf die andere Seite legend und schaute, auf den Ellbogen gestützt, in die Ferne nach einer jenseits zum Flusse gehenden Herde. „Kann ich dann aber an alles glauben, was die Kirche lehrt?“ dachte er, sich prüfend und alles das überdenkend, was seine jetzige Ruhe stören konnte. Absichtlich begann er, sich diejenigen Lehren der Kirche zu vergegenwärtigen, die ihm vor allen anderen stets befremdlich gewesen waren und ihn verleitet hatten.

„Die Schöpfung? Womit habe ich denn das Sein erklärt? Mit dem Sein? Mit dem Nichts? – Teufel und Sünde! – Womit erkläre ich das Böse? – Was ist der Erlöser? – Ich weiß eben nichts, nichts, und kann nichts wissen, als nur das, was mir und allen anderen gesagt worden ist.“ —

Und jetzt schien es ihm, als gäbe es kein einziges unter den Bekenntnissen der Kirche, welches die Hauptsache, den Glauben an Gott, an das Gute, als die einzige Bestimmung des Menschen stürzte. Für jedes Bekenntnis der Kirche konnte das Bekenntnis zum Dienst in der Wahrheit anstatt in den Lüsten eingesetzt werden. Und jedes derselben warf dies nicht nur nicht um, sondern war vielmehr erforderlich dazu, daß sich jenes höchste, beständig auf Erden erscheinende Wunder auch vollzog, welches darin bestand, daß es jedem möglich werde, gemeinsam mit Millionen verschiedenartigster Menschen, mit Weisen und Narren, Kindern und Greisen – mit allen, mit den Bauern und mit Lwoff, mit Kity, und mit Bettlern oder Königen untrüglich ein und dasselbe zu erkennen, und das Leben der Seele hinzuzustellen, für welches allein es schon der Mühe wert war zu leben, und das allein wir schützen.

Auf dem Rücken liegend, sah er jetzt in den hohen, wolkenlosen Himmel hinein.

„Weiß ich denn nicht, daß dies ein endloser Raum ist, und kein rundes Gewölbe? Aber wie ich auch den Blick anstrengen mag, ich kann ihn nicht anders erblicken als rund und unbegrenzt und ungeachtet meiner Kenntnis seiner unbegrenzten Weite habe ich unzweifelhaft recht. Wenn ich das feste blaue Gewölbe ansehe, handle ich richtiger, als wenn ich mich anstrenge, weiter zu blicken.“

Lewin hörte schon auf zu denken, gleich als ob er geheimnisvollen Stimmen lauschte, die sich freudig und sorglich unterhielten.

„Sollte dies etwa der Glaube sein?“ dachte er, sich scheuend, seinem Glück zu trauen. „Mein Gott, ich danke dir!“ sprach er, ein aufsteigendes Schluchzen hinunterschluckend und sich mit beiden Händen die Thränen abwischend, von denen seine Augen voll standen.

14

Lewin schaute vor sich hin und sah die Herde, dann erblickte er seinen Wagen mit dem Braunen bespannt, und den Kutscher, welcher zur Herde heranfahrend, mit dem Hirten sprach. Hierauf vernahm er, bereits in seiner Nähe, das Geräusch von Rädern und das Schnauben eines satten Pferdes, doch war er so versunken in seinen Gedanken, daß er gar nicht daran dachte, weshalb der Kutscher zu ihm gefahren komme.

Es fiel ihm das erst ein, als ihm dieser, bereits ganz nahe bei ihm, zurief:

„Die Herrin schickt mich. Der Bruder und noch ein Herr sind angekommen.“

Lewin setzte sich auf den Wagen und ergriff die Zügel. Wie aus dem Schlaf erwacht, konnte er lange Zeit nicht zur klaren Besinnung kommen. Er betrachtete das satte Pferd, blickte den Kutscher Iwan an, der neben ihm saß und besann sich nun, daß er den Bruder ja erwartete, daß seine Frau wahrscheinlich über sein langes Ausbleiben besorgt sein werde; und er bemühte sich nun, zu raten, wer der Gast sein könne, der mit dem Bruder gekommen war. Sowohl dieser, wie sein eigenes Weib und der unbekannte Besuch erschienen ihm jetzt anders, als vorher. Ihm schien, als ob jetzt seine Beziehungen zu allen Menschen schon andere werden wollten.

„Dem Bruder gegenüber wird jetzt nicht mehr die Rede von jener Entfremdung sein, die stets zwischen uns herrschte, es sollten keine Streitigkeiten mehr herrschen; auch mit Kity sollte es nie mehr Zwist geben und mit dem Gaste, wer es auch sein mag, werde ich freundlich und gut sein; auch mit den Leuten, mit Iwan – alles wird anders werden.“

Straff das vor Ungeduld schnaubende, eine schnellere Gangart anstrebende, gute Pferd haltend, schaute Lewin den neben ihm sitzenden Iwan an, der nicht wußte, was er mit seinen zur Unthätigkeit verurteilten Händen machen sollte, und beständig sein aufgeblähtes Hemd andrückte und suchte nach einem Thema, um ein Gespräch mit diesem zu beginnen.

Er wollte sagen, daß Iwan überflüssigerweise den Sattelriemen zu hoch gezogen habe, doch dies wäre einem Vorwurf ähnlich gewesen und er wollte jetzt nur freundliche Gespräche führen. Etwas anderes kam ihm nicht in den Kopf.

„Nehmt doch, bitte rechts, sonst wird der Baumstamm da“ – sagte der Kutscher, Lewins Zügel dirigierend.

„Laß das gefälligst und belehre mich nicht!“ antwortete Lewin, ungehalten über diese Einmischung des Kutschers.

So wie immer, machte ihn auch jetzt eine Einmischung verstimmt, und er fühlte sogleich voll Schmerz, wie irrig seine Vermutung gewesen war, daß seine Seelenstimmung ihn sogleich bis zu einer Anpassung an die Wirklichkeit hätte wandeln können.

Als er sich seinem Hause bis auf eine viertel Werst genähert hatte, erblickte er Grischa und Tanja, die ihm entgegeneilten.

„Onkel Konstantin! Mama kommt auch, und der Onkel, und Sergey Iwanowitsch und noch jemand,“ sagten sie auf den Wagen kletternd.

„Wer denn?“

„Außerordentlich seltsam! Er macht es mit den Händen immer so,“ sagte Tanja, sich im Wagen erhebend und Katawasoff nachahmend.

„Ist er alt oder jung?“ frug Lewin lachend, die Vorstellung Tanjas hatte ihn an jemand erinnert. „O, wenn es nur kein unangenehmer Mensch ist!“ dachte er.

Kaum um die Biegung des Weges herum, gewahrte Lewin die Entgegenkommenden, und erkannte Katawasoff im Strohhut, wie er im Gehen mit den Armen schwenkte, so wie es Tanja vorgemacht hatte.

Katawasoff sprach sehr gern über Philosophie, obwohl er von ihr nur einen Begriff aus den Naturwissenschaften besaß, und sich sonst nie damit beschäftigt hatte. In Moskau hatte Lewin in letzter Zeit viel mit ihm disputiert. Eines jener Gespräche, in welchem Katawasoff jedenfalls gehofft hatte Sieger zu bleiben, fiel Lewin sofort wieder ein, nachdem er Katawasoff erkannt hatte.

 

„Nein; streiten und in unüberlegter Weise meine Ideen äußern werde ich um keinen Preis,“ dachte er.

Aus dem Wagen steigend und den Bruder nebst Katawasoff begrüßend, frug Lewin dann nach seiner Frau.

„Sie hat Mitja in das Wäldchen beim Hause getragen. Sie wollte es dorthin bringen, denn im Hause ist es zu warm,“ berichtete Dolly. Lewin hatte seiner Gattin stets davon abgeraten, das Kind in den Wald zu tragen, da er dies für gefährlich befand, und die Nachricht war ihm daher unangenehm.

„Sie schleppt sich mit ihm von Ort zu Ort,“ sagte der Fürst lächelnd. „Ich habe ihr geraten, es in den Eiskeller zu bringen.“

„Sie wollte nach dem Bienengarten gehen, da sie dachte, du würdest dort sein. Wir gehen soeben hin,“ sagte Dolly.

„Nun, was machst du denn?“ sagte Sergey Iwanowitsch, von den anderen weggehend und sich zu dem Bruder gesellend.

„Nichts Besonderes. Wie immer, beschäftige ich mich mit der Ökonomie,“ antwortete Lewin. „Und du? Bleibst du lange hier? Wir haben dich so lange erwartet.“

Bei diesen Worten begegneten sich die Augen der Brüder und Lewin fühlte, trotz des steten und jetzt bei ihm besonders lebhaft gewordenen Wunsches, in freundschaftliche und hauptsächlich klare Beziehungen zu seinem Bruder zu treten, daß es ihm peinlich war, denselben anzublicken. Er schlug die Augen nieder und wußte nicht, was er sagen sollte.

Indem er die Themen durchging, welche Sergey Iwanowitsch willkommen sein und ihn von dem Gespräch über den serbischen Krieg und die slawische Frage ablenken konnten, auf die er schon mit einem Hinweis auf seine Geschäfte in Moskau hingewiesen hatte, begann Lewin von dem Buche Sergey Iwanowitschs zu sprechen.

„Nun, sind denn Recensionen über dein Buch erschienen?“ frug er.

Sergey Iwanowitsch lächelte über das Vorbedachte in der Frage.

„Es hat sich niemand darum gekümmert; ich am allerwenigsten,“ sagte er. „Paßt auf, Darja Aleksandrowna, es wird Regen geben,“ fügte er hinzu, mit dem Schirme auf die über den Wipfeln der Espen erscheinenden weißen Wolken deutend.

Es waren genug Worte gefallen, die, wenn nicht eine feindselige, so doch kühle Beziehung zwischen beiden, wie sie Lewin so gern vermieden hätte, wiederum zwischen den Brüdern eintreten lassen konnten.

Lewin ging zu Katawasoff.

„Wie gut Ihr daran thatet, Euch zu einem Besuch bei uns zu entschließen,“ sagte er zu ihm.

„Ich war schon lange dazu im Begriff gewesen. Nun können wir disputieren. Laßt doch sehen. Habt Ihr Spencer gelesen?“

„Nun, nicht ganz,“ versetzte Lewin, „ich brauche ihn übrigens jetzt nicht.“

„Was heißt das? Er ist doch so interessant. Warum denn nicht?“

„Ich habe mich endgültig überzeugt, daß ich die Lösungen der Fragen, welche mich beschäftigen, nicht in ihm und seinesgleichen finde. Jetzt“ —

Der ruhige, heitere Gesichtsausdruck Katawasoffs überraschte ihn plötzlich, und um seine Stimmung, die er offenbar mit diesem Gespräch fahren lassen mußte, war es ihm nun so leid, daß er in der Erinnerung an seinen Vorsatz, innehielt.

„Sprechen wir übrigens später davon,“ fügte er hinzu. „Wenn wir nach dem Bienengarten wollen, so müssen wir hierhin, auf diesem Fußweg,“ wandte er sich an die Gesellschaft.

Als man auf dem engen Fußwege bis zu einer ungemähten Wiese gekommen war, auf welcher auf der einen Seite dichter heller Kuhweizen stand, während sich in der Mitte viele dunkelgrüne hohe Büsche von Nießwurz befanden, ließ Lewin seine Gäste in dem tiefen kühlen Schatten der jungen Espen auf einer Bank und auf Holzklötzen, die für die Besucher des Bienengartens, welche sich vor den Bienen fürchteten, eigens vorgerichtet waren, niedersetzen, und begab sich selbst zu einem Verhau, um den Kindern und Erwachsenen Brot, Gurken und frischen Honig zu holen.

Im Bemühen, sich möglichst ruhig zu bewegen, und den immer häufiger und häufiger an ihm vorüberfliegenden Bienen lauschend, ging er auf dem Fußweg bis zur Hütte. Dicht vor dem Flur summte eine Biene auf, die sich in seinem Barte verwickelt hatte, doch er befreite sie behutsam.

Nachdem er in den schattigen Flur getreten war, nahm er von der Wand sein dort an einem Pflock aufgehängtes Netz herab und ging, sobald er es angelegt und die Hände in die Taschen gesteckt hatte, in den umzäunten Bienengarten, in welchem in regelmäßig angelegten Reihen, mit Bast an Pfähle festgebunden, inmitten eines glattgemähten Platzes die sämtlichen, ihm so wohlbekannten Bienenkörbe standen – die jeder seine eigene Geschichte hatten – an den Seiten des Zaunes aber befanden sich die jungen, welche erst im laufenden Jahre eingesetzt worden waren. Vor den Fluglöchern der Bienenstöcke flimmerten in den Augen die kreisenden und sich auf einem Punkte zusammendrängenden Bienen und Drohnen und unter ihnen, immer in der nämlichen Richtung zum Wald hinüber nach einer blühenden Linde, und zu den Stöcken zurück flogen die Arbeitsbienen mit ihrer Ladung oder nach derselben. Man hatte nur das unausgesetzte wechselnde Summen der in Thätigkeit begriffenen, eilig dahinfliegenden Arbeitsbiene, oder der blasenden, müßigen Drohne im Ohr, oder das von Erschreckten, die ihre Beute vor einem Feinde in Sicherheit brachten und im Begriff waren, nun bei den Wachen des Stockes Beschwerde zu führen. Jenseits der Umzäunung hobelte ein alter Mann, der Lewin nicht bemerkt. Dieser blieb in der Mitte des Bienengartens stehen, ohne jenen anzurufen. Er freute sich über die Gelegenheit, wieder allein zu sein, sich von der Wirklichkeit wieder erholen zu können, welche ihm bereits seine Stimmung wieder herabgemindert hatte.

Er erinnerte sich, daß er schon auf Iwan ungehalten gewesen war, seinem Bruder Kälte gezeigt und mit Katawasoff oberflächlich zu sprechen angefangen hatte.

„Sollte das doch nur eine zeitweilige Stimmung gewesen sein, welche vorübergeht, ohne eine Spur zu hinterlassen?“ dachte er.

Doch im nämlichen Augenblick, indem er sich seiner Stimmung zuwandte, empfand er voll Freude, daß etwas Neues und Bedeutsames in ihm vorging. Die Wirklichkeit hatte nur für einige Zeit jene seelische Ruhe überdeckt, die er gefunden hatte, diese aber war noch unversehrt in ihm.

Gleichwie die Bienen, welche ihn jetzt umschwirrten, ihm drohten und ihn weglockten, ihn seiner vollen physischen Ruhe beraubten, ihn zwangen, sich zu krümmen und ihnen auszuweichen, so hatten ihn die Sorgen, seit dem Augenblick an ihn herangetreten, da er sich in den Wagen gesetzt hatte, seiner geistigen Freiheit beraubt; aber dies währte nur so lange, bis er mitten unter ihnen war.

Wie seine körperliche Kraft unversehrt in ihm lebte, so war auch die Kraft seines Geistes, deren er sich aufs neue bewußt geworden war, noch unversehrt in ihm.

15

„Weißt du, Konstantin, mit wem Sergey Iwanowitsch hierher gefahren ist?“ frug Dolly, unter ihre Kinder Gurken und Honig verteilend, „mit Wronskiy! Er geht nach Serbien!“

„Und nicht etwa nur allein; er führt eine Eskadron auf seine eigenen Kosten mit!“ sagte Katawasoff.

„Das sieht ihm ähnlich,“ sagte Lewin. „Ziehen denn noch immer Freiwillige hinaus?“ fügte er mit einem Blick auf Sergey Iwanowitsch hinzu.

Dieser nahm, ohne zu antworten, behutsam aus der Tasse, auf welcher eine weiße Honigscheibe lag, mit dem Taschenmesser eine noch lebende, in dem flüssigen Honig klebende Biene heraus.

„Und wie viel! Ihr hättet sehen müssen, was gestern noch auf der Station vorging!“ sagte Katawasoff, vernehmlich in die Gurke beißend.

„Wie soll ich das verstehen? Erklärt mir doch um Gottes willen Sergey Iwanowitsch, wohin alle diese Freiwilligen fahren, und gegen wen sie kämpfen?“ frug der alte Fürst, ein Gespräch fortsetzend, das wohl in Lewins Abwesenheit begonnen worden war.

„Gegen die Türken,“ antwortete Sergey Iwanowitsch mit ruhigem Lächeln, die sich mit ihren Beinchen hilflos bewegende Biene befreiend, die von dem Honig schwarz geworden war, und sie von dem Messer auf ein starkes Espenblatt setzend.

„Und wer hat den Türken den Krieg erklärt? Iwan Iwanitsch Ragozoff, die Gräfin Lydia Iwanowna und Madame Stahl!“

„Niemand hat den Krieg erklärt, die Leute fühlen nur Mitleid mit ihren Nächsten und wollen ihnen helfen,“ sagte Sergey Iwanowitsch.

„Aber der Fürst spricht nicht von der Hilfe,“ sagte Lewin, für seinen Schwiegervater eintretend, „sondern von dem Kriege. Der Fürst sagt, daß Privatleute keinen Teil an einem Kriege haben können, wenn nicht die Regierung eine Entscheidung darüber gegeben hat.“

„Konstantin, sieh, da ist eine Biene! Wahrhaftig sie werden uns noch stechen!“ sagte Dolly, eine Wespe abwehrend.

„Das ist keine Biene, es ist eine Wespe,“ sagte Lewin.

„Nun also, wie steht es mit Eurer Theorie?“ sagte Katawasoff lächelnd zu Lewin, diesen offenbar zum Disput auffordernd. „Weshalb haben Privatleute kein Recht?“

„Meine Theorie ist die: Ein Krieg ist einerseits ein solches Ungeheuer, etwas so Hartes, Furchtbares, daß kein Mensch – ich sage noch gar nicht Christ – auf seine persönliche Verantwortung hin seine Anstiftung übernehmen kann. Dies kann nur eine Regierung, welche dazu berufen ist und zu einem unvermeidlichen Kriege gedrängt wird. Dann aber verzichten ja auch sowohl nach der sachwissenschaftlichen Seite, wie nach dem gesunden Menschenverstand die Bürger in Regierungssachen, insbesondere in Kriegsfragen, auf ihren persönlichen Willen.“

Sergey Iwanowitsch und Katawasoff ergriffen mit ihren schon bereitgehaltenen Erwiderungen gleichzeitig das Wort.

„Darin liegt aber ja eben der Schwerpunkt, daß es Fälle geben kann, in denen die Regierung den Willen der Bürger nicht erfüllt; dann zeigt die Gesellschaft den ihren,“ sagte Katawasoff.

Sergey Iwanowitsch stimmte indessen diesem Einwand augenscheinlich nicht zu. Er zog die Stirn bei den Worten Katawasoffs und sagte etwas Anderes.

„Du stellst so die Frage unnütz auf. Es handelt sich hier nicht um eine Kriegserklärung, sondern einfach um den Ausdruck des humanen christlichen Gefühls. Man mordet unsere Stammesbrüder, die mit uns des nämlichen Blutes und Glaubens sind. Nun, nehmen wir an, sie wären selbst nicht unsere Mitbrüder, nicht unsere Glaubensgenossen, sondern einfach Kinder, Weiber, Greise. Da empört sich doch das Gefühl, und die Russen eilen zu Hilfe, um diese Schrecken zu verkürzen. Stelle dir vor, du gingest auf der Straße und sähest, daß Trunkene ein Weib schlügen oder ein Kind. Ich denke, da würdest du wohl nicht erst fragen, ob hier jenen Menschen der Krieg erklärt worden sei oder nicht, sondern darauf zueilen und den Beleidigten verteidigen.“

„Aber den Gegner nicht töten,“ sagte Lewin.

„Doch, du würdest ihn töten.“

„Ich weiß nicht. Wenn ich dergleichen sähe, würde ich mich meinem unmittelbaren Gefühl hingeben, im voraus aber kann ich nichts sagen. Ein solches unmittelbares Gefühl für die Unterdrückung der Südslaven ist aber nicht vorhanden, kann es auch gar nicht sein.“

„Doch wohl nur für dich nicht! Für die anderen ist es vorhanden,“ sagte Sergey Iwanowitsch mißvergnügt die Stirne runzelnd. „Im Volke sind die Überlieferungen über Rechtgläubige lebendig, die unter dem Joch der Gottlosigkeit litten. Das Volk hat von den Leiden der Mitbrüder vernommen und gesprochen.“

„Kann sein,“ sagte Lewin nachgiebig, „aber ich sehe das nicht ein; ich bin selbst Volk und fühle dies doch nicht.“

„Ich auch nicht,“ sagte der Fürst. „Ich habe im Auslande gelebt, die Zeitungen gelesen und – ich gestehe es – selbst was die bulgarischen Schrecken anbetrifft – niemals recht begreifen können, weshalb plötzlich alle Russen ihre slavischen Brüder so zu lieben anfingen, während ich nicht die geringste Liebe für sie verspürte. Ich ärgerte mich darüber sehr, dachte, ich sei ein Ungeheuer, oder Karlsbad hätte auf mich so eingewirkt, aber nachdem ich hierher gekommen, war ich beruhigt. Ich sehe, daß es auch außer mir noch Leute giebt, die nur für Rußland Interesse haben, und nicht für die slavischen Brüder – Leute, wie Konstantin.“ —

„Persönliche Meinungen bedeuten hier nichts,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „es kommt nicht auf persönliche Meinungen an, wenn ganz Rußland – das Volk – seinen Willen geäußert hat.“

„Bitte recht sehr, aber das sehe ich nicht. Das Volk weiß was rechtes,“ sagte der Fürst.

„O Papa, warum das? Kommst du Sonntag mit in die Kirche?“ frug Dolly, die dem Gespräch zuhörte. „Gieb mir doch das Handtuch,“ wandte sie sich zu dem alten Herrn, der lächelnd auf ihre Kinder blickte. „Es kann doch nicht sein, daß alle“ —

 

„Was willst du denn am Sonntag in der Kirche? Man hatte den Geistlichen ersucht, eine Messe zu lesen. Er las sie. Die Leute aber haben nichts verstanden, sie seufzten, wie bei jeder Beichte,“ fuhr der Fürst fort. „Dann sagte man ihnen, daß man für den heiligen Zweck in der Kirche sammle. Nun, da holten sie denn ihre Kopeke hervor und gaben sie, wozu aber, das haben sie nicht gewußt.“

„Das Volk muß es wissen. Das Bewußtsein seines Geschickes lebt stets in einem Volke, und in Minuten, wie es die jetzigen sind, wird ihm dasselbe klar,“ sagte Sergey Iwanowitsch voll Überzeugung, nach dem alten Bienenzüchter schauend.

Ein schöner Greis, mit schwarzem, graumeliertem Bart und dichtem, silbernem Lockenhaar, stand dieser unbeweglich, eine Schale mit Honig haltend, freundlich und ruhig da, aus seiner vollen Größe auf die Herren herniederblickend, offenbar ohne Etwas zu verstehen, noch mit dem Wunsche darnach.

„So ist es,“ sagte er, ausdrucksvoll den Kopf schüttelnd, zu den Worten Sergey Iwanowitschs.

„Ja, fragt ihn nur! Er weiß nichts und denkt nicht,“ sagte Lewin. „Du hörst wohl, Michailitsch, wir sprechen von dem Krieg?“ wandte er sich an diesen. „Ihr habt das ja in der Kirche gelesen. Wie denkst du darüber? Müssen wir für die Christen kämpfen?“

„Was haben wir dabei mit zu denken? Aleksander Nikolajewitsch der Kaiser denkt für uns, er denkt für uns in allen Dingen. Ihm ist alles klarer. Soll ich nicht noch ein Stück Brot holen?“ wandte er sich an Darja Aleksandrowna, auf Grischa weisend, der soeben mit seiner Rinde fertig geworden war.

„Ich brauche eigentlich gar nicht zu fragen,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „wir haben hunderte und aber hunderte von Menschen gesehen und sehen sie noch, die alles verlassen, um einer guten Sache zu dienen. Von allen Enden Rußlands kommen sie herbei, und äußern offen und klar ihre Gedanken und Absichten. Sie bringen ihr Erspartes mit oder kommen selbst und sagen rückhaltlos, warum. Was bedeutet dies nun?“

„Es bedeutet, nach meiner Meinung,“ sagte Lewin, der warm zu werden begann, „daß sich in einem Volke von achtzig Millionen immer nicht nur Hunderte, wie jetzt, sondern Tausende von Menschen finden werden, die ihre gesellschaftliche Stellung eingebüßt haben, von Müßiggängern, die stets bereit sind, zur Bande Pugatscheffs, nach Khiwa oder nach Serbien zu gehen.“

„Ich sage dir aber, daß es nicht Hunderte und keine Müßiggänger, sondern die besten Repräsentanten des Volkes sind,“ sagte Sergey Iwanowitsch mit einer Gereiztheit, als verteidige er seine eigene Würde. „Und die Opfer? Hier drückt doch das ganze Volk seinen Willen aus!“

„Das Wort ‚Volk‘ ist so unbestimmt,“ sagte Lewin. „Die Bezirksschreiber, Lehrer, und von den Bauern je der Tausendste wissen wohl, worum es sich handelt. Die Übrigen achtzig Millionen, drücken nicht nur, wie Michailoff, ihren Willen gar nicht aus, nein, sie haben nicht einmal auch nur den geringsten Begriff davon, worüber sie ihren Willen äußern sollten. Welches Recht haben wir nun da, von einem Volkswillen zu sprechen?“