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Anna Karenina, 2. Band

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20

Stefan Arkadjewitsch hatte, wie stets, die Zeit in Petersburg nicht müßig zugebracht. In Petersburg hatte er an Geschäften außer der Scheidung der Schwester und der Angelegenheit mit dem Amte wie immer, noch eine Erholung von nöten nach dem Moskauer Stumpfsinn, wie er sagte.

Moskau war ungeachtet seiner Caféchantants und Omnibusse doch für ihn nur ein stehender Sumpf. Dies fühlte Stefan Arkadjewitsch stets, und wenn er in Moskau besonders bei seiner Familie gelebt hatte, fühlte er, daß sein Lebensmut sank. Wenn er lange Zeit, ohne fortzukommen in Moskau zugebracht hatte, kam er soweit, daß er anfing, sich über die schlechte Laune und die Vorwürfe seines Weibes Gedanken zu machen, über die Gesundheit und Erziehung der Kinder, und die kleinen Interessen seines Dienstes; selbst der Umstand, daß er Schulden hatte, beunruhigte ihn.

Es war indessen nur nötig, daß er nach Petersburg kam und sich dort aufhielt, in dem Kreise, in welchem er verkehrte, und in welchem man lebte, ja wirklich lebte, und nicht erfror wie in Moskau, um sogleich alle diese Gedanken verschwinden und schmelzen zu lassen, wie Wachs vor dem Scheine des Feuers.

Und sein Weib? – Erst heute hatte er mit dem Fürsten Tschetschenskiy gesprochen. Der Fürst Tschetschenskiy hatte Frau und Kinder – die erwachsenen Kinder waren Pagen – und doch auch eine zweite, illegitime Familie, in welcher gleichfalls Kinder vorhanden waren. Obwohl nun die erste Familie auch gut war, fühlte sich der Fürst doch glücklicher in der zweiten; er brachte seinen ältesten Sohn mit in seine zweite Familie und erzählte Stefan Arkadjewitsch, er fände, dies sei ihm nützlich und förderlich.

Was hätte man hierzu in Moskau gesagt?

Seine Kinder? – In Petersburg hinderten die Kinder die Väter nicht daran, zu leben. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und es gab hier nicht jene in Moskau – bei Lwoff zum Beispiel – verbreitete, seltsame Auffassung, daß den Kindern aller Luxus des Lebens, den Eltern allein Mühe und Sorgen zukämen. Hier hatte man erkannt, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, wie ein gebildeter Mensch eben leben müsse.

Sein Dienst? – Der Dienst war hier gleichfalls nicht eine so strenge hoffnungslose Fessel, wie die, welche man in Moskau trug; hier war ein Interesse am Dienst vorhanden. Eine Begegnung, ein Verdienst, ein treffendes Wort, die Fähigkeit, sich in den Personen nur verschiedene Gegenstände vorzustellen, war alles, um jemand plötzlich Carriere machen zu lassen, wie Bojanzeff, dem Stefan Arkadjewitsch gestern begegnet und der jetzt einer der ersten Beamten war, sie gemacht hatte. Dieser Dienst gewährte Interesse.

Insbesondere wirkten aber die Petersburger Anschauungen in finanziellen Dingen beruhigend auf Stefan Arkadjewitsch. Bartejanskij, welcher mindestens fünfzigtausend Rubel in dem train, welchen er gerade verfolgte, verbrauchte, hatte ihm erst gestern darüber ein bemerkenswertes Wort fallen lassen.

Vor dem Essen hatte Stefan Arkadjewitsch in der Unterhaltung zu Bartejanskij gesagt:

„Du scheinst dem Mordwinskij nahe zu stehen und könntest mir daher einen Dienst erweisen, wenn du bei ihm für mich ein gutes Wort einlegen wolltest. Es ist da ein Amt vorhanden, welches ich haben möchte, als Mitglied der Agentur“ —

„Nun, ich erinnere mich nicht so ganz – aber was hast du für eine Sehnsucht nach diesen Eisenbahngeschäften mit Juden? Doch wie du willst; aber es ist doch etwas Widerwärtiges dabei“ —

Stefan Arkadjewitsch sagte ihm nicht, daß es sich um ein lebensfähiges Unternehmen handle: Bartejanskij hätte dies nicht verstanden.

„Ich brauche Geld; habe nichts mehr zu leben.“

„Aber du lebst doch?“

„Ich lebe wohl, habe aber viel Schulden.“

„Was willst du? Hast du viel?“ sagte Bartejanskij mitleidig.

„Sehr viel, zwanzigtausend Rubel.“

Bartejanskij lachte lustig auf.

„O glücklicher Mensch!“ sagte er, „ich habe anderthalb Million und besitze gar nichts, aber, wie du siehst, kann man doch noch dabei leben!“

Stefan Arkadjewitsch fand nicht sowohl in den Worten allein, als in der Sache selbst die Richtigkeit des Gesagten.

Schivachoff hatte dreihunderttausend Rubel Schulden und nicht eine Kopeke im Vermögen und er lebte doch, und noch dazu auf welche Weise! Den Grafen Krivzoff hatten alle schon totgesungen und er unterhielt doch noch zwei Maitressen. Petrowskiy hatte fünf Millionen durchgebracht und lebte noch immer auf demselben Fuße, verwaltete sogar noch immer Finanzen und bezog zwanzigtausend Rubel Gehalt.

Außer alledem aber wirkte Petersburg auch physisch angenehm auf Stefan Arkadjewitsch ein. Es verjüngte ihn.

In Moskau schaute er zuweilen nach einem grauen Haar, schlief nach dem Essen, reckte sich, stieg im Schritt, schwer atmend die Treppen, langweilte sich mit jungen Weibern und tanzte nicht auf den Bällen. In Petersburg hingegen fühlte er sich stets um zehn Jahre jünger.

Er empfand in Petersburg das, was ihm gestern erst der sechzigjährige Graf Oblonskiy, Peter, der soeben aus dem Ausland zurückgekommen war, gesagt hatte.

„Wir verstehen hier nicht zu leben,“ hatte Peter Oblonskiy gesagt, „glaubst du es wohl – ich habe den Sommer in Baden verlebt, aber, wahrhaftig, mich ganz wie ein junger Mensch gefühlt. Kaum sah ich ein junges Frauenzimmer, so gingen die Gedanken – man aß und trank so leichthin – Kraft und Mut war vorhanden. Da aber bin ich nun nach Rußland gekommen – ich mußte zu meiner Frau und auf das Dorf – ja; du wirst es nicht glauben; vierzehn Tage hindurch hatte ich meinen Hausrock angezogen und aufgehört, zur Tafel Toilette zu machen. An die jungen Frauenzimmer denke ich nicht mehr, ich bin ein vollständiger Greis geworden. Nur das Seelenheil zu retten, bleibt mir noch. Dann aber fuhr ich nach Paris – da kam ich wieder in Ordnung.“

Stefan Arkadjewitsch empfand ganz den nämlichen Unterschied, wie Peter Oblonskiy. In Moskau hatte er so nachgelassen, daß er in der That, wenn er lange noch so hätte fortleben müssen, dazu gekommen wäre – was übrigens ganz gut gewesen sein würde – für das Heil seiner Seele zu sorgen. In Petersburg aber fühlte er sich wieder als wahrer Mensch.

Zwischen der Fürstin Betsy Twerskaja und Stefan Arkadjewitsch bestanden alte, sehr seltsame Beziehungen. Stefan Arkadjewitsch machte ihr stets launig den Hof und sagte ihr, immer im Scherz, die indecentesten Dinge, wobei er recht wohl wußte, daß ihr dies ganz besonders gefiel. Am Tage nach seinem Gespräch mit Karenin begab sich Stefan Arkadjewitsch zu ihr. Er fühlte sich so jung, daß er in dieser scherzhaften Cour und seichten Plauderei unvermutet so weit kam, daß er nicht mehr wußte, wie er sich wieder heraushelfen sollte, obwohl sie ihm leider nicht nur nicht gefiel, sondern sogar widerlich war. Dieser Ton herrschte nun deswegen, weil er ihr sehr gefiel, und so kam es, daß er recht froh über die Ankunft der Fürstin Mjagkaja war, welche diesem Alleinsein zu Zweien ein Ende machte.

„Ah, Ihr hier,“ sagte sie, ihn erblickend, „nun, wie befindet sich Eure arme Schwester? Haltet mich nicht für neugierig,“ fügte sie hinzu, „seit alle sie verlassen haben, alle die, die tausendmal schlechter sind, als sie, finde ich, daß sie schön gehandelt hat. Ich kann es Wronskiy nicht verzeihen, daß er es mich nicht hat wissen lassen, als sie in Petersburg war. Ich wäre zu ihr, und mit ihr überall hingefahren. Übermittelt ihr doch gefälligst den Ausdruck meiner Liebe für sie, und erzählt mir nun von ihr.“

„Ja, ihre Lage ist schwer,“ begann Stefan Arkadjewitsch zu erzählen, in der Einfalt seines Herzens die Worte der Fürstin Mjagkaja, für bare Münze nehmend, doch diese unterbrach ihn sogleich, nach ihrer Gewohnheit, und begann selbst zu erzählen.

„Sie hat gethan, was alle außer mir auch thun, jedoch verheimlichen. Sie aber hat nicht täuschen wollen, sondern schön gehandelt, und noch schöner gehandelt, weil sie diesen halben Narren, Euren Schwager, verließ. Ihr entschuldigt mich wohl; alle haben gesagt, daß er klug sei, klug – nur ich allein habe gesagt, daß er ein Thor ist. Jetzt, nachdem er sich mit der Lydia Iwanowna verbunden hat, und mit dem Landau, sagt jedermann, daß er halbverrückt ist. Ich wäre froh, wenn ich nicht mit jedermann einzustimmen brauchte, aber diesmal kann ich doch nicht anders!“

„Erklärt mir doch gefälligst,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „was das eigentlich bedeutet? Gestern war ich bei ihm in der Angelegenheit meiner Schwester und ersuchte ihn um einen bestimmten Bescheid. Er gab mir keine Antwort und sagte, er wolle sich bedenken, heute morgen aber erhielt ich anstatt der Antwort eine Einladung für diesen Abend zu der Gräfin Lydia Iwanowna.“

„So, so,“ sagte die Fürstin Mjagkaja voll Vergnügen. „Sie werden Landau befragen, was der sagen wird.“

„Wie, Landau? Warum? Wer ist das, Landau?“ —

„Wie, Ihr kennt nicht Jules Landau le fameux, Jules Landau le clairvoyant? Der ist auch halbverrückt, und doch, von ihm hängt das Schicksal Eurer Schwester ab. Aber das kommt eben vom Leben in der Provinz – Ihr wißt von nichts! – Landau, seht Ihr, war ein Kommis in einem Pariser Magazin und kam einmal zu einem Arzte. Beim Arzt schlief er im Empfangszimmer ein und begann im Schlaf allen Kranken Rat zu erteilen, wunderbare Ratschläge! Hierauf hörte die Frau des Juriy Meledinskiy – Ihr wißt, des Kranken – von diesem Landau und nahm ihn mit zu ihrem Manne. Er kurierte nun ihren Gatten, doch hat er ihm noch keinerlei Nutzen gebracht, nach meiner Meinung, da dieser noch immer so gelähmt ist; allein man glaubt an ihn und giebt sich mit ihm ab. Sie haben ihn mit nach Rußland gebracht, hier hat sich alles auf ihn gestürzt und er hat sie alle zu kurieren begonnen. Die Gräfin Bessubowa hat er geheilt und sie hat ihn so lieb gewonnen, daß sie ihn zu ihrem Sohne gemacht hat.“

„Wie, zu ihrem Sohne?“

„Jawohl, adoptiert. Er ist jetzt kein Landau mehr, sondern ein Graf Bessuboff. Doch darum handelt es sich nicht; Lydia jedoch – ich liebe sie sehr, aber sie hat den Kopf nicht auf dem rechten Flecke – hat sich natürlich jetzt diesem Landau in die Arme geworfen und ohne ihn wird weder bei ihr, noch bei Aleksey Aleksandrowitsch ein Beschluß gefaßt, weshalb das Schicksal Eurer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Grafen Bessuboff, liegt.“

 

21

Von einem vorzüglichen Essen und dem Genuß einer beträchtlichen Quantität Cognac, den er bei Bartejanskij getrunken hatte, kam Stefan Arkadjewitsch, nur ein wenig spät für die festgesetzte Zeit, zur Gräfin Lydia Iwanowna.

„Wer ist noch bei der Gräfin? Der Franzose?“ frug er den Schweizer, indem er den wohlbekannten Überzieher Aleksey Aleksandrowitschs und einen eigentümlichen, wunderbaren Paletot mit Spangen erblickte.

„Aleksey Aleksandrowitsch Karenin und Graf Bessuboff,“ antwortete der Portier gemessen.

„Die Fürstin Mjagkaja hat richtig vermutet,“ dachte Stefan Arkadjewitsch, als er die Treppe hinaufstieg. „Seltsam; es wäre aber doch wohl ganz gut, sich ihr zu nähern. Sie besitzt einen ungeheuren Einfluß. Wenn sie mit Pomorskiy ein Wörtchen spricht, dann ist mir's gewiß.“

Es war draußen noch vollständig hell, in dem kleinen Salon der Gräfin Lydia Iwanowna aber brannten hinter den herabgelassenen Gardinen schon die Lampen.

An einem runden Tisch hinter der Lampe saß die Gräfin und Aleksey Aleksandrowitsch in leise geführtem Gespräch. Ein kleiner, magerer Mensch mit einer Weibertaille, an den Knieen eingebogenen Füßen, sehr bleich, hübsch, mit glänzenden, schönen Augen und langen Haaren die auf dem Kragen seines Rockes lagen, stand an dem anderen Ende des Zimmers, die Wand mit den Porträts betrachtend.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch die Dame des Hauses und Aleksey Aleksandrowitsch begrüßt hatte, blickte er nochmals unwillkürlich nach dem unbekannten Manne.

„Monsieur Landau,“ wandte sich die Gräfin an denselben mit einer Oblonskiy verblüffenden Weichheit und Rücksichtnahme, und machte die beiden miteinander bekannt.

Landau hatte sich schnell umgeblickt, war herangekommen, und hatte lächelnd in die ausgestreckte Rechte Stefan Arkadjewitschs eine unbewegliche, schwitzende Hand gelegt, trat aber dann sogleich hinweg und sah wieder die Porträts an. Die Gräfin und Aleksey Aleksandrowitsch wechselten einen ausdrucksvollen Blick.

„Ich bin sehr erfreut, Euch zu sehen, insbesondere heute,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, Stefan Arkadjewitsch einen Platz neben Karenin anweisend.

„Ich habe Euch mit ihm als einem Landau bekannt gemacht,“ sprach sie mit leiser Stimme, den Franzosen und dann sogleich Aleksey Aleksandrowitsch anblickend, „doch eigentlich ist er Graf Bessuboff, wie Ihr wahrscheinlich wißt. Er liebt indessen diesen Titel nicht.“

„Ja, ich habe davon gehört,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, „man sagt, er habe die Gräfin Bessubowa vollständig wiederhergestellt.“

„Sie war jetzt bei mir, sie ist so zu beklagen,“ wandte sich die Gräfin an Aleksey Aleksandrowitsch. „Diese Trennung ist für sie entsetzlich. Es ist ein solcher Schlag für sie.“

„Reist er denn bestimmt ab?“ frug Aleksey Aleksandrowitsch.

„Ja; er geht nach Paris; gestern hat er die Stimme gehört,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, Stefan Arkadjewitsch anblickend.

„Ah, die Stimme,“ wiederholte Oblonskiy im Gefühl, daß man sich so vorsichtig wie möglich in dieser Gesellschaft zu verhalten habe, in welcher etwas Absonderliches vor sich ging oder vor sich gehen sollte, zu dem er noch keinen Schlüssel besaß.

Ein minutenlanges Schweigen trat ein, worauf die Gräfin Lydia Iwanowna, gleichsam Sturm laufend auf den Hauptpunkt des Gesprächs, mit feinem Lächeln zu Oblonskiy sagte:

„Ich kenne Euch seit langem und freue mich sehr, Euch näher kennen zu lernen. Les amis de nos amis sont nos amis, aber um ein Freund zu sein, muß man sich in den Seelenzustand des anderen Freundes hineindenken; wobei ich jedoch fürchte, daß Ihr dies mit Bezug auf Aleksey Aleksandrowitsch nicht thut. Ihr versteht, wovon ich rede,“ sprach sie, ihre schönen, sinnigen Augen erhebend.

„Zum Teil, Gräfin, verstehe ich, daß die Lage Aleksey Aleksandrowitschs“ – sagte Oblonskiy, ohne recht zu begreifen, worum es sich handelte und daher mit der Absicht, sich allgemein zu halten.

„Die Veränderung liegt nicht in der äußerlichen Situation,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna ernst, zugleich mit liebevollem Blick dem sich erhebenden und zu Landau gehenden Aleksey Aleksandrowitsch folgend, „sein Herz hat sich verändert, ihm ist ein neues Herz verliehen worden, und ich fürchte, daß Ihr Euch nicht vollkommen in diese Veränderung hineingedacht habt, die in ihm vor sich gegangen ist.“

„Nun, ich kann mir in allgemeinen Umrissen diese Veränderung schon vorstellen. Wir sind stets Freunde gewesen, und jetzt“ – sagte Stefan Arkadjewitsch, mit einem zärtlichen Blicke dem Blick der Gräfin antwortend, wobei er überlegte, welchem der beiden Minister sie näher stände, damit er wissen könne, in bezug auf welchen von den beiden er sie anzugehen hätte.

„Die Veränderung, welche in ihm vor sich gegangen ist, kann seine Gefühle der Nächstenliebe nicht abschwächen; im Gegenteil, diese Veränderung muß die Liebe noch erhöhen. Doch ich fürchte, Ihr versteht mich nicht. Wollt Ihr nicht Thee nehmen?“ sagte sie, mit den Augen auf den Diener weisend, welcher auf dem Präsentierbrett Thee reichte.

„Nicht ganz, Gräfin. Versteht sich, sein Unglück“ —

„Ja, das Unglück, welches sein größtes Glück geworden ist, da sein Herz ein neues ward, von ihm erfüllt,“ sagte sie, voll Liebe auf Aleksey Aleksandrowitsch schauend.

„Ich glaube, man wird sie schon darum bitten können, mit beiden zu sprechen,“ dachte Stefan Arkadjewitsch. „O gewiß, Gräfin,“ sagte er, „doch ich denke, diese Veränderungen sind so innerlicher Natur, daß niemand, selbst nicht der am allernächsten Stehende, gern davon spricht.“

„Im Gegenteil; wir müssen davon reden, und einander beistehen.“

„Nun ja, ohne Zweifel, es bleibt aber doch ein gewisser Unterschied in den Überzeugungen und dabei“ – sagte Oblonskiy mit geschmeidigem Lächeln.

„Es kann keinen Unterschied geben in Sachen der heiligen Wahrheit.“

„Ja, ja, gewiß, doch“ – und in Verlegenheit geratend, verstummte Stefan Arkadjewitsch. Er hatte erkannt, daß es sich um die Religion handelte.

„Mir scheint, er wird sogleich einschlafen,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch bedeutungsvoll flüsternd, indem er zu Lydia Iwanowna herantrat.

Stefan Arkadjewitsch schaute sich um. Landau saß am Fenster, auf die Armlehne und Rücklehne eines Sessels gestützt, mit herniedergesunkenem Haupte. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, hob er den Kopf und lächelte kindlich-naiv.

„Beobachtet ihn nicht,“ sagte Lydia Iwanowna, mit leichter Bewegung ihren Stuhl zu Aleksey Aleksandrowitsch rückend, „ich habe bemerkt“ – begann sie, als der Diener mit einem Briefe in das Zimmer trat. Lydia Iwanowna durchflog schnell das Billet, und schrieb dann, nachdem sie um Entschuldigung gebeten, mit außerordentlicher Schnelligkeit etwas nieder, gab die Antwort hinaus und wandte sich wieder zu dem Tische. „Ich habe bemerkt,“ fuhr sie in dem begonnenen Gespräch fort, „daß die Moskauer, insbesondere die Herren, die gleichgültigsten Menschen der Religion gegenüber sind.“

„O nein Gräfin, mir scheint, daß die Moskauer im Rufe stehen, die glaubenstreuesten Menschen zu sein,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch.

„Nun, soviel ich es verstehe, seid Ihr leider einer der Gleichgültigen,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich mit mattem Lächeln an ihn wendend.

„Wie kann man nur gleichgültig sein!“ sagte Lydia Iwanowna.

„Ich bin in dieser Beziehung weniger gleichgültig, als daß ich nur harre,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch mit seinem weichsten Lächeln, „ich glaube nicht, daß für mich eine Zeit für solche Fragen kommen könnte.“

Aleksey Aleksandrowitsch und Lydia Iwanowna wechselten einen Blick.

„Wir können nie wissen, ob die Zeit für uns gekommen ist oder nicht,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch streng. „Wir dürfen nicht denken, ob wir bereit sind oder nicht bereit; die göttliche Fügung wird nicht von menschlichem Denken geleitet; sie trifft bisweilen nicht diejenigen, welche streben, sondern die, welche unvorbereitet sind, wie sie Saul traf.“

„Nein; mir scheint, jetzt noch nicht,“ sagte Lydia Iwanowna, die währenddem den Bewegungen des Franzosen gefolgt war.

Landau erhob sich und trat zu ihnen.

„Gestattet Ihr mir, zuzuhören?“ frug er.

„O gewiß; ich wollte Euch nicht stören,“ sagte Lydia Iwanowna ihn zärtlich anblickend, „setzt Euch zu uns.“

„Man soll nur die Augen nicht schließen, um nicht des Lichtes beraubt zu sein,“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort.

„Ach, wenn Ihr jenes Glück känntet, welches wir empfinden in dem Gefühl von Gottes steter Gegenwart in unserer Seele!“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, verzückt lächelnd.

„Aber der Mensch kann sich bisweilen unfähig fühlen, sich zu dieser Höhe zu erheben,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, welcher merkte, daß er einen Bogen schlug, indem er die Höhe der Religion anerkannte, sich aber zugleich dabei nicht entschließen konnte, seine Freidenkerei vor einer Person einzugestehen, welche ihm mit einem einzigen Worte zu Pomorskiy das gewünschte Amt zu verschaffen vermochte.

„Das heißt, Ihr wollt sagen, daß die Sünde ihn daran hindere?“ sagte Lydia Iwanowna. „Dies ist eine falsche Ansicht. Es giebt keine Sünde für die Gläubigen, ihre Sünde ist schon losgekauft. – Pardon,“ fügte sie hinzu, auf den wiederum mit einem anderen Billet eintretenden Diener blickend. Sie las und antwortete dann in Worten: „Morgen sind wir bei der hohen Fürstin, sagt das; für den Gläubigen giebt es keine Sünde,“ setzte sie das Gespräch fort.

„Ja; aber der Glaube ohne Worte ist doch tot,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, sich dieses Satzes aus dem Katechismus erinnernd, und nur noch durch ein Lächeln seine Unabhängigkeit wahrend.

„So ist es; das ist aus dem Brief des Apostel Jakobus,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, etwas vorwurfsvoll zu Lydia Iwanowna gewendet, wie betreffs einer Sache, über die sie noch nicht ein einziges Mal gesprochen hätten.

„Wie viel Schaden hat die falsche Auslegung dieser Stelle angerichtet! Nichts zieht so sehr vom Glauben ab, als diese Auslegung; ‚ich habe keine Werke, also auch keinen Glauben‘ und doch ist dies nirgends gesagt. Es ist das Umgekehrte gesagt.“

„In Gott sich zu mühen, mit Kasteiungen, in Fasten die Seele zu retten,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit widerlicher Geringschätzung, „das sind nur wunderliche Auffassungen unserer Mönche. Denn das ist nirgends gesagt. Es ist dies bei weitem einfacher und leichter,“ fügte sie hinzu, Oblonskiy mit dem nämlichen ermutigenden Lächeln anblickend, mit welchem sie bei Hofe die jungen, von der ungewohnten Umgebung verwirrten Damen ermutigte.

„Wir sind erlöst durch Christum, der für uns gelitten hat. Wir sind erlöst im Glauben,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch, ihre Worte mit seinem Blick billigend.

Vous comprenez l'anglais?“ frug Lydia Iwanowna und erhob sich, nachdem sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, um auf einem kleinen Bücherbrett in den Büchern zu suchen.

„Soll ich ‚Safe and Happy‘ oder ‚Under the Wing‘ lesen?“ sprach sie, Karenin fragend anblickend, setzte sich, nachdem sie das Buch gefunden hatte, wieder auf ihren Platz und schlug es auf.

Die Ausführung war sehr kurz. Es wurde hier der Weg beschrieben, auf welchem der Glaube erworben wird und jenes Glück, welches höher ist, als alles Irdische, das hierbei doch die Seele erfüllt. Der Gläubige kann nicht unglücklich sein, weil er nicht allein ist. „Da seht Ihr.“ Sie wollte schon weiter lesen, als der Diener wiederum hereintrat.

„Bovosdin? Sagt, morgen um zwei Uhr! – Ja,“ sprach sie, die Stelle in dem Buch mit dem Finger bedeckend, und seufzend, mit ihren nachdenklichen schönen Augen vor sich hinblickend. „So wirkt der wahre Glaube; Ihr kennt die Mary Sanina? Ihr kennt ihr Unglück? Sie verlor ihr einziges Kind und war in Verzweiflung. Was geschah da? Sie fand diesen Freund und dankt jetzt Gott für den Tod ihres Kindes. Dies ist das Glück, welches der Glaube verleiht!“

„Ja, ja, das ist viel“ – sagte Stefan Arkadjewitsch, zufrieden damit, daß man las und ihm so Gelegenheit geben würde, ein klein wenig zur Überlegung zu kommen. „Es ist doch offenbar am besten heute nicht um etwas zu bitten,“ dachte er, „könnte man nur, ohne etwas zu verderben, von hier fortkommen.“

„Es wird Euch langweilig werden,“ sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, sich an Landau wendend, „Ihr versteht nicht Englisch; doch es ist nur kurz.“

 

„O, ich verstehe schon,“ sagte Landau mit dem nämlichen Lächeln und schloß die Augen.

Aleksey Aleksandrowitsch und Lydia Iwanowna sahen sich bedeutungsvoll an und die Lektüre begann.