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Anna Karenina, 2. Band

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17

Die Verhältnisse Stefan Arkadjewitschs hatten sich sehr verschlechtert. Die Gelder für zwei Drittel des Waldes waren bereits verlebt, und das dritte Drittel hatte er unter einem Zinsenabzug von zehn Prozent bei dem Kaufmann schon im voraus fast ganz erhoben. Der Kaufmann gab kein Geld mehr her, umsoweniger, als sich in diesem Winter Darja Aleksandrowna, zum erstenmale rückhaltlos ihre Rechte auf ihr Vermögen geltend machend, geweigert hatte, einen Kontrakt über den Empfang des Betrages für das letzte Drittel des Waldes zu unterschreiben.

Der ganze Gehalt ging für die häuslichen Ausgaben, sowie für die Begleichung der kleinen Forderungen auf, die sich nicht aufschieben ließen. An Geld war vollständige Ebbe eingetreten.

Das war unangenehm, peinlich, und konnte nach der Meinung Stefan Arkadjewitschs nicht so fortgehen. Die Ursache lag nach seiner Auffassung darin, daß er einen zu geringen Gehalt bezog. Das Amt, welches er bekleidete, war offenbar sehr gut gewesen vor fünf Jahren, jetzt aber war dem nicht mehr so. Petroff, der Bankdirektor, hatte zwölftausend Rubel; Swentizkiy, ein Mitglied der Gesellschaft, hatte siebzehntausend, und Mitin, der die Bank gegründet hatte, bezog fünfzigtausend Rubel. „Offenbar habe ich geschlafen und man hat mich vergessen,“ dachte Stefan Arkadjewitsch bei sich, und fing nun an, das Ohr zu spitzen, und um sich zu schauen, und gegen das Ende des Winters hin hatte er eine sehr gute Stelle erspäht, auf welche er nun eine Attacke machte; zuerst von Moskau aus, mit Hilfe seiner Tanten, Onkel und Freunde, dann aber, nachdem die Sache reif geworden, fuhr er mit dem Frühling selbst nach Petersburg. Es war eines jener Ämter, deren jetzt, mit Einkünften von ein bis zu fünfzigtausend Rubel jährlich Gehalt, mehr geworden sind, als früher vorhanden waren, behagliche, sportelfette Ämter. Es war die Stellung eines Mitglieds in der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen und Bankinstitute. Dieses Amt forderte, wie alle derartigen Stellungen, so ungeheure Kenntnisse, solche Thätigkeit, daß es schwer war, es in einem einzelnen Menschen zu vereinigen.

Da nun ein solcher Mann, der diese Eigenschaften in sich vereinigte, nicht vorhanden war, war es immer noch das beste, wenn das Amt ein ehrenhafter Mann bekleidete, als ein unehrenhafter. Stefan Arkadjewitsch aber war nicht nur ein Ehrenmann – ohne Betonung – sondern er war ein ehrlicher Mensch – mit Betonung – in jenem eigentümlichen Sinne, den dieses Wort in Moskau besitzt, wenn man sagt: Ein ehrlicher Beamter, Schriftsteller, ein ehrliches Journal, eine solide Unternehmung, ehrliche Richtung; und welcher nicht nur andeutet, daß ein Mensch oder eine Institution nicht unehrenhaft ist, sondern auch, daß dieselben fähig sind, bei Gelegenheit der Regierung einen Stich zu versetzen.

Stefan Arkadjewitsch verkehrte in Moskau in denjenigen Kreisen, in denen dieses Wort eingeführt war, in denen er als ehrenhafter Mann angesehen wurde und demgemäß mehr Anrechte auf diese Stellung hatte, als andere.

Das Amt warf jährlich von sieben bis zu zehntausend Rubel ab und Oblonskiy konnte es bekleiden, ohne dabei seinen Regierungsposten aufzugeben. Es hing von zwei Ministerien ab, von einer Dame und zwei Juden, und alle diese Leute mußte Stefan Arkadjewitsch – obwohl sie schon vorbereitet waren – in Petersburg besuchen. Außerdem hatte er seiner Schwester Anna versprochen, von Karenin eine bestimmte Antwort betreffs der Ehescheidung zu erlangen.

Nachdem er sich von Dolly fünfzig Rubel erbeten hatte, fuhr er nach Petersburg.

In dem Kabinett Karenins sitzend, und dessen Projekt betreffs des schlechten Zustandes der russischen Finanzen anhörend, wartete Stefan Arkadjewitsch nur auf die Minute, wo Karenin enden würde, um von seiner Angelegenheit und von Anna zu beginnen.

„Ja, das ist sehr wichtig,“ sagte er, als Aleksey Aleksandrowitsch sein Pincenez abnahm, ohne welches er jetzt nicht mehr lesen konnte, und fragend seinen ehemaligen Schwager anschaute, „das ist sehr richtig in den Einzelheiten, aber bei alledem ist doch das Prinzip unserer Zeit – die Freiheit.“

„Ich stelle aber eben ein anderes Prinzip auf, welches das Prinzip der Freiheit mit einschließt,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch, das Wort „einschließt“ betonend und das Pincenez wieder aufsetzend, um noch einmal seinem Zuhörer die Stelle vorzulesen, in welcher eben dies gesagt war.

Das schöngeschriebene Manuskript mit den großen weißen Rändern durchblätternd, las Aleksey Aleksandrowitsch aufs neue die überzeugende Stelle.

„Ich will kein Protektionssystem, keines im Interesse einzelner Privatpersonen, sondern eines im Interesse des allgemeinen Wohls – für die niedrigsten ebenso wie für die höchsten Klassen“ – sagte er, über dem Pincenez hinweg nach Oblonskiy blickend. „Aber die oben können das nicht begreifen, die sind nur von persönlichen Interessen eingenommen und von Phrasen begeistert.“

Stefan Arkadjewitsch wußte, daß Karenin, wenn er davon zu sprechen begann, was die oben thäten und dächten, die Nämlichen, welche seine Projekte nicht annehmen wollten und die die Ursache aller Übelstände in Rußland waren, dem Schluß schon ziemlich nahe war, und entsagte daher jetzt gern der Verteidigung seines Princips der Freiheit und stimmte vollständig ein. Aleksey Aleksandrowitsch verstummte, nachdenklich seine Schrift durchblätternd.

„Ach, bei dieser Gelegenheit“ – sagte Stefan Arkadjewitsch, „wollte ich dich bitten, wenn du Pomorskiy sehen solltest, ihm doch ein paar Worte davon zu sagen, daß ich recht sehr die offene Stellung als Mitglied der Kommission der vereinigten Agentur der Kreditaktien-Bilanz der südlichen Eisenbahnen zu haben wünschte.“ Stefan Arkadjewitsch war der Titel dieses Amtes, das ihm so sehr am Herzen lag, bereits gewohnt geworden und er sprach ihn schnell herunter, ohne sich dabei zu versehen.

Aleksey Aleksandrowitsch erkundigte sich, worin die Thätigkeit dieser neuen Kommission bestände und überlegte. Er erwog, ob in der Thätigkeit dieser Kommission nicht etwas seinen Plänen Feindliches liegen könne. Doch da die Thätigkeit dieses neuen Instituts eine sehr komplizierte war, und seine Pläne ein sehr großes Gebiet umfaßten, so vermochte er sich dies nicht sofort klarzumachen und sagte, das Pincenez abnehmend:

„Ohne Zweifel kann ich mit ihm davon sprechen; aber warum wünschest du gerade dieses Amt zu übernehmen?“

„Der Gehalt ist gut, gegen neuntausend Rubel, und meine Mittel“ —

„Neuntausend,“ wiederholte Aleksey Aleksandrowitsch und verfinsterte sich. Die Höhe dieses Gehaltes erinnerte ihn daran, daß nach dieser Seite eine vorausgesetzte Thätigkeit Stefan Arkadjewitschs dem Hauptgedanken seiner Projekte entgegen sein würde, welche stets für die Sparsamkeit waren.

„Ich finde, und habe auch darüber eine Denkschrift geschrieben, daß in unserer Zeit diese ungeheuren Gehälter die Kennzeichen einer falschen ökonomischen assiette unserer Regierung sind.“

„Was willst du?“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Nehmen wir an, ein Bankdirektor erhält zehntausend Rubel, so ist er diese doch wohl wert. Oder ein Ingenieur erhält zwanzigtausend.“

„Ich meine, daß der Gehalt eine Bezahlung für Ware ist, und dem Gesetz der Nachfrage und des Angebotes entsprechen muß. Wenn die Normierung eines Gehaltes von diesem Gesetz abweicht, wie zum Beispiel, wenn ich sehe, daß aus einem Institut zwei Ingenieure hervorgehen, gleich kenntnisreich und befähigt, und der eine vierzigtausend Rubel Gehalt erhält, während sich der andere mit zweitausend begnügt; oder wenn man zu Direktoren einer Bank mit ungeheuren Gehältern Rechtsgelehrte einsetzt, die kein bestimmtes Spezialwissen besitzen – so schließe ich daraus, daß der Gehalt nicht nach dem Gesetz von Nachfrage und Angebot bestimmt ist, sondern geradezu nach dem Ansehen der Person. Hierin aber liegt ein Mißbrauch, der sich, wichtig an und für sich, als schadenbringend im Staatsdienst erweist. Ich glaube“ —

Stefan Arkadjewitsch beeilte sich, seinen Schwager zu unterbrechen.

„Ja, aber du giebst doch zu, daß sich da eine neue, unzweifelhaft nutzbringende Institution eröffnet; ein lebensfähiges Unternehmen, wenn du willst. Man schätzt es namentlich insofern hoch, als es auf ehrenhafte Weise geleitet werden soll,“ sagte Stefan Arkadjewitsch gewichtig.

Die Moskauer Bedeutung des Wortes „ehrenhaft“ war jedoch für Aleksey Aleksandrowitsch unverständlich.

„Ehrenhaftigkeit ist nur eine negative Eigenschaft,“ sagte er.

„Aber du würdest mir gleichwohl einen großen Gefallen erweisen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „wenn du ein Wort für mich bei Pomorskiy einlegen wolltest,“ das Wörtchen „Pomorskiy“ unterdrückend, „so im Gespräch.“

„Das hängt aber doch mehr von Bolgarinoff ab, wie mir scheint,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

„Bolgarinoff seinerseits ist völlig einverstanden,“ sagte Stefan Arkadjewitsch errötend. Er errötete bei der Erwähnung dieses Namens, weil er erst am nämlichen Tage früh bei dem Juden Bolgarinoff gewesen war und dieser Besuch einen unangenehmen Eindruck in ihm hinterlassen hatte.

Stefan Arkadjewitsch wußte genau, daß das Unternehmen, dem er seine Kräfte weihen wollte, neu, lebensfähig und solid war, aber am heutigen Morgen, als Bolgarinoff ihn offenbar mit Absicht zwei Stunden mit anderen Bittstellern im Empfangszimmer hatte warten lassen, da war es ihm dennoch plötzlich peinlich zu Mute geworden. Ob nun deswegen, daß er, ein Nachkomme Rjuriks, ein Fürst Oblonskiy, zwei Stunden in dem Empfangszimmer eines Juden wartete, oder weil er zum erstenmal im Leben das Beispiel der Vorfahren, der Regierung zu dienen, nicht befolgt hatte und eine neue Laufbahn betrat; jedenfalls war ihm höchst unbehaglich zu Mute gewesen.

Während der zwei Stunden seines Wartens bei Bolgarinoff hatte Stefan Arkadjewitsch, schnell im Empfangssalon auf und abgehend, sich den Lockenbart streichend, mit anderen Bittstellern Gespräche anknüpfend, und über einen Kalauer nachdenkend, den er darüber zum besten geben wollte, wie er bei dem Juden gewartet habe, geflissentlich vor den anderen, ja selbst vor sich, das Gefühl, welches er empfand, verborgen. Er war während dieser ganzen Zeit in unbehaglicher und verdrießlicher Stimmung gewesen, ohne daß er wußte, wie dies kam; ob vielleicht daher, daß aus dem Kalauer, in dem er sich versuchte, nichts wurde – er lautete: „ich hatt' es zu thun mit Juden und dafür mußt' ich bluten“3 – oder aus einem anderen Grunde.

 

Nachdem ihn nun endlich Bolgarinoff mit außerordentlicher Höflichkeit empfangen, augenscheinlich im Triumph über seine Erniedrigung, und ihm einen fast abschläglichen Bescheid erteilt hatte, suchte er dies so schnell als möglich zu vergessen. Jetzt indessen, als er sich hieran erinnerte, errötete er.

18

„Jetzt habe ich noch ein Anliegen, und du weißt ja welches. Es betrifft Anna,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, nachdem er eine Weile geschwiegen, und den unangenehmen Eindruck von sich abgeschüttelt hatte.

Kaum hatte Oblonskiy den Namen Annas ausgesprochen, so veränderte sich das Gesicht Aleksey Aleksandrowitschs vollständig; anstatt der früheren Lebhaftigkeit drückte es Ermüdung und etwas Totenhaftes aus.

„Was wollt Ihr denn gerade von mir?“ sagte er, sich im Sessel wendend und sein Pincenez zusammenklemmend.

„Einen Entschluß, irgend einen Bescheid, Aleksey Aleksandrowitsch. Ich wende mich jetzt zu dir – nicht zu dem beleidigten Gatten“ – wollte Stefan Arkadjewitsch sagen, veränderte jedoch diese Worte in der Furcht, die Sache damit zu verderben, indem er fortfuhr, „nicht als zu dem Staatsmann (was übrigens auch nicht recht angebracht war), sondern einfach zu dir als Menschen, und zwar als guten Menschen und Christen. Du mußt Mitleid mit ihr haben,“ sprach er.

„Das heißt, inwiefern denn eigentlich?“ sagte Karenin leise.

„Ja, Mitleid mit ihr haben! Wenn du sie sähest, wie ich sie gesehen habe – ich habe den ganzen Winter bei ihr zugebracht – du würdest Erbarmen mit ihr haben. Ihre Lage ist entsetzlich, wirklich entsetzlich.“

„Mir schien,“ antwortete Aleksey Aleksandrowitsch mit noch dünnerer, fast pfeifender Stimme, „als habe doch nun Anna Arkadjewna alles das, was sie selbst gewollt hat.“

„Ach, Aleksey Aleksandrowitsch, um Gottes willen keine Rekriminationen! Was vorbei ist, ist vorbei, und du weißt, was sie wünscht und ersehnt – die Ehescheidung.“

„Ich habe aber geglaubt, Anna Arkadjewna wird in die Ehescheidung nicht einwilligen für den Fall, daß ich die Bedingung, mir den Sohn zu lassen, stelle. So habe ich auch geantwortet und gemeint, daß diese Angelegenheit abgethan wäre. Ich erachte sie für abgethan,“ sprach Aleksey Aleksandrowitsch mit tönender Stimme.

„Um Gott, ereifere dich nicht,“ sprach Stefan Arkadjewitsch, die Kniee seines Schwagers berührend, „die Angelegenheit ist nicht abgethan. Wenn du mir erlaubst, zu rekapitulieren, so lag die Sache so: Als ihr euch trenntet, warest du großmütig, wie man nur großmütig sein kann; du hast ihr alles bewilligt – die Freiheit, sogar die Trennung! Sie weiß das zu schätzen. Nein, denke nicht anders, sie hat es wirklich geschätzt; bis zu einem Grade, daß sie während jener ersten Minuten im Gefühl ihrer Schuld vor dir, nicht einmal alles überdachte oder überdenken konnte. Sie hat auf alles verzichtet, aber die Wirklichkeit, die Zeit, haben ihr gezeigt, daß ihre Lage qualvoll und unmöglich ist.“

„Das Leben Anna Arkadjewnas kann mich nicht interessieren,“ unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch, die Brauen in die Höhe ziehend.

„Gestatte mir, dies zu bezweifeln,“ entgegnete ihm Stefan Arkadjewitsch geschmeidig, „ihre Lage ist peinlich für sie, und unersprießlich für jedermann, wer es auch sei. Sie hat dieselbe verdient, sagst du. Das weiß sie, und sie bittet dich auch nicht, sagt vielmehr offen heraus, daß sie nicht wagt, um Etwas zu bitten. Ich aber, wir Verwandten alle, alle, die sie lieb haben, wir bitten, wir beschwören dich. Warum soll sie sich quälen? Wem würde besser dadurch?“

„Erlaubt; Ihr versetzt mich, wie es scheint, in die Lage eines Angeklagten,“ fuhr Aleksey Aleksandrowitsch fort.

„O nein, o nein; keineswegs; verstehe mich recht,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, abermals seine Hände berührend, als wäre er überzeugt, daß diese Berührung den Schwager erweichen würde; „ich sage nur das Eine, ihre Lage ist qualvoll, dieselbe kann erleichtert werden durch dich, und du verlierst nichts dabei! Ich werde für dich alles so arrangieren, daß du es nicht merkst. Du hattest mir es doch versprochen.“

„Das Versprechen ist früher gegeben worden. Ich habe geglaubt, daß die Frage über den Sohn die Angelegenheit entschieden hätte. Außerdem habe ich gehofft, daß Anna Arkadjewna Großmut genug haben werde“ – Aleksey Aleksandrowitsch brachte dies mit Anstrengung hervor, erbleichend und mit bebenden Lippen.

„Sie stellt alles deiner Großmut anheim und bittet, fleht nur um das Eine – sie dieser unmöglichen Lage zu entheben, in der sie sich befindet! Sie bittet nicht mehr um den Sohn! Aleksey Aleksandrowitsch, du bist ein guter Mensch, versetze dich einen Augenblick in ihre Lage. Die Frage der Ehescheidung ist für sie in ihrer Situation, eine Frage über Leben und Tod. Hättest du nicht früher das Versprechen gegeben, so würde sie sich mit ihrer Lage abzufinden suchen und auf dem Lande bleiben. Aber du hast versprochen, sie hat dir geschrieben und ist nach Moskau gekommen, und in Moskau, wo ihr jede Begegnung einen Stich ins Herz giebt, lebt sie nun seit sechs Monaten, mit jedem Tage eine Entscheidung erwartend. Das ist doch wohl ganz das Nämliche, als wenn man einen zum Tode Verurteilten Monate hindurch mit der Schlinge um den Hals hält, indem man ihm bald den Tod, bald Begnadigung als möglich in Aussicht stellt. Erbarme dich ihrer, und dann will ich es schon auf mich nehmen die Sache zu ordnen! – Vos scrupules“ —

„Ich spreche nicht davon, nicht davon,“ unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch mit Widerwillen, „ich hatte da vielleicht etwas versprochen, was zu versprechen ich gar kein Recht hatte.“

„So stellst du also in Abrede, mir ein Versprechen gegeben zu haben?“

„Ich habe mich nie bei der Erfüllung einer Möglichkeit geweigert, wünsche aber Zeit zu haben, um überlegen zu können, inwieweit das Versprochene erfüllbar ist.“

„Nein, Aleksey Aleksandrowitsch!“ begann Oblonskiy aufspringend, „daran will ich nicht glauben! Sie ist so unglücklich, wie nur ein Weib unglücklich sein kann, und du kannst dich nicht weigern, eine solche“ —

– „Soweit mein Versprechen erfüllbar ist. Vous professez d'être un libre penseur, ich aber, als Rechtgläubiger, kann in einer so wichtigen Angelegenheit nicht wider das christliche Gebot handeln.“

„Aber in der christlichen Gesellschaft und bei uns ist doch, soviel ich weiß, die Ehescheidung zulässig,“ sagte Stefan Arkadjewitsch; „die Ehescheidung ist auch in unserer Kirche zulässig und wir sehen“ —

– „Sie ist gestattet, doch nicht in diesem Sinne.“

„Aleksey Aleksandrowitsch, ich erkenne dich nicht wieder,“ sagte Oblonskiy flehend, „hast du nicht alles vergeben? Haben wir dies nicht hoch angeschlagen? Warest du nicht, getrieben gerade vom christlichen Gefühl, bereit, alles zu opfern? Du selbst hast gesagt, man solle auch den Rock hingeben wenn man das Hemd nähme, und jetzt“ —

„Ich bitte dich,“ begann Aleksey Aleksandrowitsch, plötzlich auf die Füße springend, bleich, mit bebenden Kinnbacken und pfeifender Stimme, „ich bitte Euch, abzubrechen, abzubrechen – dieses Gespräch“ —

„O nein doch! Verzeihe mir, verzeih', wenn ich dich gekränkt habe,“ beharrte Stefan Arkadjewitsch, verlegen lächelnd und die Hand hinstreckend, „ich habe ja nur wie ein Gesandter meinen Auftrag übermittelt.“

Aleksey Aleksandrowitsch gab ihm die Hand, begann nachzudenken.

„Ich muß überlegen und mich nach Weisungen umsehen. Übermorgen werde ich Euch eine bestimmte Antwort geben,“ sagte er nach einigem Nachdenken.

19

Stefan Arkadjewitsch wollte schon gehen, als Korney erschien mit der Meldung:

„Sergey Aleksejewitsch!“

„Wer ist dieser Sergey Aleksejewitsch?“ wollte Stefan Arkadjewitsch anfangen, besann sich aber sogleich. „Ach, der kleine Sergey,“ sagte er, „Sergey Aleksejewitsch! Ich dachte, der Direktor des Departements wäre es. Anna hat mich ja gebeten, ihn zu besuchen,“ erinnerte er sich, und rief sich jenen schüchternen, mitleiderweckenden Ausdruck wieder ins Gedächtnis, mit welchem ihm Anna, indem sie ihn entließ, gesagt hatte, „du wirst ihn sehen, erforsche genau, wo er ist und wer bei ihm ist. Und mein Stefan – wenn es möglich wäre; es wird doch möglich sein?“ Stefan Arkadjewitsch verstand was dieses „wenn es möglich wäre“ bedeutete. Wenn es möglich wäre, die Scheidung so zu stande zu bringen, daß er ihr den Sohn überließ! Jetzt sah er indessen, daß hieran nicht zu denken war, aber dennoch freute er sich, den Neffen zu sehen.

Aleksey Aleksandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß man zu seinem Sohne nie von der Mutter spreche und er ihn daher ersuche, kein Wort von derselben zu erwähnen.

„Er war sehr krank geworden nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, welches wir nicht vorausgesehen hatten,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch. „Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige Pflege und Seebäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf Anraten des Arztes in die Schule gegeben. In der That hat auch der Einfluß der Kameraden auf ihn eine günstige Wirkung gehabt und er ist vollkommen gesund und lernt gut.“

„Was für ein hübscher Bursch er geworden ist; das ist nicht mehr der kleine Sergey Aleksejewitsch!“ lächelte Stefan Arkadjewitsch, auf den hurtig und ungezwungen eintretenden hübschen, breitschulterigen Knaben in blauer Kutte und langen Beinkleidern blickend. Der Knabe sah gesund und munter aus. Er verneigte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden, doch, als er ihn erkannt hatte, errötete er und wandte sich, als sei er von Etwas beleidigt und erzürnt, hastig von ihm ab. Der Knabe ging zu seinem Vater und gab ihm ein Billet über Censuren, welche er in der Schule erhalten hatte.

„Nun, recht so,“ sagte der Vater, „du kannst gehen.“

„Er ist magerer geworden und gewachsen, er hat aufgehört, ein Kind zu sein und ist ein großer Knabe geworden; das liebe ich,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „besinnst du dich noch auf mich?“

Der Knabe blickte schnell nach seinem Vater.

„Ich besinne mich, mon oncle,“ antwortete er, auf den Oheim blickend und wiederum in Verwirrung geratend.

Der Onkel rief den Knaben zu sich und nahm ihn bei der Hand.

„Nun, wie geht es denn?“ sagte er, im Wunsche, Etwas zu sagen, obwohl er nicht recht wußte, was er sagen sollte.

Der Knabe zog errötend und ohne zu antworten, behutsam seine Hand aus der des Onkels, und sobald Stefan Arkadjewitsch losgelassen hatte, eilte er wie ein Vogel, den man in Freiheit gesetzt hat, mit einem fragenden Blick auf den Vater schnellen Schrittes aus dem Gemach.

Ein Jahr war vergangen, seit der kleine Sergey seine Mutter zum letztenmale gesehen hatte. Seit jener Zeit hatte er nie wieder von ihr gehört. In diesem Jahre nun war er in die Schule gegeben worden und hatte hier Kameraden kennen und lieben gelernt. Jene Gedanken und Erinnerungen an seine Mutter, die ihn nach dem Wiedersehen mit ihr krank gemacht hatten, beschäftigten ihn jetzt nicht mehr. Wenn sie ihn überkamen, scheuchte er sie geflissentlich von sich, indem er sie für schimpflich und nur den Mädchen angemessen hielt aber nicht für einen Knaben und Schulkameraden. Er wußte, daß zwischen Vater und Mutter ein Zwist bestand, der beide trennte; er wußte, daß es ihm beschieden war, bei dem Vater zu bleiben, und suchte sich nun an diesen Gedanken zu gewöhnen.

Daß er den Onkel, welcher seiner Mutter ähnlich war, wiedersah, war ihm unangenehm, weil dies eben wieder jene Erinnerungen, die er für schimpflich hielt, in ihm wachrief. Es war ihm dies um so unangenehmer, als er, nach einigen Worten, die er gehört hatte, indem er an der Thür des Kabinetts wartete, und namentlich nach dem Gesichtsausdruck des Vaters und des Onkels zu urteilen erriet, daß zwischen beiden die Rede von seiner Mutter gewesen sein mußte, und um nun diesen Vater, bei welchem er lebte, und von dem er abhing, nicht hintenanzusetzen, hauptsächlich jedoch sich nicht einer Empfindsamkeit hinzugeben, die er für so verächtlich hielt, bemühte sich der kleine Sergey, diesen Onkel gar nicht anzublicken, welcher gekommen war seine Ruhe zu stören, und nicht an das zu denken, was er ihm ins Gedächtnis zurückrief.

 

Als ihn jedoch Stefan Arkadjewitsch, der hinter ihm hinausgegangen, und seiner auf der Treppe ansichtig geworden war, zu sich rief, und frug, wie er in der Schule die Zeit in den Zwischenstunden verbringe, unterhielt sich Sergey, außer Gesichtsweite des Vaters, mit ihm.

„Jetzt machen wir Eisenbahn,“ sagte er, auf die Frage antwortend. „Und wißt Ihr wie? Zwei setzen sich auf eine Bank; das sind die Passagiere. Einer steht auf der Bank, und alle spannen sich nun davor. Man kann sie nun mit den Händen oder auch an den Gürteln ziehen und so geht es durch alle Säle. Die Thüren werden schon vorher geöffnet. Nun ist es schwer dabei den Kondukteur zu machen.“

„Das ist der, welcher steht?“ frug Stefan Arkadjewitsch lächelnd.

„Ja; da ist Kühnheit und Gewandtheit notwendig, besonders wenn sie schnell stehen bleiben oder wenn einer fällt.“

„Ja, das ist kein Spaß,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, voll Wehmut in diese lebhaften, an die Mutter gemahnenden Augen blickend, die jetzt nicht mehr Kinderaugen, schon nicht ganz unschuldsvoll waren, und obwohl er Aleksey Aleksandrowitsch versprochen hatte, nicht von Anna zu sprechen, hielt er es doch nicht aus.

„Denkst du denn noch deiner Mama?“ frug er plötzlich.

„Nein; ich denke nicht mehr an sie,“ antwortete Sergey, schnell und schlug, purpurrot werdend, die Augen nieder. Der Onkel konnte nun nichts mehr aus ihm herausbringen.

Der Erzieher Slavjanin fand nach einer halben Stunde seinen Zögling auf der Treppe und konnte lange nicht verstehen, ob Sergey jemand zürne oder weine.

„Ihr habt Euch wohl gestoßen, als Ihr fielet?“ sagte der Erzieher. „Ich habe doch immer gesagt, daß dies ein gefährliches Spiel ist. Das wird wohl dem Direktor gesagt werden müssen.“

„Wenn ich mich gestoßen hätte, so hätte dies ja doch niemand bemerkt. Das ist doch sicher wahr!“

„Nun was aber ist Euch denn dann?“

„Laßt mich! Ob ich daran denke oder nicht! Was geht das ihn an? Warum soll ich daran denken? Laßt mich in Ruhe!“ wandte er sich schon nicht mehr an den Erzieher, sondern an die ganze Welt.

3Der Originaltext lautet: „bylo djelo do żyda, i ja dożidalsja“, „es gab mit einem Juden Etwas zu thun und ich mußte tüchtig warten“.