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Anna Karenina, 2. Band

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14

Der Arzt war noch nicht aufgestanden und der Diener sagte, er sei spät zu Bett gegangen und habe nicht befohlen, ihn zu wecken, doch stehe er bald auf.

Der Diener putzte Lampengläser und schien davon sehr in Anspruch genommen zu sein. Diese Aufmerksamkeit des Dieners für seine Gläser und der Gleichmut gegenüber dem, was sich bei Lewin vollzog, setzte diesen anfangs außer Fassung, doch erkannte er, zur Überlegung kommend sogleich, daß ja niemand seine Empfindungen kenne, und kennen müsse, und es daher um so notwendiger sei, ruhig zu handeln, wohlüberlegt und entschlossen, um diese Mauer der Indifferenz zu durchbrechen und seinen Zweck zu erreichen.

„Eile mit Weile,“ sagte Lewin zu sich selbst, mehr und mehr eine Zunahme seiner physischen Kräfte, sowie seiner Wahrnehmungsfähigkeit für alles das, was er zu thun hatte, verspürend.

Nachdem er gehört, daß der Arzt noch nicht aufgestanden sei, blieb Lewin innerhalb der verschiedenen Pläne, die in ihm erstanden, bei dem, daß Kusma mit einem Billet zu einem andern Arzte fuhr, während er selbst in die Apotheke nach Opium eilte; sollte aber, wenn er zurückkäme, der Doktor noch nicht aufgestanden sein, so wollte er den Diener bestechen oder wenn derselbe nicht einwilligte, den Arzt mit Gewalt wecken, koste es, was es wolle.

In der Apotheke verschloß ein dürrer Provisor mit ganz dem nämlichen Gleichmut, mit welchem der Lakai die Gläser geputzt hatte, vermittelst einer Oblate Pulver für einen wartenden Kutscher, und verweigerte das Opium. Im Bestreben, nichts zu überhasten und nicht in Aufregung zu geraten, begann Lewin, nachdem er den Namen des Arztes und der Hebamme genannt, und erklärt hatte, wozu das Opium nötig sei, den Provisor zu überreden. Derselbe frug in deutscher Sprache um Rat, ob er es geben könne, und holte, nachdem er hinter einer Zwischenwand heraus Zustimmung erhalten hatte, ein Gläschen und einen Trichter herbei, worauf er langsam aus einem großen Gefäß in ein kleines Fläschchen goß, einen weißen Papierstreif anklebte und siegelte. Ungeachtet der Bitte Lewins, es nicht zu thun, wollte er das Fläschchen nochmals einwickeln. Das konnte aber Lewin nicht mehr aushalten; entschlossen riß er dem Manne das Fläschchen aus den Händen und stürzte zu der großen Glasthür hinaus.

Der Arzt war noch nicht aufgestanden, und der Diener, jetzt mit dem Aufbreiten eines Teppichs beschäftigt, weigerte sich, ihn zu wecken. Lewin zog ohne Überstürzung ein Zehnrubelpapier hervor, gab es ihm, mit einigen langsam gesprochenen Worten, aber ohne Zeit zu verlieren, und erklärte, daß Peter Dmitrjewitsch – wie erhaben und bedeutungsvoll erschien Lewin jetzt der vorher so unbedeutend gewesene Peter Dmitrjewitsch – versprochen habe, zu jeder Zeit da sein zu wollen, und sicherlich nicht ungehalten sein werde selbst darüber, daß er ihn sogleich wecke.

Der Diener gehorchte, ging nach oben und lud Lewin ein, in das Empfangszimmer zu treten.

Lewin vermochte hinter der Thür zu hören, wie der Arzt hustete, umherging, sich wusch und Etwas sagte. Es vergingen drei Minuten; Lewin schien es, als wäre mehr als eine halbe Stunde vergangen. Er konnte nicht länger warten.

„Peter Dmitrjewitsch, Peter Dmitrjewitsch,“ rief er mit beschwörender Stimme in die geöffnete Thür hinein; „um Gottes willen, verzeiht mir, nehmt mich heute, wie ich bin; es hat schon seit mehr als zwei Stunden begonnen!“

„Sofort, sofort!“ antwortete eine Stimme und Lewin hörte mit Erstaunen, daß der Arzt dies lächelnd sagte.

„Auf eine Minute!“

„Sogleich.“

Es vergingen noch zwei Minuten, während deren der Arzt die Stiefel anzog, zwei weitere, während er das Tuch umwarf und sich den Kopf bürstete.

„Peter Dmitrjewitsch,“ begann Lewin abermals mit kläglicher Stimme, doch gerade erschien der Arzt, angekleidet und gekämmt. „Diese Leute haben kein Gewissen,“ dachte Lewin, „sich zu kämmen, während wir verderben!“

„Guten Morgen!“ sagte der Arzt zu ihm, die Hand hinreichend, als wollte er ihn mit seiner Ruhe necken. „Beunruhigt Euch nicht, wie steht es?“

Sich bemühend, so ausführlich wie möglich zu sein, begann Lewin alle unnötigen Einzelheiten über den Zustand seiner Frau zu erzählen, seinen Bericht unaufhörlich mit Bitten, der Arzt möchte sogleich mit ihm kommen, unterbrechend.

„Habt keine Angst; Ihr kennt das wohl noch nicht. Ich bin gewiß gar nicht notwendig, habe es aber versprochen und werde kommen. Aber Eile hat es keine. Setzt Euch doch gefälligst; ist nicht ein Kaffee gefällig?“

Lewin schaute ihn an, mit dem Blick fragend, ob sich der Arzt über ihn lustig machen wolle. Doch dieser dachte gar nicht daran, zu scherzen.

„Ich weiß schon, weiß schon,“ sprach er lächelnd, „auch ich bin Familienvater, aber wir, die Männer, sind in diesen Augenblicken doch die beklagenswertesten Menschen. Ich habe da eine Patientin, deren Mann in solchen Momenten stets in den Pferdestall läuft.“

„Aber wie meint Ihr, Peter Dmitrjewitsch? Glaubt Ihr, daß alles glücklich gehen kann?“

„Alle Bedingungen für einen günstigen Ausgang sind vorhanden.“

„Ihr kommt also sofort?“ sagte Lewin, zornig auf den Diener blickend, der den Kaffee brachte.

„In einem Stündchen.“

„Ach, nein doch, um Gottes willen!“

„Aber dann laßt mich doch wenigstens meinen Kaffee trinken.“

Der Arzt widmete sich dem Kaffee. Beide schwiegen.

„Man wird die Türken doch entschieden schlagen. Habt Ihr die gestrige Depesche gelesen?“ sagte der Doktor semmelkauend.

„Nein; ich kann nicht mehr,“ rief Lewin aufspringend, „Ihr werdet also nach Verlauf einer Viertelstunde kommen?“

„In einer halben Stunde.“

„Auf Ehrenwort?“

Als Lewin wieder nach Hause kam, traf er mit der Fürstin zusammen, und beide begaben sich zur Thür des Schlafzimmers. Die Fürstin hatte Thränen in den Augen und ihre Hände zitterten; als sie Lewin erblickte, umarmte sie ihn und brach in Thränen aus.

„Nun, liebe Lisabetha Petrowna,“ sagte sie, die ihnen mit hellem, sorglichen Gesicht daraus entgegentretende Lisabetha Petrowna an der Hand fassend.

„Es geht gut,“ sagte sie, „überredet sie nur, sich niederzulegen. Es wird ihr dann leichter sein.“

Seit dem Augenblick, als er erwacht war und erkannt hatte, um was es sich handelte, hatte er sich darauf vorbereitet, ohne Erwägungen und Vermutungen im voraus anzustellen, alle Gedanken und Gefühle in sich verschließend, mannhaft, sein Weib nicht aus der Fassung bringend, sondern im Gegenteil sie beruhigend und ihren Heldenmut stützend – zu ertragen, was ihm bevorstand.

Ohne sich zu gestatten, nur daran zu denken, was kommen würde, und wie das enden sollte, nur nach seinen eingehenden Erkundigungen, wie sehr sich derartige Ereignisse gewöhnlich in die Länge zögen, urteilend, hatte sich Lewin innerlich gefaßt gemacht, zu dulden, fünf Stunden lang, und es hatte ihm das auch möglich geschienen.

Als er indessen vom Arzte heimgekommen war und von neuem ihre Leiden sah, begann er öfter und öfter zu wiederholen „Gott vergieb mir und steh' mir bei!“ und seufzend den Kopf emporzuheben, und fing an zu befürchten, daß er dies nicht aushalten, sondern in Thränen ausbrechen, oder davonlaufen würde. In solch qualvoller Stimmung befand er sich, und doch war erst eine Stunde vergangen.

Aber nach dieser Stunde verging noch eine; zwei, drei, alle fünf Stunden vergingen, die er sich als höchste Frist seiner Geduldsprobe gesetzt hatte, und die Situation war noch immer dieselbe; er litt noch immer, weil sich weiter nichts thun ließ als leiden, jede Minute denkend, er sei bis an die äußersten Grenzen der Geduld gekommen, und das Herz müsse ihm nun von Mitleid zerrissen werden.

Aber Minuten vergingen, Stunden, Stunden auf Stunden, und die Empfindungen von Schmerz und Angst in ihm wuchsen und wurden noch höher gespannt.

Alle jene gewöhnlichen Verhältnisse im Leben, ohne die man sich gewöhnlich nichts vorstellen kann, waren für Lewin nicht mehr vorhanden. Er hatte das Zeitbewußtsein verloren. Jene Minuten – jene Minuten, da sie ihn zu sich rief und er ihre schweißbedeckte, mit außergewöhnlicher Kraft seine Hand bald pressende, bald hinwegstoßende Rechte hielt, schienen ihm bald Stunden, bald schienen sie ihm Minuten. Er war verwundert, als Lisabetha Petrowna ihn bat, das Licht hinter dem Schirm anzuzünden und als er wahrnahm, daß es bereits fünf Uhr abends war.

Hätte man ihm gesagt, daß es jetzt erst zehn Uhr morgens wäre, er würde ebensowenig verwundert gewesen sein. Wo er während dieser Zeit war, wußte er ebensowenig, wie wenn Etwas geschah. Er sah ihr glühendes, bald verzweifeltes und leidendes, bald lächelndes und ihn beschwichtigendes Gesicht. Er sah auch die Fürstin, rot im Gesicht, aufgeregt, mit den aufgegangenen Locken der grauen Haare, und in Thränen, die sie mühsam verschluckte, sich die Lippen zernagen; er sah Dolly, den Arzt, welcher dicke Cigaretten rauchte, und Lisabetha Petrowna mit ihrem festen, energischen und ruhigen Gesicht, sowie den alten Fürsten, der mit finsterem Gesicht im Salon auf und abschritt. Aber wie sie gekommen waren oder gingen, wo sie waren – er wußte es nicht.

Die Fürstin war bald bei dem Arzte im Schlafzimmer, bald im Kabinett, wo sich ein gedeckter Tisch befand; bald war sie abwesend und Dolly war da. Dann erinnerte sich Lewin, daß man ihn fortgeschickt hatte; einmal hatte man ihn geschickt, einen Tisch und ein Sofa zu transportieren. Er hatte dies voll Eifers gethan, indem er meinte, es sei für sie nötig, und erst dann erkannt, daß er sich selbst damit ein Nachtlager bereitet hatte. Darauf sandte man ihn zum Arzt ins Kabinett, damit er nach etwas frage. Der Arzt antwortete und begann dann von den Unordnungen in der Duma zu sprechen. Hierauf schickte man ihn in das Schlafzimmer zur Fürstin, derselben ein Heiligenbild in silbernem, vergoldetem Gewand zu bringen. Er kletterte nebst der alten Kammerfrau der Fürstin auf einen Schrank, um es zu erlangen und zerbrach dabei eine Lampe; die Kammerfrau der Fürstin beruhigte ihn über seine Frau und über die Lampe und er brachte das Heiligenbild und stellte es zu Häupten Kitys, es sorgfältig hinter die Kissen steckend. Aber wo, wann und warum alles das war, wußte er nicht. Er verstand auch nicht, weshalb ihn die Fürstin bei der Hand nahm und ihn mit einem Blick voll Mitleid bat, sich zu beruhigen, weshalb Dolly ihm zuredete, zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte, ja, selbst der Doktor ihn ernst und teilnahmsvoll anschaute und ihm einen stärkenden Tropfen empfahl.

 

Er wußte und fühlte nur, daß das, was sich jetzt vollzog, dem ähnlich war, was sich ein Jahr vorher in dem Hotel der Gouvernementsstadt auf dem Totenbett seines Bruders Nikolay vollzogen hatte.

Jenes aber war ein Schmerz gewesen – dies war eine Freude! – Doch sowohl jener Schmerz, wie diese Freude lagen vereinsamt außerhalb aller gewohnten Verhältnisse des Lebens; sie bildeten in diesem gewöhnlichen Leben gleichsam Öffnungen, durch welche etwas Höheres erschien. In ganz gleicher Weise unergründlich, erhob sich die Seele vor der Betrachtung dieses Höchsten auf eine Höhe, wie sie nie zuvor begriffen, und wohin der Verstand nicht mehr reichte.

„Gott vergieb mir und steh' mir bei,“ stammelte er ohne Unterlaß, ungeachtet der so langjährigen und ihm vollkommen erschienenen Entfremdung, in dem Gefühl, daß er sich ganz so vertrauensselig und naiv wieder zu Gott wende, wie in den Zeiten seiner Kindheit und ersten Jugend.

Während dieser ganzen Zeit herrschten in ihm zwei in sich gesonderte Stimmungen. Die eine war vorhanden, wenn er sich nicht in der Gegenwart seiner Frau befand; sie gruppierte sich um den Arzt, welcher eine seiner dicken Zigaretten nach der anderen rauchte und sie dann an dem Rande des gefüllten Aschenbechers löschte, um Dolly und den Fürsten, von denen ein Gespräch über das Essen, über die Politik und die Krankheit Marja Petrownas gepflogen wurde, und wo Lewin plötzlich auf einen Moment völlig vergaß, was vorging, sich gleichsam erwacht fühlte – die andere herrschte in ihm, wenn er in ihrer Gegenwart war; an ihrem Kopfkissen stand, und es ihm das Herz zerreißen wollte vor Mitleid und doch nicht zerriß, und wo er ohne Aufhören zu Gott flehte.

Jedesmal, wenn ihn ein aus dem Schlafzimmer zu ihm dringender Schrei einer Minute des Vergessens wieder entriß, geriet er in den nämlichen seltsamen Irrtum, dem er in der ersten Minute verfallen war. Jedesmal, sobald er einen Schrei vernahm, sprang er auf und eilte, um sich zu entschuldigen, besann sich aber unterwegs, daß er ja nicht schuld sei; er wollte schützen, helfen. Erblickte er sie aber dann, sah er von neuem, daß es unmöglich sei zu helfen, so geriet er in Schrecken und sprach „Gott vergieb mir und steh mir bei.“

Je weiter die Zeit vorrückte, um so stärker wurden diese beiden Stimmungen; um so ruhiger wurde er, indem er seine Frau völlig vergaß, in der Abwesenheit von ihr, um so qualvoller wurden ihm aber auch ihre Leiden und das Gefühl der Hilflosigkeit, diesen gegenüber. Er sprang empor, wollte fort, und lief zu ihr.

Bisweilen, wenn sie ihn immer und immer wieder rief, machte er ihr Vorwürfe, doch wenn er ihr ergebenes, lächelndes Antlitz gesehen, ihre Worte gehört hatte: „Ich martere dich,“ machte er Gott Vorwürfe, gedachte er aber Gottes, so flehte er sogleich um Vergebung und Erbarmen.

15

Er wußte nicht, ob es spät oder früh war. Die Kerzen waren schon sämtlich niedergebrannt. Dolly war soeben im Kabinett gewesen und hatte dem Arzte vorgeschlagen, sich niederzulegen.

Lewin saß, den Erzählungen des Doktors über den Charlatanismus eines Magnetiseurs zuhörend, und schaute auf die Asche seiner Cigarette. Es war eine Ruhepause eingetreten und er hatte sich in Gedanken verloren. Er hatte vollständig vergessen, was jetzt vorging, hörte der Erzählung des Arztes zu und verstand sie. Plötzlich ertönte ein mit nichts mehr zu vergleichender Schrei. Der Schrei war so furchtbar, daß Lewin nicht einmal aufsprang, sondern mit stockendem Atem, erschrocken fragend den Arzt anblickte. Dieser neigte lauschend den Kopf seitwärts, und lächelte befriedigt. Alles war so außergewöhnlich gewesen, daß Lewin schon nichts mehr in Erstaunen versetzte. „Es muß wahrscheinlich so sein,“ dachte er und blieb sitzen. Von wem rührte der Schrei her? Er sprang auf und eilte auf den Fußspitzen in das Schlafzimmer; er eilte an Lisabetha Petrowna und der Fürstin vorüber und trat auf seinen Platz zu Häupten. Der Schrei war verstummt, aber es ging jetzt eine Veränderung vor sich. Was es war – das sah und erkannte er nicht, wollte er auch weder sehen, noch erkennen. Aber er nahm diese Veränderung wahr an dem Gesicht Lisabetha Petrownas, welches streng und bleich, noch immer so energisch war, obwohl ihre Kinnbacken bisweilen leise bebten und ihre Augen unverwandt auf Kity gerichtet waren.

Das glühende, erschöpfte Antlitz Kitys mit dem am schweißbedeckten Gesicht klebenden Haargewirr war ihm zugewendet und suchte seinen Blick. Ihre erhobenen Arme verlangten nach den seinen, und mit ihren schweißbedeckten Händen die seinen, welche kalt waren, fassend, drückte sie dieselben an ihr Gesicht.

„Geh' nicht von mir, geh' nicht von mir! Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst!“ sprach sie rasch. „Mama, nehmt mir die Ohrringe weg, sie stören mich. Hast du auch keine Angst? – Bald, bald, Lisabetha Petrowna!“ —

Sie sprach schnell, schnell, und wollte lächeln, aber plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht und sie stieß ihn von sich.

„Nein, das ist furchtbar! Ich sterbe, sterbe! Komm her, komm her!“ schrie sie auf, und wieder ertönte der nämliche, mit nichts zu vergleichende Schrei.

Lewin griff sich nach dem Kopfe und stürzte aus dem Zimmer hinaus.

„Es ist nichts, nichts; alles geht gut!“ rief Dolly ihm nach.

Doch was man auch sagen mochte, er wußte, daß jetzt alles verloren war. Den Kopf gegen die Oberschwelle der Thür gelehnt, stand er im Nebenzimmer und vernahm ein von ihm noch nie gehörtes Wimmern und Schreien; er erkannte, das jetzt ein Wesen schrie, welches früher Kity gewesen war. Ein Kind hatte er nicht gewünscht. Er haßte jetzt dieses Kind, ja wünschte jetzt nicht einmal dessen Leben, sondern nur die Abkürzung dieser entsetzlichen Leiden.

„Doktor! Was ist das! Was ist das; mein Gott!“ sagte er, den eintretenden Arzt am Arme packend.

„Es geht zu Ende,“ sagte der Arzt; sein Gesicht war so ernst, als er dies sagte, daß Lewin dieses „es geht zu Ende“ in dem Sinne auffaßte, als ob sie stürbe.

Nicht mehr bei Sinnen, rannte er in das Schlafzimmer. Das erste, was er hier erblickte, war das Gesicht Lisabetha Petrownas. Es war noch finstrer und ernstrer geworden. Das Gesicht Kitys war nicht da. An der Stelle, wo es vorher gewesen, lag etwas Entsetzenerregendes, nach dem Ausdruck von Anstrengung und den Tönen die von dorther kamen, zu urteilen. Er fiel mit dem Kopfe auf die Bettstelle, und fühlte, wie es ihm das Herz zerriß. Das furchtbare Schreien verstummte nicht mehr, es wurde noch furchtbarer und, als wäre es bis zur höchsten Grenze des Entsetzlichen gelangt – verstummte es plötzlich. Lewin traute seinen Ohren nicht, aber es war nicht zu bezweifeln; das Schreien war verstummt und man hörte jetzt ein leises Geräusch und schnelles Atmen, sowie ihre sich losringende, lebhafte, milde und glückselige Stimme die ein leises „vorbei“ hervorbrachte.

Er hob den Kopf. Kraftlos die Hand auf die Bettdecke sinken lassend, schaute sie ihn, seltsam schön und still, wortlos an; sie wollte lächeln, vermochte es aber nicht, und plötzlich fühlte sich Lewin aus jener geheimnisvollen und furchtbaren, überirdischen Welt, in der er die letzten zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, in die frühere, gewohnte zurückversetzt, die ihm jetzt jedoch in solch neuem Glanze von Glück erschien, daß er ihn nicht ertragen konnte. Die gespannt gewesenen Saiten waren sämtlich gerissen. Schluchzen und Freudenthränen, die er nimmermehr vorausgesehen hätte, stiegen in ihm mit solcher Gewalt, seinen ganzen Körper erschütternd, auf, daß sie ihn lange Zeit am Sprechen verhinderten.

Auf die Kniee niederfallend vor dem Bett, hielt er die Hand seines Weibes an seine Lippen und küßte sie, und diese Hand antwortete seinen Küssen mit einer schwachen Bewegung der Finger. Währenddem aber bewegte sich unten, zu Füßen des Bettes, in den gewandten Händen der Lisabetha Petrowna, wie ein Flämmchen aus dem Leuchter, ein lebendiges menschliches Wesen hin und her, welches früher nie gewesen war, nun aber mit dem gleichen Rechte, mit der nämlichen Bedeutung für sich selbst, leben sollte und seinesgleichen zeugen.

„Es lebt, es lebt! Und noch dazu ein Junge! Fürchtet nichts!“ hörte Lewin die Stimme der Lisabetha Petrowna, die mit der zitternden Hand klatschend den Rücken des Kindes schlug.

„Mama, ist es wahr?“ sagte die Stimme Kitys.

Nur das Schluchzen der Fürstin antwortete ihr.

Inmitten des Schweigens aber ertönte, wie eine unbegreifbare Antwort auf die Frage an die Mutter, eine Stimme, die vollkommen verschieden war von den Stimmen, welche verhalten im Zimmer sprachen. Es war der kecke, dreiste, unbekümmerte Schrei eines neuen menschlichen Wesens, das auf unbegreiflichem Wege erschienen ist.

Hätte man Lewin früher gesagt, daß Kity einmal sterben werde und er mit ihr zusammen, und daß ihre Kinder Engel würden und Gott dann bei ihnen sein werde – er hätte sich über nichts gewundert; jetzt aber, in die Welt der Wirklichkeit zurückversetzt, machte er die größten Anstrengungen im Denken, um zu begreifen, daß sie noch lebte, gesund sei, und daß jenes verzweifelt wimmernde Wesen sein Sohn sei.

Kity lebte, ihre Leiden waren vorüber, und er war unsagbar glücklich. Das erkannte er, und er war vollkommen glücklich darüber. Aber das Kind? Woher kam es, warum war es und was war es? Er vermochte sich durchaus nicht an diesen Gedanken zu gewöhnen; es erschien ihm aber auch durch irgend einen Umstand, an den er sich nicht gewöhnen konnte, überflüssig, überzählig.

16

In der zehnten Stunde saßen der alte Fürst, Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch bei Lewin. Nachdem man über die Wöchnerin gesprochen hatte, unterhielt man sich auch über nebensächliche Dinge.

Lewin hörte ihnen zu und dachte unwillkürlich bei diesen Gesprächen der Vergangenheit, dessen, was bis zum heutigen Morgen geschehen war; er vergegenwärtigte sich auch, wie er sich noch gestern dazu gestellt hatte. Es war ihm, als seien seit dieser Zeit hundert Jahre vergangen. Er fühlte sich auf einer gewissen unzugänglichen Höhe, von welcher er sich vorsorglich herabließ, um diejenigen nicht zu verletzen, mit denen er sprach. Er sprach, und dachte dabei fortwährend seines Weibes, der Einzelheiten ihres jetzigen Zustandes, und seines Sohnes, und suchte sich an den Gedanken seines Vorhandenseins zu gewöhnen. Die ganze Welt des Weiblichen, welche für ihn eine neue, ihm unbekannt gewesene Bedeutung erlangt hatte, seitdem er verheiratet war, erhob sich jetzt in seinem Begriffsvermögen so hoch, daß er sie mit seiner Vorstellungskraft nicht mehr zu umfassen vermochte. Er hörte auf das Gespräch über ein Essen am gestrigen Tag im Klub und dachte dabei „wie mag es jetzt mit ihr stehen, ob sie eingeschlafen ist? Wie mag sie sich befinden? Was mag sie denken? Schreit der kleine Dmitry?“ Und mitten in der Unterhaltung sprang er auf und verließ das Zimmer.

„Man hat mir gemeldet, man kann zu ihr,“ sagte der Fürst. „Gut; sogleich“ – antwortete Lewin, und ging ohne Verzug zu ihr.

Sie schlief nicht und sprach leise mit ihrer Mutter, Pläne über die bevorstehende Taufe entwerfend.

Geputzt, frisiert und in einem zierlichen Häubchen mit blauem Band, die Hände auf der Bettdecke ausgestreckt, lag sie auf dem Rücken, und winkte ihn mit dem Blick zu sich, indem sie dem seinigen begegnete. Ihr Blick, schon ohnehin hell, wurde noch lichter im Maße, als er sich ihr näherte. Auf ihrem Gesicht lag jene Wandlung vom Irdischen zum Überirdischen, welche auf dem Gesicht Verstorbener zu liegen pflegt. Dort aber liegt Vergebung darauf; hier ein Wunsch nach Begegnung. Wiederum trat ihm jene Wallung, ähnlich derjenigen, die er in den Augenblicken der Niederkunft empfunden hatte, ans Herz. Sie nahm ihn bei der Hand und frug, ob er geschlafen habe. Er konnte nicht antworten und wandte sich ab, von seiner Schwäche übermannt.

„Ich habe mich vergessen, mein Konstantin,“ sagte sie zu ihm, „doch jetzt befinde ich mich recht wohl.“ Sie schaute ihn an, doch plötzlich veränderte sich ihr Ausdruck. „Gebt ihn mir her,“ sprach sie, das Wimmern des Kindes vernehmend. „Gebt ihn her, Lisabetha Petrowna, er soll ihn sehen.“

„Hier, der Papa muß ihn sehen,“ sagte Lisabetha Petrowna, ein rotes, seltsames, sich bewegendes Etwas emporhebend und herbeibringend; „doch halt, wir wollen ihn erst putzen,“ und Lisabetha Petrowna legte dieses sich bewegende, rote Ding auf das Bett, wickelte das Kind auf, und wickelte es wieder zu, nachdem sie es mit einem Finger aufgehoben, umgewendet, und es mit irgend etwas bestreut hatte.

 

Lewin machte, indem er dieses einzige, klägliche Wesen ansah, vergebliche Anstrengungen, in seiner Seele einige Kennzeichen von Vatergefühl für dasselbe zu entdecken. Er empfand nur Ekel vor ihm. Nachdem es jedoch der Hüllen entledigt war, die zarten Ärmchen, Füßchen, die wie Saffran aussahen, sichtbar wurden, mit den kleinen Fingerchen, selbst mit dem Daumen, der sich vor den anderen auszeichnete, und als er wahrnahm, wie Lisabetha Petrowna – als wären es weiche Sprungfedern – die gespreizten Ärmchen andrückte, indem sie sie in ein leinenes Jüpchen steckte, überkam ihn ein solches Mitleid mit diesem Wesen, und eine solche Angst, sie könne demselben schaden, daß er sie an der Hand festhielt.

Lisabetha Petrowna lachte.

„Habt keine Angst; habt keine Angst!“

Nachdem das Kind angezogen und zu einer drallen Puppe umgewandelt worden war, wälzte es Lisabetha Petrowna, als sei sie stolz auf ihr Werk, und trat dann zurück, damit Lewin den Sohn in seiner ganzen Schönheit sehen könne.

Kity schaute unverwandt gleichfalls nach ihm hin.

„Reicht ihn her, reicht ihn her!“ sagte sie und wollte sich sogar erheben.

„Was macht Ihr, Katharina Aleksandrowna, solche Bewegungen dürft Ihr nicht machen! Wartet nur, ich werde ihn Euch schon geben. Jetzt wollen wir uns aber erst Papa zeigen, wie hübsch wir sind.“

Und Lisabetha Petrowna erhob auf dem einen Arme – der andere stützte nur mit den Fingern das noch haltlose Genick – dieses seltsame, zappelnde, seinen Kopf unter dem Saum der Windel verbergende rote Wesen. Doch es hatte auch eine Nase, schielende Augen und schmatzende Lippen.

„Ein schönes Kind!“ sagte Lisabetha Petrowna.

Lewin seufzte voll Ingrimm. Dieses schöne Kind flößte ihm nur das Gefühl des Abscheues und des Mitleids ein. Das war durchaus nicht das Gefühl, welches er erwartet hatte.

Er wandte sich ab, während Lisabetha Petrowna das Kind an die noch nicht gewohnte Brust zu legen suchte.

Ein Lachen ließ ihn plötzlich den Kopf heben. Kity hatte gelacht. Das Kind hatte sich an ihre Brust gemacht.

„Genug, genug nun!“ sagte Lisabetha Petrowna, doch Kity ließ es nicht von sich. Es schlief in ihren Armen ein.

„Sieh jetzt her,“ sprach Kity, ihm das Kind so zuwendend, daß er es sehen konnte. Das ältlich aussehende Gesichtchen runzelte sich plötzlich noch mehr; das Kind nieste.

Lächelnd und mit Mühe die Thränen zurückhaltend, küßte Lewin sein Weib und verließ das verdunkelte Gemach.

Was er für dieses kleine Geschöpf empfand, war durchaus nicht das, was er erwartet hatte. Nichts Heiteres und Freudiges lag in diesem Gefühl; im Gegenteil, es verursachte ihm eine ungewohnte, peinliche Angst; die Erkenntnis eines neuen Gebietes, auf dem er verwundbar war. Diese Erkenntnis war ihm in der ersten Zeit so peinlich, die Angst davor, daß dieses hilflose Wesen nicht litte, war so stark, daß infolge derselben die Empfindung einer ungemessenen Freude, selbst des Stolzes, die er hatte, als das Kind nieste, gar nicht bemerkbar wurde.