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Anna Karenina, 2. Band

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11

„Welch ein bewundernswertes, liebenswertes und beklagenswertes Weib,“ dachte er, als er mit Stefan Arkadjewitsch in die kalte Luft hinaustrat.

„Nun, was sagst du? Ich hatte dir schon gesagt,“ begann Stefan Arkadjewitsch, welcher sah, daß Lewin vollständig besiegt war.

„Ja,“ versetzte dieser gedankenvoll, „ein ungewöhnliches Weib! Nicht nur, daß sie Verstand besitzt, sie ist auch wunderbar innig. Mir thut sie außerordentlich leid.“

„Jetzt wird ja wohl, so Gott will, bald alles in Ordnung sein. Man muß nur nicht zu früh richten,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, die Wagenthür öffnend; „entschuldige, wir haben doch nicht einen Weg.“

Fortwährend an Anna denkend, an alle die so einfachen Gespräche, welche mit ihr gepflogen worden waren, und sich dabei alle Einzelheiten ihres Gesichtsausdrucks ins Gedächtnis zurückrufend, mehr und mehr in ihre Lage eindringend und Mitleid mit ihr empfindend, fuhr Lewin nach Hause.

Daheim berichtete ihm Kusma, daß Katharina Aleksandrowna sich wohl befinde, sowie, daß die Schwestern nicht lange erst weggefahren wären, und überreichte zwei Briefe.

Lewin las dieselben gleich an Ort und Stelle, im Vorzimmer, um sich später nicht davon ablenken lassen zu müssen. Der eine Brief war von Sokoloff, seinem Verwalter. Sokoloff schrieb, daß der Weizen nicht verkauft werden könne, da man nur fünf und einen halben Rubel gebe, und ein höheres Gebot nirgends zu erlangen sei. Der andere Brief war von seiner Schwester. Dieselbe machte ihm Vorwürfe darüber, daß ihre Angelegenheit noch immer nicht erledigt sei.

„Nun; so werden wir für fünfeinhalb verkaufen, wenn man nicht mehr geben will,“ entschied Lewin sofort mit einer ungewöhnlichen Leichtfertigkeit die erste Frage, die ihm früher so schwierig erschienen war. „Wunderbar, wie hier die Zeit stets in Anspruch genommen ist,“ dachte er bei dem zweiten Briefe. Er fühlte sich schuldig der Schwester gegenüber, weil er bis jetzt nicht erledigt hatte, worum sie ihn gebeten. „Ich bin heute wieder nicht aufs Gericht gekommen, aber es war heute auch, als hätte man nicht die geringste Zeit.“ Nachdem er beschlossen hatte, es morgen entschieden zur Ausführung zu bringen, begab er sich zu seiner Gattin. Auf dem Wege zu ihr ging er noch einmal schnell in der Erinnerung den ganzen Tag durch, so wie er ihn verbracht hatte. Alle Erlebnisse des Tages bestanden in Gesprächen – Gesprächen, welche er angehört und an denen er teilgenommen hatte.

Alle Gespräche hatten von Dingen gehandelt, mit denen er sich, hätte er allein und auf dem Lande gelebt, nie würde beschäftigt haben, die aber hier sehr interessant waren. Alle diese Gespräche waren auch gut gewesen; nur in zwei Punkten nicht so ganz. Der eine betraf das, was er von dem Hechte gesagt hatte, der andere, daß ihm Etwas „nicht richtig“ vorkam in dem zarten Mitgefühl, welches er für Anna empfand.

Lewin fand sein Weib verstimmt und gelangweilt. Die Tafel der drei Schwestern hatte sich ganz heiter gestaltet, dann aber hatte man auf ihn gewartet und gewartet, alles begann sich zu langweilen, die Schwestern fuhren von dannen und sie war allein zurückgeblieben.

„Nun, was hast du denn gemacht?“ frug sie, ihm in die Augen blickend, welche ein wenig verdächtig glänzten. Um ihn nicht zu hindern, alles zu erzählen, verbarg sie jedoch ihre Wahrnehmung und hörte mit billigendem Lächeln seiner Erzählung zu, wie er den Abend verlebt hatte.

„Nun, ich freute mich sehr, daß ich Wronskiy begegnet bin. Ich habe mich recht wohl und unbefangen in seiner Gesellschaft gefühlt. Du begreifst, daß ich mich jetzt bemühen werde, ihn nie wieder zu sehen; aber diese peinliche Situation mußte doch ihr Ende erreichen,“ sprach er, dachte daran, daß er „sich bemühend, ihn nie wieder zu sehen“, sogleich darauf zu Anna gefahren war, und errötete. „Da reden wir, daß das Volk trinkt; ich weiß nicht, wer mehr trinkt, das Volk oder unsere Gesellschaft; das Volk thut es wenigstens nur an Feiertagen, aber“ —

Kity interessierte indessen die Betrachtung, wie das Volk trinke, nicht. Sie hatte gesehen, daß er rot geworden war, und wünschte zu wissen, warum.

„Nun, und wo warest du dann?“

„Stefan bat mich aufs Dringendste, mit zu Anna Arkadjewna zu fahren.“

Lewin hatte dies kaum gesagt, als er noch mehr errötete, und seine Zweifel darüber, ob er gut oder übel daran gethan habe, zu Anna zu fahren, waren endgültig entschieden. Er wußte jetzt, daß es nicht gerade nötig gewesen war, dies zu thun.

Die Augen Kitys öffneten sich eigentümlich weit und blitzten auf bei dem Namen Annas, doch sich selbst bezwingend, verbarg Kity ihre Aufregung und täuschte ihn.

„Ah,“ sagte sie nur.

„Du wirst wohl nicht ungehalten sein, daß ich dahin gefahren bin. Stefan bat mich und Dolly wünschte es,“ fuhr Lewin fort.

„O nein,“ sagte sie, doch in ihren Augen las er ihre Anstrengung über sich selbst, die ihm nichts Gutes verhieß.

„Sie ist sehr liebenswürdig, sehr, sehr beklagenswert, ein gutes Weib,“ sagte er, von Anna erzählend, von ihren Beschäftigungen und von dem, was sie ihm auszurichten befohlen hatte.

„Ja, natürlich, sie ist sehr beklagenswert,“ sagte Kity, nachdem er geendet hatte. „Von wem hast du einen Brief erhalten?“

Er gab ihr Bescheid, und ging, der Ruhe in ihrem Tone vertrauend, sich auszukleiden.

Als er zurückkehrte, fand er Kity noch in demselben Sessel sitzend. Nachdem er zu ihr hingetreten war, blickte sie ihn an und brach in Thränen aus.

„Was ist? Was ist denn?“ frug er, schon vorher den Grund kennend.

„Du hast dich verliebt in dieses abscheuliche Weib; sie hat dich bestrickt. Ich seh es an deinen Augen! Ja, ja; was soll daraus werden? Du hast im Klub getrunken, getrunken, gespielt und dann bist du zu ihr gefahren. Zu wem? Nein; wir reisen ab! Morgen reise ich ab!“

Lewin vermochte lange nicht, sein Weib zu beruhigen. Endlich hatte er sie indessen beschwichtigt, jedoch nur dadurch, daß er eingestand, daß das Gefühl des Mitleids im Verein mit dem Weine ihn verleitet habe, und daß er dem hinterlistigen Einfluß Annas unterlegen sei, diese aber fortan meiden werde.

Ein Umstand, welchen er am Aufrichtigsten eingestand, war der, daß er, so lange schon in Moskau, lediglich durch diese Unterhaltung, das Essen und Pokulieren um seine klare Vernunft gekommen sei.

So sprachen sie bis drei Uhr nachts, und erst um drei Uhr hatten sie sich so weit versöhnt, daß sie Schlaf fanden.

12

Nachdem Anna ihre Gäste hinausgeleitet hatte, begann sie, ohne wieder Platz zu nehmen, im Gemach auf und abzuschreiten. Obwohl sie unbewußt – wie sie in letzter Zeit in ihrem Verhalten jungen Männern gegenüber stets gethan – den ganzen Abend alles Mögliche versucht hatte, in Lewin die Empfindung der Liebe für sie zu erwecken, obwohl sie wußte, daß sie dies auch erreicht habe, so weit es eben in ihrem Verhältnis einem ehrenhaften verheirateten Manne gegenüber und für einen einzigen Abend möglich gewesen war – obwohl auch er selbst ihr sehr gefallen hatte (trotz des scharfen Kontrastes, welcher vom Gesichtspunkt des Mannes aus zwischen Wronskiy und Lewin bestand, sah sie als Weib in beiden ganz ebenso das Gemeinsame, wodurch Kity Wronskiy wie Lewin liebgewonnen hatte), dachte sie nicht mehr seiner, sobald er das Zimmer verlassen hatte.

Einundderselbe Gedanke verfolgte sie unablässig in verschiedenen Gestalten: „Wenn ich so auf andere wirke, auf diesen häuslichen, liebenden Mann, wie kommt es da, daß er so kalt ist gegen mich? Oder vielmehr, nicht daß er kalt wäre, er liebt mich, ich weiß es; aber etwas Fremdartiges trennt uns jetzt! Wie kommt es, daß er den ganzen Abend nicht hier ist? Er hat mir durch Stefan sagen lassen, daß er Jaschwin nicht verlassen könne und dessen Spiel verfolgen müsse. Was für ein Kind ist dieser Jaschwin? Aber gesetzt, es wäre wirklich so – er spricht ja nie die Unwahrheit – so liegt in dieser Wahrheit doch etwas anderes! Er freut sich über die Gelegenheit, mir zeigen zu können, daß er auch noch andere Verpflichtungen hat. Ich weiß das, und bin damit einverstanden. Aber weshalb muß er mir dies zeigen? Er will mir beweisen, daß seine Liebe zu mir nicht seine Freiheit hemmen darf! Aber ich brauche keine Beweise, sondern Liebe! Er hätte wohl all das Drückende dieses meines Lebens in Moskau begreifen müssen; lebe ich denn? Ich lebe nicht, ich erwarte eine Lösung, die sich mehr und mehr hinauszieht. Wieder keine Antwort! Stefan sagt, er könne sich nicht zu Aleksey Aleksandrowitsch begeben. Ich kann aber doch nicht nochmals schreiben. Ich kann nichts thun, nichts anfangen, nichts ändern; ich halte mich ruhig zurück, warte ab, indem ich mir Zeitvertreib ersinne – wie die Familie des Engländers, die Schriftstellerei und Lektüre – und doch ist das alles nur eine Täuschung, alles das ist das nämliche Morphium! Er müßte mich beklagen,“ sprach sie und fühlte, wie ihr die Thränen des Jammers über sich selbst in die Augen traten.

Da vernahm sie das jähe Läuten Wronskiys und wischte eilig diese Thränen ab. Sie wischte nicht nur ihre Thränen weg, sie setzte sich noch zur Lampe und schlug ein Buch auf, sich den Anschein der Ruhe gebend. Galt es doch, ihm zu zeigen, daß sie mißgestimmt sei, weil er nicht zurückgekehrt war, wie er versprochen hatte – nur mißgestimmt; aber nimmermehr wollte sie ihm ihren Schmerz zeigen, oder gar etwa ihr Mitleid mit sich selbst.

Sie durfte wohl Mitleid haben mit sich selbst, nicht aber er mit ihr. Sie wollte keinen Hader, sie machte ihm einen Vorwurf daraus, daß er zu streiten wünschte, und doch geriet sie unwillkürlich in streitlustige Stimmung.

„Du hast dich doch nicht gelangweilt?“ sagte er, lebhaft und heiter zu ihr kommend. „Welch eine furchtbare Leidenschaft – das Spiel.“ —

„Nein; ich habe mich nicht gelangweilt und habe schon seit langem gelernt, mich nicht zu langweilen. Stefan und Lewin waren hier.“

 

„Ja wohl; sie wollten zu dir fahren. Nun, wie hat dir Lewin gefallen?“ sprach er, sich neben ihr niederlassend.

„Sehr gut. Sie sind nicht lange erst weggefahren. Was hat Jaschwin gemacht?“

„Er war im Gewinnen; siebzehntausend Rubel. Ich rief ihn zu mir, er war vollkommen einverstanden, schon aufzubrechen, kehrte aber wieder um und verspielt jetzt.“

„Weshalb bist du denn dann geblieben?“ frug sie, plötzlich die Augen zu ihm erhebend. Der Ausdruck ihres Gesichts war kalt und feindselig, „du hast Stefan gesagt, du wolltest bleiben, um Jaschwin mit zu dir zu nehmen, und hast ihn doch verlassen.“

Der nämliche Ausdruck kalter Kampfbereitschaft drückte sich auch auf seinem Antlitz aus.

„Erstens habe ich ihn in keiner Weise gebeten, dich von etwas zu benachrichtigen, zweitens spreche ich nie die Unwahrheit. Die Hauptsache ist, ich wollte bleiben und bin geblieben,“ sagte er, finster sprechend. „Anna, warum, warum nur das?“ sprach er nach einer Minute des Schweigens, sich zu ihr beugend und die Hand öffnend in der Hoffnung, daß sie die ihre in sie legen werde.

Sie freute sich über diese Aufforderung, zärtlich zu sein, aber eine gewisse, seltsame Macht des Bösen gestattete ihr nicht, sich ihrem Zuge zu ihm hinzugeben, gleich als ob die Ursachen zum Hader es nicht zuließen, daß sie sich selbst überwinde.

„Natürlich; du wolltest bleiben und bist geblieben. Du thust eben, was du willst! Aber warum sagst du mir das? Zu welchem Zweck?“ sagte sie, immer mehr in Erregung geratend. „Macht dir denn jemand deine Rechte streitig? Du willst in deinem Rechte sein; sei es.“

Seine Hand schloß sich, er wandte sich ab und sein Gesicht nahm noch mehr als vorher einen Ausdruck von Trotz an.

„Für dich ist dies nur eine Frage des Eigensinnes,“ sagte sie, ihn unverwandt anblickend, indem sie plötzlich den Namen fand für diesen sie in Wallung versetzenden Ausdruck seines Gesichts, „einfach des Trotzes! Für dich giebt es nur die Frage, wirst du Sieger bleiben gegen mich. Für mich aber“ – wieder empfand sie Mitleid mit sich selbst und sie wäre beinahe in Thränen ausgebrochen. „Wüßtest du, um was es sich für mich handelt! Wenn ich, so wie jetzt, fühle, daß du dich feindselig gegen mich verhältst, thatsächlich feindselig, wüßtest du, was das für mich bedeutet! Wenn du wüßtest, wie nahe ich in diesen Augenblicken dem Unglück bin, wie ich mich selbst fürchte!“ – Sie wandte sich ab, ihr Schluchzen unterdrückend.

„Wovon sprichst du da?“ sagte er, erschreckt vor dem Ausdruck ihrer Verzweiflung, und sich wiederum zu ihr neigend, ihre Hand ergreifend und sie küssend. „Meide ich etwa nicht den Umgang mit den Weibern?“

„Das wäre auch noch!“ sagte sie.

„Nun sag', was ich thun soll, damit du beruhigt bist? Ich bin bereit, alles zu thun, daß du glücklich sein möchtest,“ sprach er, gerührt von ihrer Verzweiflung, „was thue ich nicht, um dich von einem Schmerz zu befreien, wie er dich jetzt erfüllt, Anna,“ sagte er.

„Nicht doch, nicht doch,“ sprach sie, „ich weiß selbst nicht; ist es das einsame Leben, sind es die Nerven – nun, wir wollen nicht weiter davon sprechen! Wie war es mit dem Rennen? Du hast mir nicht davon erzählt?“ frug sie, sich bemühend, den Triumph über den Sieg zu verbergen, welcher nun doch auf ihrer Seite geblieben war.

Er befahl das Abendessen und begann ihr Einzelheiten über die Rennen zu erzählen, aber an seinem Tone, seinen Blicken, die kühler und kühler wurden, erkannte sie, daß er ihr ihren Sieg nicht vergeben hatte, daß jenes Gefühl des Trotzes, gegen welchen sie gekämpft hatte, wieder in ihm erstanden war. Er war kühler gegen sie, als vorher, gleichsam als bereute er es, sich unterworfen zu haben, während sie, an die Worte denkend, welche ihr den Sieg verliehen hatten „ich bin nahe einem furchtbaren Unglück und fürchte mich selbst“, erkannt hatte, daß diese Waffe eine gefährliche war, und sie dieselbe nicht ein zweites Mal anwenden könne.

Sie fühlte aber auch, daß neben der Liebe, die sie beide vereinte, zwischen ihnen der böse Geist einer Kampflust getreten war, den sie weder aus seinem Herzen, noch viel weniger aber aus dem ihren zu vertreiben vermochte.

13

Es giebt keine Verhältnisse, an die sich der Mensch nicht gewöhnen könnte; besonders wenn er sieht, daß alle, die ihn umgeben, ebenso leben.

Lewin hätte vor drei Monaten nicht geglaubt, daß er unter den Verhältnissen, in denen er sich jetzt befand, ruhig einschlafen könne; nie gedacht, daß er, indem er ein zweckloses, gehaltloses Leben führte, welches noch dazu über seine Mittel ging, nach seinem Rausche, – denn anders konnte er das nicht nennen, was es im Klub gab – nach Anknüpfung ungereimter, freundschaftlicher Beziehungen zu einem Manne, in welchen einst seine Frau verliebt gewesen war, und einem noch ungereimteren Besuch bei einer Frau, die man nur als gefallen bezeichnen konnte, sowie nach seinem Enthusiasmus für diese Frau und der Erbitterung der Gattin – unter solchen Verhältnissen ruhig einschlafen könne. Allein unter dem Einfluß der Ermüdung, einer schlaflos verbrachten Nacht und des genossenen Weines, entschlief er sanft und selig.

Um fünf Uhr weckte ihn das Kreischen einer geöffneten Thür. Er fuhr auf und schaute sich um. Kity war nicht mehr im Bett neben ihm, aber hinter der spanischen Wand bewegte sich ein Licht und er vernahm ihre Schritte.

„Was giebt es, was giebt es?“ sprach er, aus dem Schlafe auffahrend, „Kity, was ist?“

„Nichts,“ antwortete diese, das Licht in der Hand, hinter der Zwischenwand hervortretend. „Es war mir unwohl geworden,“ sagte sie, mit eigentümlich weichem ausdrucksvollen Lächeln.

„Was ist? Fängt es an, fängt es an?“ fuhr er erschreckt fort, „da muß geschickt werden,“ und hastig wollte er sich ankleiden.

„Nein, nein,“ sagte sie, lächelnd, und ihn mit der Hand zurückhaltend. „Es ist augenscheinlich nicht von Bedeutung. Es war mir nur ein wenig unwohl geworden. Jetzt aber ist es vorüber.“

Zu ihrem Bett gehend, löschte sie wieder das Licht, legte sich nieder und blieb still liegen. Obwohl ihm ihre Ruhe, wie die eines verhaltenen Atmens, und mehr noch der Ausdruck einer eigenartigen Weichheit und Aufgeregtheit an ihr, mit welchem sie, hinter der Zwischenwand hervortretend, das „nichts“ zu ihm gesagt hatte, verdächtig erschien, verlangte es ihn doch so sehr nach Schlaf, daß er sofort wieder einschlummerte. Erst später gedachte er dieses stillen Atmens, verstand er da alles, was in ihrer edlen, lieben Seele damals vor sich gegangen war, als sie, ohne sich zu rühren, in der Erwartung des wichtigsten Ereignisses im Leben des Weibes, neben ihm gelegen hatte.

Um sieben Uhr erweckte ihn ihre Hand, die ihn an der Schulter berührte, sowie ein leises Flüstern. Sie kämpfte gleichsam noch zwischen dem Bedauern, ihn wecken zu müssen und dem Wunsche, mit ihm zu sprechen.

„Mein Konstantin, erschrick nicht. Es ist nichts. Aber nur scheint – wir müssen nach der Lisabetha Petrowna schicken“ —

Das Licht wurde wieder angezündet. Sie setzte sich im Bett und hielt ein Strickzeug in der Hand, mit welchem sie sich in den letzten Tagen beschäftigt hatte.

„Bitte, erschrick nicht, es ist nichts. Ich habe durchaus keine Angst,“ sprach sie, sein erschrecktes Gesicht gewahrend, und drückte seine Hand an ihren Busen und dann an ihre Lippen.

Eilig sprang er auf, sich selbst nicht mehr empfindend und kein Auge von ihr wendend, zog seinen Hausrock an und blieb stehen, sie noch immer anblickend. Er mußte gehen, konnte sich aber nicht losreißen von ihrem Blick. Wie sehr er auch ihr Antlitz liebte, ihre Mienen kannte, und ihren Blick, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen! Wie abscheulich und furchtbar erschien er jetzt sich selbst, indem er sich ihrer gestrigen Erbitterung entsann, hier vor ihr in ihrer Lage jetzt! Ihr gerötetes Gesicht, umgeben von dem sich unter dem Nachthäubchen hervordrängenden, weichen Haar, schimmerte von Freude und Entschlossenheit. So wenig Unnatürliches und Gekünsteltes auch im allgemeinen Charakter Kitys lag, so war Lewin dennoch betroffen von dem, was sich vor ihm jetzt enthüllte, als plötzlich alle die Schleier abgenommen waren, und der ganze Kern ihrer Seele in ihren Augen leuchtete.

In dieser Einfachheit und Hüllenlosigkeit wurde sie, die, welche er liebte, noch klarer sichtbar für ihn. Lächelnd schaute sie auf ihn, doch plötzlich erbebten ihre Brauen, sie hob das Haupt, und schnell zu ihm tretend, nahm sie ihn bei der Hand; sie schmiegte sich eng an ihn, und umgab ihn mit ihrem heißen Odem. Sie litt und es war, als beklage sie sich bei ihm über ihr Leiden. Auch ihm schien im ersten Augenblick nach seiner Gewohnheit, als sei er schuldig, aber in ihrem Blick lag eine Zärtlichkeit, welche sagte, daß sie ihm nicht nur keinen Vorwurf mache, sondern ihn für diese Leiden liebe. „Wenn ich es nicht bin – wer trüge dann die Schuld hieran?“ dachte er unwillkürlich, den Urheber aller dieser Leiden suchend, um ihn zu strafen; aber es war kein Schuldiger da. Sie litt, klagte und triumphierte zugleich über diese Leiden, sie freute sich ihrer und liebte sie. Er sah, daß sich in ihrer Seele etwas Schönes vollziehe, aber was es war? Er konnte es nicht erfassen. Es stand über seinem Erkenntnisvermögen.

„Ich habe zu Mama geschickt, fahre du möglichst schnell nach der Lisabetha Petrowna – mein Konstantin – es ist nichts; schon vorüber“ – Sie verließ ihn und schellte. „Also geh jetzt; Pascha kommt. Mir fehlt nichts.“

Mit Verwunderung sah Lewin, daß sie die Strickerei ergriff, die sie am Abend mitgebracht hatte und von neuem zu stricken begann.

Während Lewin durch die eine Thür hinausging, hörte er noch, wie das Mädchen durch die andere hereintrat. Er blieb an der Thür stehen und vernahm, wie Kity der Zofe ausführliche Anweisungen erteilte, und mit ihr selbst das Bett zu rücken begann.

Er kleidete sich an und eilte, bis man die Pferde angespannt haben würde – ein Mietgeschirr war noch nicht zu haben – wieder nach dem Schlafzimmer, nicht auf den Fußspitzen, sondern auf Flügeln wie ihm schien.

Zwei Mädchen räumten geschäftig um im Schlafzimmer; Kity selbst ging umher und strickte, schnell die Maschen werfend und Anordnungen dabei treffend.

„Ich werde sogleich zum Arzte eilen. Nach der Lisabetha Petrowna ist man gefahren; ich aber will erst noch hin, ist nicht noch etwas nötig? Soll ich zu Dolly?“

Sie blickte ihn an, offenbar ohne zu hören, was er sprach.

„Ja, ja. Geh,“ sprach sie schnell, sich verfinsternd und ihm mit der Hand zuwinkend. Er war schon in den Salon hinaus, als plötzlich ein klägliches, sogleich wieder verstummendes Stöhnen aus dem Schlafzimmer ertönte. Er blieb stehen und konnte lange nicht verstehen.

„Ja; das war sie,“ sagte er zu sich selbst und lief, sich nach dem Kopfe greifend, hinab. „Gott erbarme dich! Vergieb mir und steh' mir bei!“ stammelte er mit Worten, die gleichsam plötzlich und unerwartet ihm über die Lippen kamen. Er, der da nicht glaubte, wiederholte diese Worte nicht nur mit dem Munde allein. Jetzt, in dieser Minute erkannte er, daß nicht nur alle seine Zweifel, sondern auch die Unmöglichkeit, aus Verstandesgründen zu glauben, die er in sich selbst wahrgenommen hatte, ihn keineswegs daran verhinderten, sich an Gott zu wenden. Alles das flog ihm jetzt wie Staub von seiner Seele herunter. An wen sollte er sich wenden, wenn nicht an den, in dessen Händen er sich fühlte, seine Seele und seine Liebe?

Das Pferd war noch nicht fertig, und so eilte er im Gefühl einer eigentümlichen Spannung seiner physischen Kräfte und Wahrnehmungsfähigkeit für das, was er zu thun hatte, damit nicht eine Minute verloren ging – ohne auf das Pferd zu warten – zu Fuß hinweg und befahl Kusma, ihm nachzukommen. An der Ecke traf er auf eine daherjagende Nachtdroschke. In einem kleinen Schlitten, mit kurzem Sammetpelzmantel und in ein Umschlagtuch gewickelt, saß Lisabetha Petrowna.

„Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ sagte er, mit Entzücken sie und ihr kleines blondes Gesicht, welches jetzt einen eigentümlich ernsten, sogar strengen Ausdruck hatte, erkennend. Ohne dem Kutscher zu befehlen, anzuhalten, rannte er neben ihr wieder mit zurück.

„Also seit zwei Stunden? Nicht wahr?“ frug sie, „Ihr werdet Peter Dmitrjewitsch schon treffen, aber drängt ihn nur nicht! Nehmt auch Opium aus der Apotheke mit.“

„So denkt Ihr also, daß es glücklich geht? Gott erbarme sich und steh' mir bei!“ sagte Lewin, welcher jetzt sein aus dem Thor herauskommendes Geschirr erblickte. Zu Kusma in den Schlitten springend, befahl er diesem, zum Arzt zu fahren.