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Anna Karenina, 2. Band

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„Ich glaube, dies wird das einzige, vollständig rationell eingerichtete Krankenhaus in Rußland werden,“ sagte Swijashskiy.

„Werdet Ihr auch eine Abteilung für Wöchnerinnen haben,“ frug Dolly. „Das ist doch so notwendig auf dem Lande. Ich habe häufig“ —

Bei aller seiner Höflichkeit fiel ihr hier Wronskiy ins Wort.

„Das ist kein Geburtsinstitut, sondern ein Krankenhaus und für alle Krankheiten bestimmt außer den ansteckenden,“ sagte er. „Aber hier seht einmal das,“ er rollte einen neuerdings erst verschriebenen Lehnsessel zu Darja Aleksandrowna, welcher für Genesende bestimmt war. „Paßt auf,“ er setzte sich in den Sessel und begann ihn fortzubewegen. „Wenn Einer nicht gehen kann, noch zu schwach ist, oder fußleidend, aber Luft schöpfen muß, so fährt er, rollt er sich“ —

Darja Aleksandrowna interessierte sich für alles; alles gefiel ihr sehr, am meisten aber Wronskiy selbst mit dieser natürlichen, naiven Begeisterung.

„Ja, ja, er ist ein sehr lieber und guter Mann,“ dachte sie, ohne ihn zu hören, aber auf ihn blickend und in seinen Ausdruck versunken, während sie sich im Geiste in Anna versetzte. Er gefiel ihr jetzt so wohl in seiner Lebhaftigkeit, daß sie begriff, wie Anna sich in ihn hatte verlieben können.

21

„Nein, ich glaube die Fürstin ist müde und die Pferde interessieren sie nicht mehr,“ sagte Wronskiy zu Anna, welche vorgeschlagen hatte, zum Marstall zu gehen, wo Swijashskiy den neuen Hengst zu besichtigen wünschte. „Geht Ihr dahin, während ich die Fürstin ins Haus begleite, und wir wollen ein wenig plaudern, wenn es Euch angenehm ist?“ sagte er, zu derselben gewendet.

„Von Pferden verstehe ich gar nichts; und es ist mir so recht angenehm,“ sagte Darja Aleksandrowna etwas verwundert.

Sie sah im Gesicht Wronskiys, daß er etwas von ihr wünschte, und sie irrte nicht. Kaum waren sie wiederum durch das Pförtchen in den Garten gelangt, als er nach der Seite schaute, nach welcher Anna gegangen war, und, nachdem er sich überzeugt hatte, daß diese ihn weder hören noch sehen könne, begann:

„Ihr habt erraten, daß ich mit Euch zu sprechen wünschte,“ sagte er, sie mit lachenden Augen anblickend, „ich irre nicht darin, daß Ihr eine Freundin Annas seid.“ Er nahm den Hut ab, zog ein Tuch hervor und trocknete sich damit seinen Kopf mit dem spärlichen Haar.

Darja Aleksandrowna antwortete nicht, sondern blickte ihn nur erschrocken an. Nachdem sie mit ihm so allein geblieben, wurde es ihr plötzlich ängstlich zu Mut; die lachenden Augen und der ernste Ausdruck seines Gesichts erschreckten sie.

Die verschiedenartigsten Vermutungen, worüber er wohl mit ihr könnte sprechen wollen, gingen ihr durch den Kopf. „Er wird mich einladen, mit den Kindern zu ihm auf Besuch zu kommen, und ich werde ihm abschläglich antworten müssen: Oder soll ich in Moskau einen Kreis für Anna schaffen, oder will er über Wasjenka Wjeslowskiy und dessen Beziehungen zu Anna reden? Vielleicht auch von Kity, oder davon, daß er sich schuldig fühlt?“ Sie sah nur Unangenehmes, erriet aber nicht, wovon er mit ihr mochte reden wollen.

„Ihr habt so großen Einfluß auf Anna, sie liebt Euch so,“ sagte er, „helft mir doch!“

Darja Aleksandrowna schaute fragend und schüchtern auf sein energisches Gesicht, welches bald ganz, bald stellenweis in das Licht der Sonne trat, das bald den Schatten der Linden durchdrang, bald vom Schatten wieder verdunkelt wurde, und wartete auf das, was er weiter sagen würde; doch er schritt, mit dem Spazierstock in den Kies bohrend, schweigend neben ihr hin.

„Wenn Ihr zu uns gekommen seid, Ihr, die einzige Frau unter den früheren Freundinnen Annas – die Fürstin Barbara rechne ich nicht – so verstehe ich darin, daß Ihr dies nicht gethan habt, weil Ihr etwa unser Verhältnis für ein normales haltet, sondern weil Ihr, die ganze Schwierigkeit dieses Verhältnisses begreifend, sie noch immer ebenso liebt und ihr helfen wollt. Habe ich Euch so richtig aufgefaßt?“ frug er, sie anschauend.

„O ja,“ antwortete Darja Aleksandrowna, ihren Sonnenschirm schließend, „doch“ —

– „Nein,“ unterbrach er sie, und blieb stehen, unwillkürlich, und vergessend, daß er hierdurch Darja Aleksandrowna in eine peinliche Situation versetzte, indem diese genötigt war, gleichfalls stehen zu bleiben. „Niemand empfindet mehr und stärker als ich die ganze Schwierigkeit der Lage Annas, und dies ist begreiflich, wenn Ihr mir die Ehre erweist, mich für einen Menschen zu halten, der Herz besitzt, ‚ich bin die Ursache dieser Lage und deshalb fühle ich sie.‘“

„Ich verstehe,“ sagte Darja Aleksandrowna, unwillkürlich freundlich werdend, als er dies so aufrichtig und bestimmt aussprach, „aber eben deswegen, weil Ihr Euch als die Ursache fühlt, übertreibt Ihr, wie ich fürchte,“ sagte sie, „Annas Lage ist eine schwierige in der Welt, ich verstehe wohl.“

„In der Welt ist sie eine Hölle,“ fuhr er hastig fort, das Gesicht in finstre Falten legend, „man kann sich keine schlimmeren moralischen Qualen vorstellen, als die, welche sie in jenen vierzehn Tagen in Petersburg durchlebt hat. Ich bitte Euch darum, das zu glauben.“

„Aber hier, bis jetzt, so lange weder Anna, noch Ihr ein Bedürfnis nach der Welt empfindet“ —

„Die Welt“ – sagte er voll Verachtung, „welches Bedürfnis kann ich nach der Welt empfinden?“

„Bis jetzt – und vielleicht bleibt das immer so – seid Ihr glücklich und ruhig. Ich sehe an Anna, daß sie glücklich ist, vollkommen glücklich, sie hat es mir kaum erst geäußert“ – sagte Darja Aleksandrowna lächelnd; doch unwillkürlich stiegen ihr, während sie dies sprach, Zweifel auf, ob Anna wirklich glücklich war.

Wronskiy hingegen schien hieran nicht zu zweifeln.

„Ja, ja,“ sagte er, „ich weiß, daß sie aufgelebt ist nach allen ihren Leiden; sie ist glücklich. Sie ist wahrhaft glücklich. Aber ich? Ich fürchte das, was uns erwartet. Doch entschuldigt, Ihr wollt gewiß gehen?“

„Nein, ganz gleich.“

„Gut, setzen wir uns dann hierher!“

Darja Aleksandrowna ließ sich auf einer Gartenbank in einer Ecke der Allee nieder. Er blieb vor ihr stehen.

„Ich sehe, daß sie glücklich ist,“ wiederholte er und der Zweifel daran, ob sie glücklich sei, beschlich Darja Aleksandrowna noch mehr. „Aber kann dies so fortgehen? Mögen wir gut oder schlecht gehandelt haben, das bleibt eine andre Frage, aber der Würfel ist gefallen,“ sagte er, aus der russischen in die französische Sprache übergehend, „und wir sind für das ganze Leben miteinander verbunden; wir sind vereint durch die heiligsten Bande der Liebe. Wir haben ein Kind, wir können noch mehr Kinder haben. Aber das Gesetz und alle Umstände in unserem Verhältnis sind derart, daß sich tausend Verwickelungen zeigen, welche Anna jetzt, wo sie ihren Geist von all den Leiden und Prüfungen ausruhen läßt, nicht sieht oder nicht sehen will. Und das ist begreiflich. Ich aber muß sie sehen. Meine Tochter ist nach dem Gesetz – nicht meine Tochter, sondern eine Karenina. Ich will diese Täuschung nicht,“ sagte er, mit einer energischen Geste der Verneinung, und düster fragend Darja Aleksandrowna anblickend.

Diese antwortete nicht und schaute ihn nur an. Er fuhr fort:

„Morgen kann mir ein Sohn geboren werden, mein Sohn, aber nach dem Gesetz – ist er ein Karenin; weder Erbe meines Namens, noch Erbe meines Vermögens, und so glücklich wir in der Familie sein, soviel Kinder wir auch bekommen mögen, zwischen mir und ihnen besteht kein Band. Sie sind Karenin. Begreift nur das Drückende und Entsetzliche dieser Lage! Ich habe es versucht, mit Anna darüber zu sprechen, aber sie reizt dies nur. Sie versteht es nicht und ich vermag nicht, ihr alles zu sagen. Betrachtet indes jetzt die Sache auch noch von einer anderen Seite! Ich bin glücklich, glücklich durch ihre Liebe, aber ich muß eine Beschäftigung haben! Diese Beschäftigung habe ich gefunden und bin stolz auf sie; ich halte sie für edler, als es die Beschäftigung meiner ehemaligen Kameraden am Hof und im Dienst ist, und ohne Zweifel würde ich dieses Wirken nicht mit dem ihren vertauschen mögen. Ich arbeite hier, auf meiner Scholle sitzend, und bin glücklich und zufrieden, und wir brauchen nichts weiter zum Glück. Ich liebe diese Thätigkeit. Cela n'est pas un pis-aller, im Gegenteil“ —

Darja Aleksandrowna bemerkte, daß er an dieser Stelle seiner Erklärung den Faden verlor; sie verstand diese Abschweifung nicht recht und fühlte, daß er jetzt, nachdem er einmal über seine Herzensangelegenheiten, über die er mit Anna nicht reden konnte, zu sprechen angefangen hatte, alles aussprach, und daß sich die Frage seiner Beschäftigung auf dem Lande in der nämlichen Abteilung seiner innersten Gedanken befand, in welcher auch die Frage über seine Beziehungen zu Anna war.

„Indessen, ich fahre fort,“ sagte er, wieder auf den rechten Weg kommend, „das Wichtigste ist, daß ich beim Arbeiten die Überzeugung hegen muß – daß das von mir Geleistete nicht mit mir sterben wird, daß ich Erben haben werde, – und dies ist bei mir nicht der Fall! Stellt Euch selbst die Situation eines Menschen vor, welcher im voraus weiß, daß seine und seines von ihm geliebten Weibes Kinder nicht sein eigen werden, sondern jemandes, der sie haßt und sie gar nicht kennen will. – Das ist doch furchtbar!“

Er verstummte augenscheinlich in starker Erregung.

„Ja, natürlich; ich begreife das. Aber was kann Anna thun?“ frug Darja Aleksandrowna.

„Dies eben führt mich auf den Zweck meiner Aussprache,“ sagte er, sich gewaltsam bezwingend, „Anna kann Etwas thun; es hängt von ihr ab. Selbst zu dem Gesuch an den Zaren um Adoptierung, ist die Ehescheidung unumgänglich erforderlich. Und diese hängt von Anna ab; ihr Gatte war mit der Scheidung einverstanden – Euer Gatte hatte dies damals vollkommen arrangiert, und auch jetzt noch, ich weiß es, würde er sich nicht weigern. Es käme nur darauf an, daß man ihm schriebe. Er hat damals offen geantwortet, daß er sich, wenn sie diesen Wunsch aussprechen sollte, nicht weigern würde. Natürlich,“ sagte er finster, „ist dies nur eine jener Pharisäerhärten, deren allein Leute ohne Herz fähig sind. Er weiß, welche Qual ihr jede Erinnerung an ihn kostet, und fordert, da er es weiß, von ihr einen Brief. Ich begreife, daß ihr das qualvoll sein muß, aber die Ursachen sind so wichtig, daß es heißt passer par-dessus toutes ces finesses de sentiment. Il y va du bonheur et de l'existence d'Anne et de ses enfants. Ich spreche nicht von mir, obwohl es mir schwer, sehr schwer wird,“ sagte er mit dem Ausdruck einer Drohung gegen jemand, der es ihm so schwer machte. „Und so klammere ich mich denn ohne Bedenken an Euch, Fürstin, wie an einen Rettungsanker. Helft mir, sie zu überreden, daß sie ihm schreibt und die Scheidung fordert.“

 

„Ja, natürlich,“ sagte Darja Aleksandrowna, sich lebhaft ihres letzten Zusammenseins mit Aleksey Aleksandrowitsch erinnernd, „ja versteht sich,“ wiederholte sie entschlossen, mit dem Gedanken an Anna.

„Macht von Eurem Einfluß auf sie Gebrauch und bewirkt, daß sie schreibt. Ich will und kann nicht darüber mit ihr reden.“

„Gut, ich werde mit ihr sprechen. Aber sie selbst sollte gar nicht hieran denken?“ sagte Darja Aleksandrowna, der plötzlich hierbei die seltsame neue Gewohnheit Annas, zu zwinkern, einfiel. Sie dachte wieder daran, daß Anna gerade da, als die Frage auf die Seiten ihres Lebens, die ihr Herz berührten, kam, mit den Augen zwinkerte. „Gerade als ob sie über ihr Leben zwinkerte, um es nicht zu sehen,“ dachte Dolly. „Ohne Zweifel muß ich im eigenen Interesse und in ihrem mit ihr sprechen,“ antwortete sie auf den Ausdruck seiner Dankbarkeit hin.

Sie erhoben sich und schritten dem Hause zu.

22

Als Anna Dolly bereits zurückgekehrt fand, schaute sie ihr aufmerksam ins Auge, als wolle sie nach dem Gespräch fragen, welches sie mit Wronskiy gehabt, frug aber nicht mit Worten.

„Es scheint schon Zeit zur Mittagstafel zu sein,“ sagte sie. „Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen. Ich rechne auf den Abend; jetzt muß ich mich umkleiden, und ich denke wohl auch du wirst dies thun? Wir sind auf dem Bau alle ganz schmutzig geworden.“

Dolly ging nach ihrem Zimmer und war nun in einer komischen Situation. Es war ihr nicht möglich, sich umzukleiden, denn sie hatte schon ihr bestes Kleid angelegt; doch, um wenigstens in Etwas ihre Vorbereitung zur Tafel kenntlich zu machen, bat sie die Zofe, ihr das Kleid zu reinigen, wechselte die Manschetten und ein Band und legte Spitzen auf den Kopf.

„Das ist alles, was ich vermag,“ sagte sie lächelnd zu Anna, welche in dem dritten, wiederum einem sehr einfachen Kleide, zu ihr kam.

„Ja, wir sind hier sehr kokett,“ sagte Anna, sich gleichsam entschuldigend wegen ihrer Toilette. „Aleksey ist erfreut über dein Kommen, wie selten über Etwas. Er ist aufrichtig in dich verliebt,“ fügte sie hinzu. „Aber du bist doch nicht ermüdet?“

Bis zur Tafel war keine Zeit mehr, noch über etwas zu sprechen. Als sie in den Salon traten, trafen sie dort bereits die Fürstin Barbara und die Herren in schwarzen Röcken. Der Architekt war im Frack. Wronskiy stellte dem Besuch den Arzt vor. Den bauleitenden Architekten hatte er mit Darja Aleksandrowna schon in dem Krankenhause bekannt gemacht.

Der dicke Hausmeister, mit seinem glänzenden, runden rasierten Gesicht und im steifgeplätteten Band seiner weißen Krawatte meldete, daß das Essen bereit sei, und die Damen erhoben sich. Wronskiy ersuchte Swijashskiy, Anna Arkadjewna den Arm zu reichen, während er selbst zu Dolly trat. Wjeslowskij gab vor Tuschkjewitsch der Fürstin Barbara seinen Arm, so daß dieser, der Baumeister und der Arzt allein gingen.

Das ganze Essen, der Speisesalon, das Service, der Wein und die Speisen entsprachen nicht nur dem allgemeinen Charakter des modernen Prunkes in diesem Hause, sondern alles war wohl noch luxuriöser und moderner. Darja Aleksandrowna musterte diese ihr neue Pracht und vertiefte sich als Hausfrau, die ein Hauswesen führte – obwohl ohne Hoffnung, etwas von all dem Gesehenen mit ihrem Hauswesen vergleichen zu können, so hoch stand hier alles an Pracht über ihrer Lebensweise – unwillkürlich in alle Einzelheiten und stellte sich dabei die Frage, wer dies alles gemacht hatte und wie es gemacht war.

Wasjenka Wjeslowskij, ihr Gatte und selbst Swijashskiy und viele Leute, die sie kannte, hatten nie hierüber nachgedacht, sondern aufs Wort daran geglaubt, daß jeder rechtschaffene Hausherr seine Gäste merken zu lassen wünscht, alles, was bei ihm gut in der Einrichtung sei, habe ihm, dem Hausherrn, nicht die geringste Mühe gekostet, sondern sei von selbst geworden.

Darja Aleksandrowna aber wußte, daß von selbst nicht einmal der Brei zum Frühstück für die Kinder werde, und infolge dessen auf eine so komplizierte und herrliche Einrichtung gewissermaßen verstärkte Aufmerksamkeit hatte gerichtet werden müssen. Auch an dem Blicke des Aleksey Kyrillowitsch, mit welchem dieser den Tisch überflog, und wie er ein Zeichen mit dem Kopfe nach dem Hausmeister hin gab, und wie er der Darja Aleksandrowna die Auswahl zwischen dem Kwasgericht und der Suppe vorschlug, erkannte sie, daß alles durch die Fürsorge des Herrn selbst geschehe und von dieser gehalten sei. Von Anna hing augenscheinlich dies alles nicht in höherem Grade ab, als etwa von Wjeslowskij. Sie, Swijashskiy, die Fürstin und Wjeslowskiy waren einzig und allein die Gäste, welche heiter genossen, was für sie bereitet war.

Anna war Hausfrau nur der Führung des Gesprächs nach, und dieses Gespräch, sehr schwierig für die Hausherrin bei der nicht großen Tafel, bei Personen wie dem Baumeister und dem Architekten, Leuten einer vollständig anderen Welt, die sich bemühten, nicht zu erröten vor dem ungewohnten Luxus, und nicht lange an dem gemeinsamen Gespräch teilzunehmen vermochten – dieses schwierige Gespräch führte Anna mit ihrem gewohnten Takte, mit Natürlichkeit und selbst mit Vergnügen, wie Darja Aleksandrowna merkte.

Das Gespräch drehte sich darum, wie Tuschkjewitsch und Wjeslowskiy allein im Boot gefahren waren; dann begann Tuschkjewitsch von den letzten Bootwettfahrten in Petersburg im Jachtklub zu erzählen. Doch Anna, eine Pause abwartend, wandte sich sogleich an den Architekten, um denselben aus seinem Schweigen zu ziehen.

„Nikolay Iwanitsch war überrascht,“ sagte sie zu Swijashskiy, „wie das neue Gebäude seit der Zeit, seit welcher er das letzte Mal hier war, gewachsen ist; aber ich bin alltäglich dabei und verwundere mich selbst alltäglich, wie schnell das geht.“

„Mit Erlaucht arbeitet es sich auch gut,“ sagte lächelnd der Architekt – er war im Gefühl seines Wertes ein ehrerbietiger und ruhiger Mensch – „man hat es hier nicht mit Gouvernementsmachthabern zu thun, bei denen erst ein Ries Papier vollgeschrieben werden muß; ich mache dem Grafen Meldung, wir besprechen und mit drei Worten ist die Sache abgemacht.“

„Amerikanische Manieren,“ sagte Swijashskiy lächelnd.

„Ja; dort werden die Gebäude rationell errichtet.“

Das Gespräch kam auf den Mißbrauch der Macht in den Vereinigten Staaten, doch Anna brachte es sogleich auf ein anderes Thema, um den Baumeister aus seinem Schweigen zu ziehen.

„Hast du schon einmal Erntemaschinen gesehen?“ wandte sie sich an Darja Aleksandrowna. „Wir waren hinausgeritten, sie anzusehen, als wir dir begegneten. Ich selbst habe sie zum erstenmale gesehen.“

„Wie arbeiten sie denn?“ frug Dolly.

„Genau so wie Scheren. Es ist ein Brett und daran sind viele kleine Scheren. So hier“ —

Anna ergriff mit ihren schönen, weißen, von Ringen bedeckten Händen ein Messer und eine Gabel und begann zu zeigen. Sie sah offenbar, daß sich aus ihrer Erklärung nichts erkennen lasse, setzte aber, recht wohl wissend, daß sie angenehm sprach und daß ihre Hände schön seien, die Erklärung fort.

„Es sind eigentlich mehr Federmesser,“ sagte Wjeslowskij lächelnd, ohne die Augen von ihr zu verwenden.

Anna lächelte kaum merklich, antwortete ihm aber nicht.

„Nicht wahr, Karl Fjodorowitsch, es sind Scheren?“ wandte sie sich an den Baumeister.

„O ja,“ versetzte der Deutsche in deutscher Sprache, „es ist ein ganz einfaches Ding,“ und begann dann die Konstruktion der Maschine zu erläutern.

„Schade, daß sie nicht strickt. Ich habe auf der Wiener Weltausstellung eine gesehen, die strickt Draht,“ sagte Swijashskiy, „diese wären noch nützlicher gewesen.“

„Es kommt drauf an; der Preis vom Draht muß ausgerechnet werden,“ sagte der Deutsche in deutscher Sprache und wandte sich, seinem Schweigen entrissen, an Wronskiy.

„Das läßt sich ausrechnen, Erlaucht.“ Der Deutsche hatte bereits in die Tasche gegriffen, wo er Bleistift und ein Notizbuch trug, in welchem er alles ausrechnete. Doch besann er sich, daß er bei Tische sitze und stand, den kühlen Blick Wronskiys bemerkend, von seinem Vorhaben ab. „Zu kompliziert; macht zuviel Klopot,“ schloß er.

„Wünscht man Dochots,1 so hat man auch Klopots,“2 sagte Wasjenka Wjeslowskij auf Deutsch, sich über den Deutschen lustig machend. „J'adore l'allemand,“ wandte er sich mit dem nämlichen Lächeln zu Anna.

Cessez!“ sagte diese scherzhaft ernst. „Wir dachten Euch auf dem Felde zu treffen, Wasiliy Ssemjonitsch?“ wandte sie sich dann an den Arzt, einen krankhaften Menschen, „waret Ihr dort?“

„Ich war dort, zog mich aber zurück,“ antwortete dieser mit mürrischem Spott.

„Wahrscheinlich habt Ihr Euch eine gute Motion gemacht?“

„Herrlich!“

„Wie ist denn das Befinden der Alten? Ich hoffe es ist nicht Typhus?“

„Typhus oder nicht Typhus, in der Besserung befindet sie sich nicht gerade.“

„Wie schade,“ sagte Anna, und wandte sich, nachdem sie so der Höflichkeit ihren Hausgenossen gegenüber den Tribut gezollt hatte, wieder zu den Ihrigen.

„Es wäre jedenfalls nach Eurer Erzählung schwierig, eine Maschine zu konstruieren, Anna Arkadjewna,“ sagte Swijashskiy scherzend.

„Nun; inwiefern?“ versetzte Anna mit einem Lächeln, welches sagte, daß sie wohl wisse, in ihrer Erklärung von der Maschinenkonstruktion habe etwas Liebliches gelegen, was von Swijashskiy auch bemerkt worden sei. Dieser neue Zug jugendlicher Koketterie überraschte Dolly unangenehm.

„Dafür sind die Kenntnisse Anna Arkadjewnas in der Architektur bewundernswürdige,“ sagte Tuschkjewitsch.

„Allerdings; ich hörte es; gestern sprach Anna Arkadjewna davon – bis auf die Plinthe ist sie Kennerin“ – sagte Wjeslowskij.

„Es ist nichts Wunderbares dabei, wenn man so viel sieht und hört,“ antwortete Anna, „Ihr freilich wißt gewiß nicht einmal, wovon man ein Haus baut.“

Darja Aleksandrowna sah, daß Anna ungehalten über den Ton von Tändelei war, der zwischen ihr und Wjeslowskij herrschte, und in welchen unwillkürlich sie selbst geriet.

Wronskiy handelte in diesem Falle durchaus nicht so, wie Lewin. Er maß dem Geschwätz Wjeslowskijs offenbar nicht die geringste Bedeutung bei, ja, würzte im Gegenteil noch dessen Scherze.

„Nun sagt doch einmal, Wjeslowskij, womit bindet man denn die Steine!“

„Natürlich mit Cement.“

„Bravo! Aber was ist denn Cement?“

„Nun so etwas wie ein dünner Brei, nein wie Kitt,“ sagte Wjeslowskij, ein allgemeines Gelächter hervorrufend.

Die Konversation unter den Dinierenden mit Ausnahme des in tiefes Schweigen versunkenen Arztes, des Architekten und des Baumeisters, verstummte nicht, bald glatt fließend, bald stockend und jemanden bei einer Schwäche fassend. Einmal wurde auch Darja Aleksandrowna angegriffen und so aufgeregt davon, daß sie sogar errötete, und sich besann, ob man ihr nicht etwas Überflüssiges und Unangenehmes gesagt habe? Swijashskiy hatte über Lewin zu sprechen begonnen, und von seinen seltsamen Urteilen, daß die Maschinen der russischen Landwirtschaft nur schädlich seien, erzählt.

„Ich habe nicht das Vergnügen, diesen Herrn Lewin zu kennen,“ sagte Wronskiy lächelnd, „aber wahrscheinlich hat er wohl niemals die Maschinen gesehen, die er verwirft. Und wenn er eine gesehen und erprobt hat, so wird sie darnach gewesen sein, nicht eine ausländische, sondern eine russische. Wie kann man hierbei noch Ansichten haben?“

 

„Im allgemeinen türkische Ansichten,“ sagte Wjeslowskij lächelnd, sich an Anna wendend.

„Ich kann seine Urteile nicht vertreten,“ fuhr Darja Aleksandrowna auf, „aber ich kann sagen, daß er ein sehr gebildeter Mann ist, und, wenn er hier wäre, schon wüßte, wie er Euch zu antworten hätte; ich verstehe es allerdings nicht!“

„Ich liebe ihn sehr und wir sind sehr gute Freunde,“ sagte Swijashskiy gutmütig lächelnd. „Mais pardon, il est un petit peu toqué; zum Beispiel behauptet er, daß sowohl das Semstwo, wie die Schiedsrichter nicht nötig wären, und beteiligt sich an nichts.“

„Das ist unsere russische Indifferenz,“ sagte Wronskiy, Wasser aus einer Eiskaraffe in ein feines Glas auf langem Fuße gießend, „man will sich keiner Verpflichtungen bewußt werden, die unsere Rechte uns auferlegen, und stellt diese Pflichten daher in Abrede.“

„Ich kenne keinen Menschen, der strenger wäre in der Erfüllung seiner Pflichten,“ sagte Darja Aleksandrowna, gereizt von diesem Tone der Überlegenheit in Wronskiy.

„Ich, im Gegenteil,“ fuhr Wronskiy fort, offenbar aus irgend einem Grunde von diesem Gespräch in einem gewissen Punkte getroffen, „ich im Gegenteil, so wie Ihr mich seht, bin sehr dankbar für die Ehre, die Ihr mir erwiesen habt, dank Nikolay Iwanitsch“ – er wies auf Swijashskiy – „indem ich zum Ehrenrichter gewählt worden bin. Ich meine, daß für mich die Pflicht, zu den Zusammenkünften zu reisen, die Klage eines Bauern über ein Pferd zu begutachten ebenso wichtig ist, wie alles, was ich überhaupt thun kann. Ich werde es mir zur Ehre anrechnen, wenn man mich zum stimmenden Richter macht. Nur damit kann ich jene Vorteile wieder ausgleichen, welche ich als Grundherr besitze. Zum Unglück versteht man die Bedeutung nicht, welche die Großgrundbesitzer im Reiche haben müßten.“

Darja Aleksandrowna berührte es seltsam, wie er so ruhig in seiner Gerechtigkeit dasaß, in seinem Hause hinter seinem Tische. Sie dachte daran, wie Lewin, von entgegengesetzter Meinung, ebenso entschieden war in seinem Urteil, in seinem Hause, an seinem Tische. Doch sie liebte Lewin und war daher auf seiner Seite.

„So können wir also auf Euch rechnen, Graf, für die nächste Zusammenkunft?“ frug Swijashskiy. „Doch wird zeitig zu fahren sein, damit man um acht Uhr schon dort ist. Wenn Ihr mir die Ehre erweisen wolltet, zu mir zu kommen?“

„Auch ich bin ein wenig einverstanden mit deinem beau frère,“ sagte Anna, „man darf nur nicht ganz so denken, wie er,“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich fürchte, daß in letzter Zeit für uns zu viel dieser gesellschaftlichen Pflichten erstanden sind. Wie es früher so viel Beamte gab, daß für jede Arbeit ein Beamter erforderlich war, so ist jetzt alles gesellschaftlicher Faktor. Aleksey ist jetzt sechs Monate hier und schon ist er Mitglied von wohl fünf oder sechs verschiedenen socialen Institutionen – als Vormund, Richter, Stimmrichter, Beisitzer &c. Du train que cela va, alle seine Zeit geht darin auf. Ich fürchte, daß bei der Masse dieser Geschäfte, alles nur Form ist. In wie viel Orten seid Ihr Ratsmitglied des Gerichtshofs, Nikolay Iwanitsch,“ wandte sie sich an Swijashskiy, „mir scheint in mehr als zwanzig!“

Anna sprach im Scherz, aber in ihrem Tone lag Bitterkeit. Darja Aleksandrowna, welche Anna und Wronskiy aufmerksam beobachtet hatte, bemerkte dies sogleich. Sie bemerkte auch, daß das Gesicht Wronskiys bei diesem Gespräch sofort einen ernsten und eigensinnigen Ausdruck annahm. Als sie dies bemerkt hatte, sowie auch, daß die Fürstin Barbara sogleich, um das Thema zu ändern, hastig von Petersburger Bekannten zu sprechen begann, sich ferner auch daran erinnert hatte, daß Wronskiy im Garten nicht zur passenden Zeit über seine Thätigkeit gesprochen hatte, erkannte Dolly, daß mit dieser Frage über die sociale Wirksamkeit ein gewisser geheimer Zwist zwischen Anna und Wronskiy zusammenhing.

Das Essen, die Weine, die Servierung, alles das war sehr gut, doch auch ebenso, wie es Darja Aleksandrowna bei offiziellen Essen und Bällen, von denen sie jetzt freilich ganz entwöhnt war, gesehen hatte, und von dem nämlichen Charakter des Nichtigen und Gespreizten. Infolge dessen machte auch alles dies, an dem gewöhnlichen Wochentag und in diesem kleinen Kreis einen unangenehmen Eindruck auf sie.

Nach dem Essen setzte man sich auf die Terrasse, dann wurde lawn tennis gespielt, indem man sich in zwei Parteien schied, und auf dem sorgfältig geebneten und abgesteckten croket-ground, auf beiden Seiten des aufgespannten Netzes mit den vergoldeten Stäben auseinandertrat.

Darja Aleksandrowna versuchte zu spielen, konnte aber lange Zeit das Spiel nicht begreifen; nachdem sie es aber erfaßt hatte, war sie so müde geworden, daß sie sich bei der Fürstin Barbara niedersetzte und den Spielenden nur noch zuschaute. Ihr Partner, Tuschkjewitsch, hatte ebenfalls aufgehört, die übrigen aber setzten das Spiel noch lange fort. Swijashskiy und Wronskiy spielten beide sehr gut und mit Ernst. Sie folgten mit scharfen Blicken dem ihnen zugeworfenen Ball, ohne sich zu überhasten oder etwas zu versäumen, liefen ihm behend nach, paßten die Sprünge ab und schleuderten den Ball zielbewußt und richtig über das Netz hinüber.

Wjeslowskij spielte schlechter als die übrigen. Er war zu aufgeregt, inspirierte aber dafür mit seiner Heiterkeit die Spieler. Sein Gelächter und seine Rufe klangen unaufhörlich. Er legte wie alle übrigen Herren, auf den Beschluß der Damen den Überrock ab, und seine volle schöne Figur mit den weißen Hemdärmeln, dem roten schweißbedeckten Gesicht, den hastigen Bewegungen prägte sich förmlich dem Gedächtnis ein.

Als Darja Aleksandrowna sich in dieser Nacht schlafen legte, sah sie, als sie kaum die Augen geschlossen hatte, den über den croket-ground huschenden Wasjenka Wjeslowskij.

Während des Spieles war Darja Aleksandrowna nicht heiter gestimmt gewesen. Ihr mißfiel das auch hierbei fortdauernde, tändelnde Verhältnis zwischen Wasjenka und Anna, sowie die allgemeine Gezwungenheit der Erwachsenen, wenn solche allein, ohne daß Kinder dabei sind, ein Kinderspiel spielen.

Um indessen die übrigen nicht zu stören, und irgendwie die Zeit doch zu verbringen, gesellte sie sich endlich, nachdem sie sich erholt hatte, dem Spiele wieder bei und stellte sich heiter. Diesen ganzen Tag hindurch schien es ihr immer, als spiele sie auf einem Theater, mit Schauspielern, die besser waren als sie, und als verderbe ihr schlechtes Spiel die ganze Aufführung.

Sie war mit der Absicht gekommen, zwei Tage hier zu bleiben, falls es anginge. Aber am Abend während des Spielens, beschloß sie bei sich, morgen schon abzureisen. Jene quälenden mütterlichen Sorgen, die sie unterwegs so gehaßt hatte, erschienen ihr jetzt, nach einem Tage den sie ohne dieselben verbracht hatte, schon in anderem Lichte und lockten sie an sich.

Als Darja Aleksandrowna nach dem Abendthee und einer Spazierfahrt am Abend im Boot allein in ihr Zimmer getreten war, ihr Kleid abgelegt und sich niedergesetzt hatte, um ihr dünnes Haar für die Nacht aufzubinden, empfand sie große Erleichterung.

1dochód „Einkünfte“.
2chlópot Gen. Plur. von chlópoty „Plackereien“.