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Anna Karenina, 2. Band

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18

Anna blickte in Dollys hageres, übermüdetes Gesicht mit den Runzeln, die vom Staube bedeckt waren; sie wollte sagen, was sie dachte, nämlich daß Dolly recht abgemagert sei, aber indem sie sich vergegenwärtigte, daß sie schöner geworden, und der Blick Dollys ihr dies sagte, seufzte sie, und begann, von sich zu sprechen.

„Du blickst mich an,“ sagte sie, „und denkst, kann sie glücklich sein in ihrer Lage. Nun, was soll ich sagen! Es ist schmachvoll, es einzugestehen; aber ich – ich bin unverzeihlich glücklich! – Mir ist etwas Zauberhaftes, Etwas wie ein Traum vor sich gegangen, in dem es uns furchtbar, seltsam wird, aus dem man plötzlich erwacht, um zu fühlen, daß alle diese Schrecken gar nicht da sind. Ich bin erwacht. Ich habe Qualvolles, Furchtbares durchlebt, und es ist jetzt schon geraume Zeit, besonders seit wir hier sind, daß ich so glücklich bin,“ sprach sie mit schüchternem, fragendem Lächeln Dolly ins Auge sehend.

„Wie freue ich mich,“ sagte Dolly lächelnd, aber unwillkürlich kühler, als sie wollte. „Ich freue mich sehr über dich. Weshalb hast du mir nicht geschrieben?“

„Weshalb? Deshalb, weil ich es nicht wagte – du vergißt meine Lage.“

„Gegen mich? Gegen mich hast du es nicht gewagt? Wenn du wüßtest, wie ich – ich glaube“ —

Darja Aleksandrowna wollte ihre Gedanken vom heutigen Morgen aussprechen, aber aus irgend einem Grunde erschien ihr dies jetzt nicht am Platze.

„Doch davon später. Was ist das, alle diese Gebäude?“ frug sie, im Wunsche das Thema zu wechseln, auf die roten und grünen Dächer zeigend, welche hinter dem Grün lebender Akazienzäune sichtbar wurden. Es sah dies alles aus wie ein Städtchen.

Anna antwortete ihr nicht.

„Nein, nein; wie urteilst du über meine Lage, wie denkst du darüber; wie?“ frug sie.

„Ich vermute,“ wollte Darja Aleksandrowna beginnen, doch in diesem Augenblick sprengte Wasjenka Wjeslowskij, der die Stute in Galopp mit Rechtseinsatz gebracht hatte, schwerfällig in seinem kurzen Jaquet auf dem sämischen Leder des Damensattels auf und niedergeworfen, an ihnen vorüber.

„Sie geht, Anna Arkadjewna!“ schrie er.

Anna schaute ihn indessen nicht einmal an, und Darja Aleksandrowna schien es wiederum, daß es unpassend sei, in der Kalesche dieses langatmige Thema anzuschlagen, und sie brach daher in der Äußerung ihres Gedankens ab.

„Ich urteile gar nicht darüber,“ sagte sie, „ich habe dich stets geliebt, und wenn man liebt, liebt man den ganzen Menschen so, wie er ist, nicht so, wie man will, daß er sei.“

Anna versank in Nachdenken, indem sie die Augen vom Gesicht der Freundin wegwendete und blinzelte – eine neue Gewohnheit, die Dolly noch nicht an ihr gekannt hatte – sie wünschte die Bedeutung dieser Worte ganz zu erfassen. Nachdem sie sie augenscheinlich so, wie sie es wünschte, aufgefaßt hatte, schaute sie Dolly an.

„Wenn du Sünden haben solltest,“ sprach sie, „so möchten sie dir alle vergeben sein für dein Kommen und für diese Worte.“

Dolly sah, daß ihr die Thränen in die Augen getreten waren. Schweigend drückte sie Annas Hand.

„Also was sind das für Gebäude? – Wie viel es doch sind!“ Sie wiederholte nach einer Minute des Schweigens ihre Frage.

„Dies sind die Gebäude des Personals, der Fabriken, die Ställe,“ antwortete Anna. „Dort beginnt der Park; alles das war verwildert, aber Aleksey hat es wieder neu hergerichtet. Er liebt dieses Besitztum sehr und fühlt sich, was ich nimmermehr erwartet hätte, leidenschaftlich zur Landwirtschaft hingezogen. Er hat überhaupt eine so reich beanlagte Natur! Was er auch anfassen mag, alles vollführt er ausgezeichnet. Und er langweilt sich nicht nur nicht dabei, sondern beschäftigt sich mit leidenschaftlichem Eifer. So wie ich ihn kenne, ist er ein haushälterischer, vorzüglicher Hausherr geworden, sogar geizig in der Wirtschaft ist er; aber auch nur in der Wirtschaft! Da, wo es sich um Zehntausende handelt, rechnet er nicht,“ sprach sie mit jenem freudig schlauen Lächeln, mit welchem Frauen oft über geheime, ihnen allein bekannte Eigenschaften eines geliebten Mannes sprechen.

„Siehst du dieses große Gebäude da? Das ist das neue Krankenhaus. Ich glaube, daß es mehr als hunderttausend Rubel kosten wird. Und weißt du, woher das Geld gekommen ist? Die Bauern hatten ihn gebeten, ihnen die Wiesen billiger abzulassen, er aber hatte sie abschläglich beschieden, und ich machte ihm Vorwürfe wegen seines Geizes. Natürlich nicht deswegen nun, aber alles in allem erwägend, begann er da dieses Krankenhaus zu bauen, um zu zeigen, verstehst du, daß er nicht geizig sei. Wenn du willst, c'est une petitesse, aber ich liebe ihn dafür umsomehr. Doch du wirst sogleich das Wohnhaus erblicken. Es ist noch vom Großvater her und an der Außenseite in nichts verändert worden.“

„Wie schön,“ sagte Dolly, mit unwillkürlichem Erstaunen, auf ein schönes Haus mit Säulengängen blickend, welches aus dem bunten Grün der alten Bäume des Gartens hervortrat.

„Nicht wahr, das ist schön? Und vom Hause aus, von oben herab, ist die Aussicht wunderbar.“

Sie fuhren auf einen mit Schotter bedeckten und von Blumenbeeten geschmückten Hof, auf welchem zwei Arbeiter ein Blumenbosquet mit unbehauenen porösen Steinen garnierten, und hielten in der gedeckten Einfahrt.

„Ah, sie sind schon angekommen,“ sagte Anna, auf die Reitpferde blickend, die soeben von der Freitreppe hinweggeführt wurden. „Nicht wahr, dieses Pferd ist schön? Es ist eine Stute, mein Liebling. Führe es hierher und bringt Zucker. Wo ist der Graf?“ frug sie zwei herauseilende Paradelakaien. „Ah, dort ist er,“ sagte sie, den heraustretenden und ihr mit Wjeslowskij entgegenkommenden Wronskiy erblickend.

„Wo habt Ihr die Gräfin untergebracht?“ sagte Wronskiy auf Französisch, zu Anna gewendet, begrüßte dann nochmals, ohne eine Antwort abzuwarten, Darja Aleksandrowna und küßte ihr jetzt die Hand: „Ich denke, wir bringen unsern Besuch im großen Balkonzimmer unter? – “

„O nein; das ist zu abgelegen! Besser im Eckzimmer, wir können uns da mehr sehen. Gehen wir,“ sagte Anna, den ihr von einem Lakaien präsentierten Zucker dem Lieblingspferde reichend.

Et vous oubliez votre devoir,“ sagte sie zu Wjeslowskij, welcher gleichfalls auf der Freitreppe erschienen war.

Pardon, j'en ai tout plein les poches,“ antwortete dieser lächelnd, die Finger in die Westentasche steckend.

Mais vous venez trop tard,“ sagte sie, mit dem Taschentuch die Hand abwischend, welche ihr das Pferd feucht gemacht hatte, indem es den Zucker nahm.

Anna wandte sich zu Dolly:

„Du bleibst doch für längere Zeit hier? Nur auf einen Tag? Das ist unmöglich!“

„Ich habe so versprochen, die Kinder – “ sagte Dolly, mit einem Gefühl der Verlegenheit, daß sie den Reisesack aus der Kalesche nehmen mußte, sowie weil sie wußte, daß ihr Gesicht sehr mit Staub bedeckt sein müsse.

„Nein, Dolly, Herzchen; doch wir werden ja sehen. Komm, komm!“ Anna führte Dolly in ihr Zimmer.

Dieses Zimmer war nicht das Paradezimmer, welches Wronskiy vorgeschlagen hatte, sondern das, von welchem Anna sagte, Dolly möchte es entschuldigen. Jedoch auch dieses Gemach, für welches eine Entschuldigung erforderlich gewesen war, war voll von einem Luxus, in welchem Dolly niemals gelebt hatte, und der ihr die besten Salons des Auslandes in die Erinnerung zurückrief.

„Ach, Herzchen, wie bin ich glücklich!“ sprach Anna, für eine Minute in ihrer Amazone neben Dolly Platz nehmend, „erzähle mir doch von den Deinen. Stefan habe ich flüchtig gesehen, doch von Kindern kann er nicht reden. Was macht mein Liebling, die Tanja? Es ist ein großes Mädchen geworden, glaube ich?“

„Ja, sehr groß,“ antwortete Darja Aleksandrowna kurz, selbst verwundert, daß sie so kühl über ihre Kinder Bescheid gab. „Wir befinden uns recht wohl bei den Lewin,“ fügte sie hinzu.

„Ach, hätte ich gewußt,“ antwortete Anna, „daß du mich nicht verachtest. Ihr hättet alle zu uns kommen müssen. Stefan ist doch ein alter und intimer Freund Alekseys,“ fügte sie hinzu, und errötete plötzlich.

„Wir befinden uns so ganz wohl,“ versetzte Dolly verlegen.

„Da habe ich übrigens aus Freude Dummheiten gesagt. Noch einmal, Herzchen, wie freue ich mich über dich,“ sagte Anna, sie wiederum küssend, „aber du hast mir noch nicht gesagt, wie und was du über mich denkst, und ich will alles wissen. Und ich freue mich darüber, daß du mich durchschaust, wie ich bin. Es liegt mir nichts daran, vor allem, daß man denke, ich wollte in irgend etwas demonstrieren. Ich will nicht demonstrieren, sondern einfach nur leben; niemandem Übles thun, außer mir selbst. Dieses Recht habe ich, nicht wahr? Doch das ist eine langatmige Unterhaltung und wir werden schon noch über alles sprechen. Ich gehe jetzt, mich umzukleiden und werde dir ein Mädchen schicken.“

19

Allein geblieben, schaute sich Darja Aleksandrowna mit dem Blick der Hausfrau in dem Zimmer um. Alles was sie vor dem Haus vorfand, und durch dasselbe schreitend, sowie jetzt in ihrem Zimmer, erblickte, verursachte ihr den Eindruck des Überflusses und der Koketterie, jenes modernen, europäischen Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen, den sie aber noch nie in Rußland und auf dem Lande erblickt hatte. Alles war neu, von den modernen französischen Tapeten an bis zum Teppich, von welchem das ganze Zimmer bedeckt war. Das Bett war mit Sprungfedermatratze versehen, hatte ein besonderes Kopfkissen und Canevasüberzüge auf den kleinen Kissen. Das marmorne Waschbecken, die Toilette, die Tische, die Bronceuhr auf dem Kamin, die Gardinen und Portieren, alles das war teuer und neu.

Die kokette Kammerzofe, welche herbeikam, um ihre Dienste anzubieten, und eine Frisur und Robe trug, die noch moderner war, als diejenige Dollys, sah eben so neu und kostspielig aus, wie das ganze Zimmer.

 

Darja Aleksandrowna war ihre Höflichkeit, Sauberkeit und Dienstwilligkeit sehr angenehm, doch fühlte sie sich nicht behaglich in ihrer Gegenwart; sie schämte sich vor ihr wegen ihres, unglücklicherweise infolge eines Irrtums von ihr gepackten, ausgebesserten Corsets; sie schämte sich gerade jener Flicken und gestopften Stellen, auf die sie daheim so stolz war. Zu Hause war es ihr klar, daß zu sechs Leibchen vierundzwanzig Arschin Stoff gehörten, zu je fünfundsechzig Kopeken, was mehr als fünfzehn Rubel ausmachte, außer der Arbeit; und diese fünfzehn Rubel waren so herausgeschlagen. Vor der Zofe aber empfand sie weniger Scham, als vielmehr Unbehagen.

Darja Aleksandrowna verspürte große Erleichterung, als die ihr seit alters bekannte Annuschka in das Zimmer trat. Die kokette Zofe war von der Herrin verlangt worden und Annuschka blieb bei Darja Aleksandrowna zurück.

Annuschka war augenscheinlich sehr erfreut über die Ankunft der Dame und schwatzte ohne Unterlaß. Dolly bemerkte, daß sie gern ihre Meinung bezüglich der Lage ihrer Herrin ausgesprochen hätte, insbesondere bezüglich der Liebe und Ergebenheit des Grafen für Anna Arkadjewna, doch Dolly verhinderte sie geflissentlich daran, sobald sie davon zu sprechen begann.

„Ich bin mit Anna Arkadjewna herangewachsen, die Herrin geht mir über alles! Doch wir haben über nichts zu richten, und, wie es scheint, so zu lieben – “

„Gieb mir doch gefälligst Waschwasser, wenn es geht,“ unterbrach sie Darja Aleksandrowna.

„Zu Diensten. Bei uns sind zum Waschen allein zwei Frauen besonders angestellt und die Wäsche wird nur mit Maschine gereinigt. Der Graf führt alles ein. Das ist ein Mann – “

Dolly war froh, als Anna bei ihr eintrat, und mit ihrem Kommen das Geschwätz Annuschkas abschnitt.

Anna hatte sich in eine sehr einfache Battistrobe geworfen und Dolly betrachtete aufmerksam dieses einfache Kleid. Sie erkannte, daß dies zu bedeuten habe, auch solch eine Einfachheit sei nur für Summen zu erringen.

„Eine alte Bekannte,“ sagte Anna im Hinweis auf Annuschka.

Anna war jetzt nicht mehr in Verlegenheit; sie erschien vollständig ungezwungen und ruhig. Dolly erkannte, daß sich Anna jetzt wieder vollständig von dem Eindruck ermannt hatte, welchen ihre Ankunft bei dieser hervorgerufen, und daß sie jetzt wieder jenen hochfahrenden, gleichmütigen Ton angenommen habe, mit welchem gleichsam die Thür zu derjenigen Abteilung in ihr, in welcher sich ihre Gefühle und innersten Gedanken befanden, verschlossen war.

„Nun, was macht dein kleines Mädchen, Anna?“ frug Dolly.

„Die Any?“ – so nannte sie ihre Tochter Anna – „sie befindet sich wohl. Sie hat sich sehr entwickelt, willst du sie einmal sehen? Komm, ich zeige sie dir! Es hat da unendlich viel Sorgen gegeben,“ begann sie zu erzählen, „mit den Ammen. Wir hatten als Amme eine Italienerin, sie war gut, aber dumm! Wir wollten sie fortschicken, doch das Kind war so gewöhnt an sie, daß wir sie noch immer haben.“

„Und wie seid Ihr übereingekommen?“ wollte Dolly fragen, welchen Namen das Mädchen tragen sollte. Als sie indessen das finstergewordene Gesicht Annas bemerkte, veränderte sie den Sinn ihrer Frage. „Und wie seid Ihr übereingekommen? Habt Ihr es schon entwöhnt?“ —

Doch Anna hatte verstanden.

„Du wolltest nicht hiernach fragen? Du wolltest nach seinem Namen fragen? Nicht wahr? Dies eben quält Aleksey! Sie hat keinen Namen. Das heißt, sie ist – eine Karenina“ – sagte Anna, die Augen soweit zusammenkneifend, daß nur die zusammentreffenden Wimpern noch sichtbar waren. „Übrigens,“ fuhr sie mit plötzlich hellwerdendem Gesicht fort, „von dem allen können wir ja später noch reden. Komm, ich will sie dir zeigen! Elle est trèsgentile – und kriecht schon fort.“

In der Kinderstube überraschte Darja Alexandrowna der nämliche Luxus, welcher sie im ganzen Hause schon frappiert hatte, noch mehr. Hier gab es kleine Wagen, die aus England verschrieben waren, sowie Gerätschaften für das Gehenlernen; einen eigens konstruierten Diwan nach Art eines Billards zum Kriechen; Wiegen; eigenartige, neue Wannen. Alles war von englischer Arbeit, dauerhaft und gediegen und offenbar teuer. Das Zimmer war groß, sehr hoch und hell.

Als sie eintraten, saß das kleine Mädchen nur im Hemdchen in einem Stühlchen am Tisch und nahm Bouillon zu sich, mit welcher sie sich die ganze kleine Brust begossen hatte. Ein russisches Mädchen, welches in der Kinderstube diente, fütterte das Kind, und aß augenscheinlich selbst mit diesem zugleich dabei. Weder die Amme, noch die Kinderfrau war zugegen; sie befanden sich im Nebenzimmer und man vernahm von dorther ihr Gespräch in seltsamem Französisch, in welchem sie sich einander nur verständlich machen konnten.

Die Stimme Annas vernehmend, trat eine hohe Engländerin mit unangenehmem Gesicht und gemeinem Ausdruck, hastig ihre blonden Locken schüttelnd in die Thür, und begann sich sogleich zu entschuldigen, obwohl ihr Anna noch gar kein Vergehen beigemessen hatte. Auf jedes Wort Annas antwortete die Engländerin schnell mit einem mehrmaligen „yes, mylady!“

Das kleine Mädchen mit seinen schwarzen Brauen und Haaren, den roten Wangen, der festen straffen Haut und dem schönen Körperchen gefiel Darja Aleksandrowna ungeachtet des mürrischen Ausdrucks, mit welchem es auf das fremde Gesicht blickte, sehr; diese beneidete es sogar um seines gesunden Aussehens willen. Auch wie das kleine Mädchen kroch, gefiel ihr sehr; keines ihrer Kinder hatte so gekrochen. Dieses Kindchen war, nachdem man es auf einen Teppich gesetzt, und ein Kleid dahinter gestopft hatte, wunderbar lieblich. Wie ein Tierchen schaute es mit seinen großen glänzenden schwarzen Augen um sich, offenbar erfreut darüber, daß man sich freundlich mit ihm abgebe, stützte sich lächelnd, und die Füßchen seitwärts haltend, energisch auf die Hände und hob schnell das ganze Hinterteilchen empor, worauf es mit den Händchen nach vorwärts faßte.

Der allgemeine Charakter der Kinderstube jedoch, und namentlich die Engländerin, gefiel Darja Aleksandrowna durchaus nicht. Nur damit, daß in eine so illegitime Familie wie es diejenige Annas war, wohl kein gutes Mädchen gehen mochte, erklärte sich Darja Aleksandrowna selbst, daß Anna mit ihrer Menschenkenntnis für ihr Kind eine so unsympathische, gar nicht respektable Engländerin hatte nehmen können. Außerdem aber erkannte sie auch sogleich an einigen Worten, daß Anna, die Amme, die Kinderfrau und das Kind sich nicht zusammengelebt hatten, und der Besuch der Mutter ein ungewöhnliches Ereignis bildete. Anna wollte dem Kinde ein Spielzeug geben und konnte es nicht einmal finden.

Am wundersamsten aber von allem war, daß Anna auf die Frage, wie viel Zähne das Kind habe, irrte und von den zwei letzten Zähnen noch gar nichts wußte.

„Es ist mir bisweilen schwer ums Herz, daß ich hier förmlich überflüssig bin,“ sagte sie beim Verlassen der Kinderstube, und nahm ihre Schleppe auf, um an den bei der Thür stehenden Spielgeräten vorüberzukommen. „So war es nicht bei meinem ersten Manne.“

„Ich dachte, im Gegenteil,“ sagte Darja Aleksandrowna schüchtern.

„O nein; du weißt doch wohl, ich habe ihn gesehen – meinen Sergey,“ sprach Anna, die Augen zusammenkneifend, als schaue sie nach etwas weit Entferntem. „Doch davon können wir ja später sprechen. Du glaubst nicht, ich bin wie eine Hungernde, der man plötzlich ein üppiges Mahl vorgesetzt hat, ohne daß sie weiß, wonach sie langen soll. Das üppige Mahl – bist du und die mir bevorstehenden Gespräche mit dir, die ich mit niemandem sonst führen konnte; ich weiß nun nicht, an welches Thema ich zuerst gehen soll. Mais je ne vous ferai grâce de rien – ich muß mich ganz aussprechen. Ich muß dir ein Bild von der Gesellschaft machen, die du bei uns findest,“ begann sie, „und beginne mit den Damen. Da ist die Fürstin Barbara. Du kennst sie und ich kenne deine Meinung und diejenige Stefans über sie. Stefan sagt, der ganze Zweck ihres Daseins bestehe darin, ihren Vorzug vor ihrer Tante Katharina Pawlowna zu beweisen. Das ist ganz richtig, aber sie ist gut und ich bin ihr sehr dankbar. In Petersburg gab es für mich einen Moment, in welchem mir un chaperon notwendig war; da war sie bei mir; sie ist wahrhaftig gut, und hat mir meine Lage sehr erleichtert. Ich sehe wohl, daß du die ganze Schwierigkeit derselben nicht begreifst – wie sie dort, in Petersburg war,“ fügte sie hinzu. „Hier lebe ich nun vollkommen ruhig und glücklich; doch davon später, erst muß aufgezählt werden. Zweitens kommt Swijashskiy; er ist Präsident und ein sehr solider Mann, doch braucht er Aleksey in Manchem. Du verstehst jetzt, nachdem wir uns auf dem Lande niedergelassen haben, kann Aleksey mit seinen Verhältnissen großen Einfluß ausüben. Dann Tuschkjewitsch – du hast ihn ja gesehen; er war bei Betsy. Man hat ihn jetzt fallen lassen und er ist nun zu uns gekommen. Wie Aleksey sagt, ist er einer von denjenigen Menschen, die sehr angenehm sind, wenn man sie so nimmt, wie sie scheinen wollen – et puis, il est comme il faut – wie die Fürstin Barbara sagt. Ferner Wjeslowskij – den kennst du ja. – Er ist ein sehr lieber Mensch,“ sagte sie, mit schelmischem Lächeln die Lippen kräuselnd. „Was ist denn das für eine seltsame Geschichte mit Lewin gewesen? Wjeslowskij hat sie Aleksey erzählt und wir können sie gar nicht glauben. Il est très gentil et naif“ sagte sie, wieder mit dem nämlichen Lächeln. „Die Männer bedürfen der Zerstreuung und Aleksey braucht Menschen um sich; daher schätze ich diese ganze Gesellschaft. Bei uns muß es lebhaft und heiter zugehen, damit sich Aleksey nichts Neues wünscht. Dann wirst du auch den Direktor sehen. Er ist ein Deutscher, ein sehr hübscher Mann, der auch seine Sache versteht; Aleksey schätzt ihn sehr hoch. Ferner ist da der Arzt, ein noch junger Mann; nicht gerade ein vollkommener Nihilist, aber, weißt du, ‚er ißt mit dem Messer‘ – sonst ist er ein sehr guter Arzt. Endlich ist noch der Architekt da. – Une petite cour.“ —

20

„Hier bringe ich Euch Dolly, Fürstin, Ihr wolltet sie so gern sehen,“ sagte Anna, mit Darja Aleksandrowna die große Steinterrasse betretend, auf welcher im Schatten, hinter dem Stickrahmen die Fürstin Barbara saß, die einen Sessel für den Grafen Aleksey Kyrillowitsch stickte. „Sie sagt zwar, daß sie bis zu Mittag nichts zu sich nehmen mag, befehlt aber immerhin das Frühstück, während ich mittlerweile gehe, Aleksey zu suchen und sie alle mit hierher bringe.“

Die Fürstin Barbara empfing Dolly mit einer gewissen Gönnermiene und begann sogleich, ihr auseinanderzusetzen, daß sie deshalb bei Anna wohne, weil sie diese mehr liebe, als es deren Schwester, Katharina Pawlowna, gethan, die Anna erzogen hätte, und daß sie es jetzt, nachdem alle Anna verlassen hätten, als ihre Pflicht betrachtet habe, ihr in diesem Übergangsstadium, dem allerschwierigsten, Beistand zu leisten.

„Ihr Mann wird ihr den Konsens zur Ehescheidung geben und dann gehe ich wieder in meine Einsamkeit, jetzt aber kann ich nützlich sein und werde ich meine Pflicht erfüllen, so schwer es mir auch werden mag – ich handle nicht so, wie andere. Und wie lieb bist du, wie schön hast du gehandelt, daß du gekommen bist! Sie leben vollkommen, wie die besten Ehegatten und Gott wird über sie richten, nicht wir dürfen es! Birjusowskij und die Avenijewa, Nikandroff, Wasiljeff und die Mamonowa, und Lisa Neptunowa, da hat doch auch kein Mensch etwas gesagt? Und doch endeten die Fälle so, daß sie sich alle heirateten. Dann aber, c'est un intérieur si joli, si comme il faut. Tout-à-fait à l'anglaise. On se réunit le matin au breakfast et puis on se sépare. Jeder thut, was er will, bis zur Mittagszeit. Die Mittagstafel ist um sieben Uhr. Stefan hat sehr wohl daran gethan, dich zu schicken. Er müßte sich an sie halten. Du weißt ja, er vermag durch seine Mutter und seine Brüder alles, und dann thun sie ja viel Gutes. Hat er dir noch nicht von seinem Krankenhaus erzählt? Ce sera admirable – und alles aus Paris.“

Ihr Gespräch wurde durch Anna unterbrochen, welche die Gesellschaft der Herren beim Billardspiel gefunden hatte und nun zusammen mit ihnen zur Terrasse zurückkehrte. Bis zur Mittagstafel war noch lange Zeit, das Wetter sehr schön und so wurden verschiedenartige Hilfsmittel, die noch übrigen zwei Stunden auszufüllen in Vorschlag gebracht. Der Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben, gab es sehr viele in Wosdwishenskoje, und es waren alle nicht die, wie sie in Pokrowskoje angewendet wurden.

Une partie de Lawn tennis,“ schlug mit seinem hübschen Lächeln Wjeslowskij vor, „ich spiele wieder mit Euch, Anna Arkadjewna!“

„Ach nein; es ist zu heiß dazu; besser, wir gehen in den Park und fahren auf dem Kahn, um Darja Aleksandrowna die Ufer zu zeigen,“ schlug Wronskiy vor.

 

„Ich bin mit allem einverstanden,“ meinte Swijashskiy.

„Ich denke, daß es Dolly am angenehmsten sein wird, sich erst ein wenig zu ergehen; nicht so? Und dann erst Kahn zu fahren,“ sagte Anna.

So wurde denn auch bestimmt. Wjeslowskij und Tuschkjewitsch begaben sich ins Bad und versprachen, dort das Boot bereit machen und warten zu wollen.

Sie gingen in zwei Paaren auf dem Wege; Anna mit Swijashskiy und Dolly mit Wronskiy. Dolly war ein wenig verwirrt und ängstlich in dieser ihr vollständig neuen Umgebung, in der sie sich befand. Begeistert und voll Theorien, rechtfertigte sie nicht nur, nein, billigte sie sogar Annas Verfahren. Wie im allgemeinen nicht selten untadelhaft moralische Frauen ermüdet von der Einförmigkeit des sittenstrengen Lebens thun, so entschuldigte sie aus ihrer Ferne nicht nur die verbrecherische Liebe, sie beneidete dieselbe sogar.

Außerdem liebte sie Anna auch von Herzen, aber gleichwohl war es ihr in der Wirklichkeit, nachdem sie diese inmitten aller dieser ihr fremden Leute gesehen hatte, in dem für Darja Aleksandrowna neuen, sogenanntem guten Tone, unbehaglich zu Mut. Besonders unangenehm war es ihr, die Fürstin Barbara zu sehen, welche ihnen alles verzieh für die Annehmlichkeiten, die sie dafür genoß.

Im allgemeinen also billigte Dolly, hingerissen, das Vergehen Annas, aber denjenigen sehen zu müssen, für welchen jenes Verbrechen begangen worden, war ihr doch unangenehm. Wronskiy hatte ihr überhaupt nie gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz, sah aber in ihm nichts von alledem, worauf er hätte stolz sein können – es wäre denn sein Reichtum gewesen. —

Gegen ihren Willen jedoch imponierte er ihr hier in seinem Hause noch mehr als früher, und sie konnte sich vor ihm nicht ungezwungen benehmen. Empfand sie doch ihm gegenüber ein Gefühl, das ähnlich dem war, welches sie über ihr Leibchen vor der Zofe empfunden hatte. So wie ihr in deren Gegenwart nicht Scham, sondern Unmut wegen der Ausbesserungen aufgestiegen war, so empfand sie auch vor ihm fortwährend nicht etwas wie Scham, sondern wie Unmut über das eigene Ich.

Dolly fühlte sich verlegen und suchte ein Thema zur Unterhaltung. Wiewohl sie urteilte, daß ihm in seinem Hochmut ein Lob seines Hauses und Parkes unangenehm sein müsse, sagte sie ihm dennoch, keinen andern Gegenstand der Unterhaltung findend, daß ihr sein Haus sehr gefallen habe.

„Ja; es ist ein sehr schönes Gebäude und nach gutem alten Stil,“ sagte er.

„Mir hat auch der Hof vor der Freitreppe sehr gefallen. War der schon so?“

„O nein!“ antwortete er, und sein Gesicht schimmerte vor Genugthuung. „Wenn Ihr diesen Hof noch jetzt im Frühling gesehen hättet!“

Und er begann nun anfangs zurückhaltend, dann aber sich freier und freier hingebend, ihre Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Einzelheiten der Verschönerung in Haus und Garten hinzulenken. Es war ersichtlich, daß Wronskiy nach dem Aufwand so vieler Mühe zur Verbesserung und Verschönerung seines Landsitzes das Bedürfnis empfand, sich desselben vor einer fremden Person zu rühmen, und sich über das Lob Darja Aleksandrownas von ganzem Herzen freute.

„Wenn Ihr noch das Krankenhaus besichtigen wollt und nicht ermüdet seid, so ist dies nicht zu weit entfernt. Kommt,“ sagte er, ihr ins Gesicht blickend, um sich zu überzeugen, daß sie sich ja nicht etwa langweile.

„Kommst du mit, Anna?“ wandte sie sich an diese.

„Wir werden mit kommen; nicht wahr?“ wandte sie sich an Swijashskiy.

Mais il ne faut pas laisser le pauvre Weslowskij et Tuschkjewitsch se morfondre là dans le bateau. Man muß es ihnen sagen lassen.“

„Das ist ein Denkmal, welches er sich hier aufrichtet,“ sprach Anna, sich zu Dolly wendend, mit dem nämlichen, wissenden und verschlagenen Lächeln, mit welchem sie früher über das Krankenhaus gesprochen hatte.

„O, ein Kapitalwerk,“ rief Swijashskiy, fügte aber sogleich, um nicht als Jasager Wronskiys zu erscheinen, leichthin eine kritische Bemerkung hinzu. „Ich wundere mich nur, Graf,“ sprach er, „daß Ihr, der Ihr in sanitärer Beziehung so viel für das Volk thut, Euch den Schulen gegenüber so gleichgültig verhaltet.“

C'est devenu tellement commun les écoles,“ sagte Wronskiy, „Ihr seht doch, daß ich nicht davon, sondern eben hiervon eingenommen bin. – Hierhin geht es nach dem Krankenhaus,“ wandte er sich dann zu Darja Aleksandrowna, nach einem Seitenausgang aus der Allee zeigend.

Die Damen öffneten die Sonnenschirme und betraten den Seitenweg. Nachdem sie einige Windungen durchschritten und zu einem Pförtchen hinausgetreten waren, erblickte Darja Aleksandrowna vor sich auf einem erhöhten Terrain ein großes, rotes, fast vollendetes Gebäude von interessantem Aussehen. Das noch nicht gestrichene, eiserne Dach strahlte blendend in der heißen Sonne. Neben dem fertigen Gebäude war ein zweites, vom Wald umgeben, angelegt; Arbeiter auf den Gerüsten legten Ziegel, übergossen die Lagen aus den Eimern und gleichten sie mit Richtmaßen.

„Wie schnell bei Euch die Arbeit vorwärts geht!“ sagte Swijashskiy, „als ich das letzte Mal hier war, war das Dach noch nicht da.“

„Zum Herbste soll alles fertig sein, und innen ist fast alles bereits ausgeputzt,“ sagte Anna.

„Und was ist das Neues dort?“

„Es ist ein Gebäude für den Arzt und die Apotheke,“ antwortete Wronskiy, den in kurzem Überrock auf ihn zukommenden Architekten erblickend; und ging, sich vor den Damen entschuldigend, diesem entgegen.

Die Kalkgrube umgehend, aus welcher die Arbeiter den Kalk holten, blieb er beim Architekten stehen und begann eifrig zu sprechen.

„Das Fronton liegt immer noch zu niedrig,“ antwortete er Anna, welche gefragt hatte, wovon die Rede sei.

„Ich hatte gesagt, man müsse das Fundament erhöhen,“ sagte Anna.

„Ja, natürlich, das wäre besser, Anna Arkadjewna,“ sagte der Architekt, „es ist außer Acht gelassen worden.“

„Ja, ich interessiere mich sehr hierfür,“ antwortete Anna Swijashskiy, welcher sein Erstaunen über ihre Kenntnisse in der Architektur ausgedrückt hatte. „Das neue Gebäude muß dem Krankenhaus entsprechend sein, ist aber erst später geplant und ohne Riß begonnen worden.“

Nachdem die Rücksprache mit dem Architekten beendet war, gesellte sich Wronskiy wieder zu den Damen und führte dieselben in das Innere des Krankenhauses.

Obwohl man außen noch die Karniese fertig machte und in der tieferen Etage tünchte, war in der oberen schon alles fertig. Auf der breiten, gußeisernen Treppe den Treppenabsatz überschreitend, betrat man das erste große Zimmer. Die Wände waren mit Stuck, der sich wie Marmor ausnahm, geziert, die großen Fenster waren schon eingesetzt, nur der Parkettboden war noch nicht fertig und die Tischler, welche ein emporgenommenes Quadrat hobelten, ließen die Arbeit liegen, um, ihre schmalen Stirnbänder abnehmend, welche ihnen das Haar hielten, die Herrschaft zu begrüßen.

„Das ist das Empfangszimmer,“ sagte Wronskiy, „es wird hier nur ein Tisch und ein Schrank hereinkommen, weiter nichts.“

„Hierher, hier wollen wir durchgehen! Komm nicht an das Fenster,“ sagte Anna, probierend, ob die Farbe schon getrocknet sei. „Aleksey, die Farbe ist schon trocken,“ fügte sie hinzu.

Aus dem Empfangszimmer trat man in den Korridor. Hier zeigte Wronskiy eine nach neuem System konstruierte Ventilation, dann die Marmorwannen und Betten mit eigenartigen Federn. Hierauf zeigte er die Krankensäle, einen nach dem anderen, die Vorratskammer, ein Zimmer für die Wäsche, dann einen Ofen neuester Konstruktion, eine Art Rollen, welche kein Geräusch machen sollten und die solche Gegenstände, die gebraucht wurden beförderten, und noch vieles andere. Swijashskiy lobte alles, als ein Mann, welcher alle neuen Vervollkommnungen kannte. Dolly war geradezu erstaunt über diese Dinge, welche sie bis jetzt noch nicht gesehen hatte, und frug im Begehren, alles zu erfassen, eingehend nach allem, was Wronskiy augenscheinlich Vergnügen machte.