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Anna Karenina, 2. Band

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27

Nach der Lektion seitens des Lehrers folgte eine Stunde beim Vater. Bis dieser erschien, hatte sich Sergey an den Tisch gesetzt, mit seinem Messerchen spielend, und zu grübeln begonnen. Zu der Zahl der Lieblingsbeschäftigungen Sergeys hatte das Aufsuchen seiner Mutter während des Spazierganges derselben gehört. Er glaubte nicht an den Tod überhaupt, und im besonderen nicht an den ihren, soviel ihm auch Lydia Iwanowna davon gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und so suchte er sie, auch nachdem man ihm mitgeteilt hatte, daß sie tot sei, noch immer während der Zeit seiner Ausgänge. Jede vollgebaute, graziöse Dame mit dunklem Haar war seine Mutter. Bei dem Anblick einer solchen Dame regte sich in seiner Seele ein Gefühl der Zärtlichkeit, ein Gefühl, daß er tief Atem holte und die Thränen ihm in die Augen traten, und so wartete er denn, daß sie wieder zu ihm kommen und ihren Schleier aufheben möchte. Ihr Gesicht würde wieder sichtbar werden, sie würde wieder lächeln, ihn umarmen, er würde ihren Duft wahrnehmen, die Zartheit ihrer Hand fühlen und glückselig weinen, wie er schon einmal des Abends ihr zu Füßen gefallen war und sie ihn gestreichelt hatte; er aber hatte gelacht und sie in die weiße beringte Hand gebissen. Später, als er dann zufällig von der Kinderfrau erfuhr, daß die Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärten, sie sei für ihn tot, weil sie nicht gut gewesen – was er durchaus nicht zu glauben vermochte, da sie ihn ja geliebt hatte – so forschte er noch immer nach ihr und wartete auf sie.

Heute nun im Sommergarten war eine Dame in einem lila Schleier gewesen, welcher er mit stockendem Herzen in der Erwartung, sie wäre es, mit den Blicken gefolgt war, während sie auf dem Wege zu ihnen herankam. Die Dame aber hatte sie nicht erreicht, sondern war abgebogen.

Heute nun fühlte Sergey stärker als je die Regungen dieser Liebe zu ihr und völlig sich selbst vergessend in der Erwartung des Vaters, zerschnitt er den ganzen Rand des Tisches mit dem Messerchen, mit blitzenden Augen vor sich hinblickend und ihrer gedenkend.

„Papa kommt,“ riß ihn Wasiliy Lukitsch aus seiner Träumerei. Sergey sprang auf, eilte auf seinen Vater zu, küßte ihm die Hand, und blickte ihn aufmerksam an, nach Kennzeichen der Freude über den Empfang des Alexander Newskiy-Ordens an ihm suchend.

„Hast du einen hübschen Spaziergang gemacht?“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich in seinen Lehnstuhl setzend, ein Exemplar des Alten Testamentes heranziehend und es aufschlagend. Ungeachtet dessen, daß Aleksey Aleksandrowitsch Sergey öfter gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte sicher kennen, hatte er sich doch öfter mit Hilfe des Buches verbessern müssen, und Sergey hatte dies bemerkt.

„Ja, es war sehr lustig, Papa,“ sagte er, sich seitwärts auf den Stuhl setzend und ihn schaukelnd – was ihm verboten war.

„Ich habe Nadenka gesehen,“ Nadenka war die bei Lydia Iwanowna zur Erziehung befindliche Nichte, „sie hat mir erzählt, daß man Euch einen neuen Stern verliehen hätte. Freut Ihr Euch auch?“

„Zuerst – schaukle nicht, bitte,“ sagte Aleksey Aleksandrowitsch, „zweitens eine Belohnung ist nicht kostbar, nur die Arbeit dafür. Ich möchte du verständest dies. Wenn du arbeitest und lernst, zum Zwecke, Früchte dafür zu ernten, so wird dir die Arbeit schwer erscheinen; wenn du aber arbeitest“ – sprach Aleksey Aleksandrowitsch, indem er sich vergegenwärtigte, wie er sich nur durch sein Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Morgens, die in dem Unterschreiben von hundertundachtzehn Papieren bestanden, aufrecht erhalten hatte – „indem du die Arbeit selbst liebst, so wirst du für dich selbst darin eine Belohnung finden.“

Die von Zärtlichkeit und Lust glänzenden Augen Sergeys wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war der nämliche, ihm längst bekannte Ton, mit dem ihm sein Vater stets begegnete, und dem Sergey schon sich anzubequemen gelernt hatte.

Der Vater sprach stets mit ihm – so fühlte Sergey – als wende er sich an einen für ihn nur in der Vorstellung vorhandenen Knaben, einen Knaben, wie sie nur in Büchern vorkommen, und der dem Sergey vollständig unähnlich war; und Sergey bemühte sich nun stets, sich vor dem Vater zu stellen, als sei er ein ebensolcher Bücherknabe.

„Du verstehst das, hoffe ich?“ sagte dieser.

„Ja, Papa,“ antwortete Sergey, sich stellend, als sei er ein solcher Phantasieknabe.

Die Lektion bestand in dem Auswendiglernen einiger Verse aus dem Evangelium, und der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Verse des Evangeliums hatte Sergey ordentlich gelernt, aber im selben Augenblick, als er sie hersagte, schaute er auf des Vaters Stirnbein, welches sich so scharf an der Schläfe bog, daß er den Faden verlor und das Ende des einen Verses in einem einzelnen Worte mit dem Anfang des anderen zusammenbrachte. Aleksey Aleksandrowitsch war es klar, daß Sergey nicht verstanden hatte, was er hersagte, und dies reizte ihn.

Er wurde finster und begann wieder das Nämliche zu erklären, was Sergey schon viele Male gehört hatte und nie wieder vergessen konnte, weil er es schon allzu klar erkannt hatte, in der nämlichen Weise, wie dies, daß „plötzlich“ ein Umstand der Art und Weise sei.

Sergey schaute mit erschrecktem Blick auf den Vater und dachte nur an das Eine: Will der Vater wiederholen lassen oder nicht, was er gesagt hatte, wie es doch bisweilen der Fall war? Dieser Gedanke erschreckte Sergey so sehr, daß er nun gar nichts mehr begriff. Der Vater ließ ihn indessen nicht wiederholen und ging zu der Lektion aus dem Alten Testament über. Sergey recitierte die Ereignisse selbst gut, doch als er Fragen darüber beantworten sollte, was einige der Ereignisse bedeuten sollten, wußte er nichts, obwohl er schon wegen dieser Lektion bestraft worden war. Die Stelle, bei welcher er nichts mehr zu antworten wußte und in Unruhe geriet, in den Tisch schnitt oder mit dem Stuhle schaukelte, war die, wo er von den vorsündflutlichen Patriarchen zu sprechen hatte.

Er kannte keinen von ihnen, außer Henoch, der lebendig in den Himmel aufgenommen worden war. Früher hatte er die Namen gewußt, sie jetzt aber ganz und gar vergessen, besonders deshalb, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war, und sich an dessen Aufnahme bei Lebzeiten in den Himmel eine ganze, lange Reihe von Ideen in seinem Kopfe knüpfte, der er sich auch jetzt hingab, mit den Augen auf der Uhrkette des Vaters und an einem halb zugeknöpften Knopfe der Weste desselben haften bleibend.

An den Tod, von welchem ihm so oft gesprochen wurde, glaubte Sergey nicht so ganz. Er glaubte nicht daran, daß die von ihm geliebten Leute sterben könnten, und insbesondere nicht, daß er selbst sterben würde. Dies war für ihn vollständig unmöglich und unbegreiflich. Doch man sagte ihm, daß alle Menschen sterben müßten; er frug nun selbst die Leute, denen er glaubte, und diese bestätigten es; die Kinderfrau hatte es ihm auch gesagt, wenn schon ungern. Aber Henoch war doch nicht gestorben, und so starben vielleicht nicht alle Menschen.

„Weshalb soll denn nicht jeder sich vor Gott ebenso verdient machen können und lebend in den Himmel aufgenommen werden?“ dachte Sergey. Die Bösen, das heißt, die Menschen, welche Sergey nicht liebte, die konnten sterben, doch die Guten konnten sämtlich sein wie Henoch.

„Nun, welche sind die Patriarchen?“

„Henoch, Henoch“ —

„Aber das hast du ja schon gesagt. Das ist schlecht, Sergey, sehr schlecht. Wenn du dir nicht Mühe giebst, zu erkennen, was das Nötigste ist von allem für den Christen“ – sagte der Vater aufstehend – „was kann dich denn dann noch interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir und auch Peter Ignatzitsch“ – dies war der Hauptlehrer – „ist unzufrieden mit dir. Ich muß dich bestrafen.“

Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergey unzufrieden, und in der That hatte dieser sehr schlecht gelernt. Damit ließ sich aber durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war viel fähiger, als diejenigen Knaben, welche der Pädagog Sergey als Muster hinstellte. Vom Gesichtspunkte des Vaters aus wollte er nicht lernen, was jene lernten. In Wirklichkeit aber – konnte er es nicht lernen. – Er konnte es deshalb nicht, weil sein Geist Bedürfnisse hatte, welche für ihn viel bindender waren, als die, welche ihm der Vater und der Erzieher auseinandersetzten. Diese Bedürfnisse bestanden in dem Drang zu widersprechen, und er stritt kühnlich mit seinen Erziehern. Sergey war neun Jahre alt, noch ein Kind, aber seine Seele kannte er und sie war ihm teuer, er hütete sie, wie das Augenlid das Auge schützt, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in seine Seele hinein!

Seine Erzieher beklagten sich über ihn, daß er nicht lernen wolle, aber seine Seele war erfüllt von dem Durst nach Erkenntnis. Und er lernte bei Kapitonitsch, bei der Kinderfrau, bei Nadenka, bei Wasiliy Lukitsch – aber nicht bei seinen Lehrern. – Das Wasser, welches ihm der Vater und der Erzieher auf die Räder gaben, war schon längst versiegt und arbeitete an einem anderen Platze.

Der Vater bestrafte Sergey, indem er ihn nicht zu Nadenka, der Nichte Lydia Iwanownas ließ, aber diese Bestrafung erschien Sergey sehr gelegen zu kommen. Wasiliy Lukitsch war bei guter Laune und wies ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging nun über dieser Arbeit und den Gedanken daran, wie sich eine Windmühle so bauen ließe, daß man sich selbst auf ihr drehen könne, indem man sie mit den Armen bei den Flügeln faßte, oder sich daran festband – und sich drehen ließ. —

An die Mutter dachte er den ganzen Abend nicht, doch als er sich ins Bett legte, fiel sie ihm plötzlich wieder ein und er betete in seinen Worten, daß seine Mutter morgen, zu seinem Geburtstage, nicht mehr länger für ihn verborgen bleiben und zu ihm kommen möchte.

 

„Wasiliy Lukitsch, wißt Ihr, worum ich noch außer dem Sonstigen gebetet habe?“

„Damit Ihr besser lernt?“

„Nein.“

„Vom Spielzeug?“

„Nein. Ihr ratet es nicht. Es ist ausgezeichnet, aber ein Geheimnis! Wenn es sich erfüllt, sage ich es Euch. Habt Ihr es noch nicht heraus?“

„Nein. Ich rate es nicht. Sagt mirs doch,“ sprach Wasiliy Lukitsch, und lächelte, was bei ihm selten der Fall war. „Doch, legt Euch nur, ich will das Licht auslöschen.“

„Mir ist ohne Licht das, was ich sehe und wovon ich betete, nur noch sichtbarer. Da – beinahe hätte ich jetzt mein Geheimnis verraten!“ – sagte Sergey unter heiterem Lachen.

Nachdem man das Licht fortgebracht hatte, hörte und fühlte Sergey seine Mutter. Sie stand über ihm und koste ihn mit liebevollem Blick, doch da erschienen die Windmühlen, sein Messerchen, alles ging durcheinander, und er schlief ein.

28

In Petersburg angekommen, waren Wronskiy und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronskiy gesondert, in der unteren Etage, Anna oben, mit ihrem Kinde, der Amme und der Zofe, in einem großen Appartement, welches aus vier Zimmern bestand.

Am ersten Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy zu seinem Bruder; woselbst er seine in Geschäften von Moskau angekommene Mutter traf. Die Mutter und Schwägerin begegneten ihm, wie sonst, sie frugen über seine Reise ins Ausland, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber mit keinem Worte sein Verhältnis zu Anna. Sein Bruder aber kam am anderen Tage früh zu ihm und frug ihn selbst nach ihr und Aleksey Wronskiy erzählte ihm offen, daß er seinen Bund mit der Karenina gleich einer Ehe betrachte; daß er hoffe, die Scheidung zu erlangen und sie dann heiraten werde und daß er sie bis dahin ebenso als sein Weib achte, wie man jedes andere Weib achte, und bat ihn, dies der Mutter und seiner Gemahlin so mitzuteilen.

„Wenn die Welt es nicht billigt, so ist mir das gleichgültig,“ sagte Wronskiy, „aber wenn meine Verwandten mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen wollen, so müssen sie in den nämlichen Beziehungen auch mit meiner Frau stehen!“

Der ältere Bruder, welcher die Urteile des jüngeren stets geachtet hatte, wußte nicht recht, ob dies richtig oder falsch sei, so lange die Welt selbst die Frage entschieden haben würde. Er seinerseits hatte gar nichts gegen die Sache und ging zusammen mit Aleksey zu Anna.

Wronskiy sagte in Gegenwart seines Bruders, wie in der aller anderen zu dieser „Ihr“, und verkehrte mit Anna wie mit einer nahen Bekannten, aber doch herrschte die stillschweigende Voraussetzung dabei, daß der Bruder ihre Beziehungen kannte und es wurde davon gesprochen, daß Anna nach dem Gute Wronskiys gehe.

Trotz aller seiner Welterfahrung war Wronskiy nach dem Eintritt in das neue Verhältnis, in welchem er sich befand, in einem furchtbaren Irrtum. Wohl hatte es ihm begreiflich erscheinen müssen, daß die Welt für ihn und Anna verschlossen war, aber jetzt entstanden in seinem Kopfe gewisse unklare Vorstellungen, daß es nur in der älteren Zeit so gewesen sei, und jetzt bei dem schnellen Fortschreiten der Zeit – er war jetzt, ohne daß er selbst es merkte, ein Anhänger jeder Art von Fortschritt geworden – der Blick der Gesellschaft sich verändert habe, und daß auch die Frage, ob sie in der Gesellschaft wieder angenommen werden würden, noch nicht entschieden sei. „Natürlich,“ dachte er, „die Hofkreise werden Anna nicht aufnehmen, aber die ihr nahestehenden Leute können und müssen die Sache auffassen, wie es sich gehört.“

Man kann einige Stunden sitzen, die Füße übereinandergeschlagen, und in ein und derselben Stellung, wenn man weiß, daß uns nichts hindert, diese Lage zu verändern; wenn aber ein Mensch weiß, daß er so mit unterschlagenen Beinen sitzen muß, dann befällt ihn der Krampf, die Füße werden zittern und sich nach dem Orte hinziehen, an den man sie bringen möchte.

Dies erfuhr auch Wronskiy an sich bezüglich seiner Stellung zur Welt. Obwohl er auf dem Grund seiner Seele wußte, daß dieselbe für sie beide verschlossen sei, so versuchte er es doch, ob sich die Welt jetzt nicht ändere und sie doch aufnehmen werde. Aber sehr bald wurde er inne, obwohl die Welt für ihn persönlich offen stand, sie doch für Anna verschlossen blieb. Wie bei dem Spiele Katze und Maus, senkten sich die Hände, die vor ihm erhoben wurden, sofort vor Anna.

Eine der ersten Damen der Petersburger Gesellschaft, welche Wronskiy wiedersah, war seine Cousine Betsy.

„Endlich!“ begegnete ihm diese voll Freude. „Und Anna? Wie freue ich mich. Wo seid Ihr abgestiegen? Ich kann mir denken, wie nach Eurer reizenden Reise unser Petersburg Euch schrecklich sein muß; ich kann mir Euren Honigmond in Rom vorstellen. Was wird mit der Scheidung? Habt Ihr alles besorgt?“

Wronskiy bemerkte, daß der Enthusiasmus Betsys sich verringerte, als sie erfahren hatte, daß eine Scheidung noch nicht erfolgt sei.

„Auf mich wird man den Stein werfen, ich weiß es,“ sagte sie, „aber ich werde zu Anna kommen; ja, ich komme sicherlich. Ihr bleibt wohl nur kurze Zeit hier?“

Und in der That, noch am nämlichen Tage kam sie zu Anna gefahren, doch war ihr Ton schon nicht ganz so der nämliche wie früher. Sie war offenbar stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft schätze. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, von den Stadtneuigkeiten sprechend, und sagte beim Abschied: „Ihr habt mir nicht gesagt, wenn die Ehescheidung stattfindet? Gesetzt auch, daß ich meinerseits der Sache durch die Finger sehe, so werden doch die anderen Euch kalt entgegenkommen, so lange Ihr nicht geheiratet habt. Und das geht ja jetzt so leicht. Ça se fait. Ihr reist also Freitag ab? Schade, daß wir uns nicht noch einmal wiedersehen können.“

Am Tone Betsys konnte Wronskiy erkennen, was er von der Welt zu erwarten hatte, er machte aber gleichwohl noch einen Versuch in seiner Familie. Auf seine Mutter hoffte er dabei freilich nicht. Er wußte, daß diese, von Anna in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt gewesen, ihr gegenüber jetzt unerbittlich hart war, weil sie an der Vernichtung der Carriere ihres Sohnes Schuld trug. Dieser aber setzte große Hoffnungen auf Warja, die Frau seines Bruders. Ihm schien, daß Warja den Stein nicht mit werfen, sondern in ihrer Einfachheit und Entschlossenheit zu Anna kommen und diese auch empfangen würde.

Am Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy denn auch zu ihr, und teilte ihr – er traf sie allein an – offen seinen Wunsch mit.

„Du weißt, Aleksander,“ sprach sie, ihn ruhig zu Ende hörend, „wie ich dich liebe, und wie bereit ich bin, alles für dich zu thun; doch ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich weder dir, noch Anna Arkadjewna nützlich sein kann,“ sagte sie, den Namen Anna Arkadjewna mit eigentümlicher Betonung aussprechend. „Denke nicht, daß ich etwa einen Tadel äußern will, vielleicht hätte ich an ihrer Stelle ganz das Nämliche gethan. Ich will und kann nicht auf Einzelheiten eingehen,“ fuhr sie fort, zaghaft in sein finsteres Gesicht schauend. „Doch muß man das Ding beim Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie auch empfange, und damit in der Gesellschaft rehabilitiere, aber verstehe wohl, ich kann das ja nicht thun! Meine Töchter wachsen heran und ich muß in der Welt für meinen Mann leben. Nun komme ich zu Anna Arkadjewna; diese wird ihrerseits begreifen, daß ich sie nicht zu mir einladen kann, oder es dann wenigstens so thun müßte, daß sie nicht Leuten begegnet, die andere Anschauungen haben. Das aber wird sie verletzen! Ich kann ihr nicht aufhelfen.“

„Ich kann aber nicht glauben, daß sie tiefer gefallen sein sollte, als Hunderte von Frauen, die Ihr empfangt,“ unterbrach sie Wronskiy noch düsterer, und erhob sich schweigend in der Erkenntnis, daß das Urteil seiner Schwägerin unabänderlich sei.

„Aleksey! Sei nur nicht bös! Beherzige, bitte, daß ich nicht schuld bin,“ begann Warja wieder, mit schüchternem Lächeln auf ihn blickend.

„Ich zürne dir nicht,“ sagte er, noch ebenso finster, „aber mir ist das doppelt schmerzlich. Mir ist noch schmerzlich, daß dieser Umstand unsere Freundschaft zerstört, oder wenn nicht zerstört, so doch schwächt. Du begreifst, daß dies für mich ja auch nicht anders sein kann.“

Mit diesen Worten verließ er sie.

Wronskiy hatte erkannt, daß weitere Versuche vergeblich sein würden, und er diese wenigen Tage in Petersburg so zu verleben hätte, wie in einer fremden Stadt, indem er alle Beziehungen zu der früheren Gesellschaft mied, um sich nicht Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen zu müssen, die ihm doch so peinlich waren.

Eine der hauptsächlichsten Unannehmlichkeiten seiner Lage in Petersburg war die, daß Aleksey Aleksandrowitsch und sein Name, wie es schien, überall zu finden war. Man konnte von nichts zu sprechen anfangen, ohne daß das Gespräch auf Aleksey Aleksandrowitsch kam, man konnte nirgendshin fahren, ohne ihm zu begegnen. So schien es wenigstens Wronskiy, indem er sich wie ein Mensch mit einem schlimmen Finger vorkam, der, als wäre es absichtlich, gerade mit diesem schlimmen Finger an alles anstößt.

Der Aufenthalt in Petersburg erschien Wronskiy auch noch dadurch um so schwerer, als er während dieser ganzen Zeit in Anna gleichsam ein neues, ihm unverständliches Geschöpf erblickte. Bald war sie wie verliebt in ihn, bald wurde sie kalt, reizbar und unergründlich. Sie litt eine Qual und verbarg Etwas vor ihm; bemerkte aber wie es schien, die Kränkungen nicht, die ihm das Leben vergifteten, und für sie mit ihrem feinen Wahrnehmungsvermögen, doch nur noch qualvoller sein mußten.

29

Unter den Zwecken, welche der Reise nach Rußland zu Grunde lagen, war für Anna auch der des Wiedersehens mit ihrem Sohne. Seit dem Tage, seit welchem sie Italien verlassen, hatte dieser Gedanke nicht aufgehört, sie in Aufregung zu erhalten, und je näher sie Petersburg kam, desto mehr und immer mehr erschien vor ihr das Freudige und Bedeutungsvolle dieses Wiedersehens. Sie legte sich gar nicht die Frage vor, wie sie dieses Wiedersehen bewerkstelligen wollte. Es erschien ihr ganz natürlich und einfach, daß sie ihren Sohn wiedersah, wenn sie mit demselben in einer und derselben Stadt sich befand; allein nach ihrer Ankunft in Petersburg, zeigte sich plötzlich ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft klar vor ihr, und sie erkannte, daß es schwierig sei, das Wiedersehen zu ermöglichen.

Bereits zwei Tage war sie in Petersburg. Der Gedanke an den Sohn verließ sie nicht eine Minute, und noch hatte sie ihn nicht gesehen. Geradenwegs in das Haus zu fahren, wo sie mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu, sie fühlte es, besaß sie nicht das Recht. Man konnte sie vielleicht gar nicht einlassen und sie beleidigen. Zu schreiben und sich mit ihrem Manne in Verbindung zu setzen, war ihr schon dem Gedanken nach peinlich. Sie vermochte nur dann ruhig zu bleiben, wenn sie ihres Mannes gar nicht gedachte. Den Sohn auf dem Spaziergange zu sehen, nachdem sie sich erkundigt hatte, wohin und wann er ausgehe, war ihr nicht genug; sie hatte sich so sehr auf dieses Wiedersehen vorbereitet, sie hatte ihm soviel zu sagen, es verlangte sie so sehr, ihn in ihre Arme zu schließen, ihn zu küssen. Die alte Amme Sergeys konnte ihr behilflich sein und sie benachrichtigen. Aber diese befand sich nicht mehr im Hause Aleksey Aleksandrowitschs. In solcher Ungewißheit und unter Erkundigungen nach der Amme waren die zwei Tage vergangen.

Nachdem Anna von den nahen Beziehungen Aleksey Aleksandrowitschs zur Gräfin Lydia Iwanowna vernommen hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, dieser einen Brief zu schreiben, der ihr viel Überwindung kostete, und in welchem sie mit Vorbedacht sagte, daß der Entscheid darüber, ob sie ihren Sohn sehen könne, von der Großmut ihres Mannes abhängen müsse. Sie wußte, daß wenn man den Brief ihrem Manne wies, dieser ihr, seine Rolle des Großmütigen weiterspielend, keinen abschlägigen Bescheid geben würde.

Der Bote, welcher den Brief hingetragen hatte, überbrachte ihr die so harte und unerwartete Nachricht, daß es keine Antwort gebe.

Noch nie hatte sie sich so erniedrigt gefühlt, als in dieser Minute, als sie, den Boten kommen lassend, von diesem die einfache Mitteilung vernahm, daß er gewartet habe, und man ihm endlich gesagt hätte, es würde keine Antwort erteilt werden. Anna fühlte sich gedemütigt, verletzt, aber sie erkannte, daß von ihrem Gesichtspunkt aus die Gräfin Lydia Iwanowna recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, als er ein vereinsamter war. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronskiy teilen. Sie wußte, daß für ihn, obwohl er doch die Hauptursache ihres Unglücks bildete, die Frage ihres Wiedersehens mit ihrem Kinde von höchst geringer Bedeutung sei. Sie wußte, daß er niemals fähig sein werde, ihre Leiden in deren ganzer Tiefe zu verstehen, sie wußte, daß sie ihn wegen eines kühlen Tones bei Erwähnung der Sache würde hassen müssen. Dies aber fürchtete sie über alles in der Welt, und so verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.

 

Den ganzen Tag über zu Haus verweilend, hatte sie die Mittel erwogen, zu einem Wiedersehen mit ihrem Sohne, und war bei dem Entschluß stehen geblieben, an ihren Mann zu schreiben. Sie setzte den Brief noch auf, als ihr das Schreiben Lydia Iwanownas gebracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie beruhigt und besänftigt, das Schreiben aber, und alles das, was sie zwischen den Zeilen desselben las, versetzte sie in solche Erbitterung, erschien ihr, gegenüber ihrer leidenschaftlichen natürlichen Zärtlichkeit für ihr Kind so aufreizend in seiner Gehässigkeit, daß sie gegen andere gereizt wurde und aufhörte, sich selbst anzuklagen.

„Diese Kälte – diese Gefühlsheuchelei!“ sagte sie zu sich selbst. „Ihnen war es ein Bedürfnis, mich zu beleidigen und das Kind zu foltern, und ich soll mich vor ihnen demütigen! Um keinen Preis! Sie ist schlechter, als ich! Ich lüge wenigstens nicht!“ —

Und nun entschloß sie sich, morgen, am Geburtstage Sergeys, geradenwegs in das Haus Aleksey Aleksandrowitschs zu fahren, die Leute zu bestechen und List anzuwenden, um – koste es was es wolle – den Sohn wiederzusehen und den ungeheuerlichen Trug, mit welchem man das unglückliche Kind umgeben hatte, zu zerstreuen.

Sie fuhr nach einem Spielwarenladen, kaufte Spielzeug und überlegte sich ihren Operationsplan. Frühmorgens, um acht Uhr, wenn Aleksey Aleksandrowitsch, wahrscheinlich, noch nicht aufgestanden war, wollte sie sich hinbegeben; sie wollte Geld nehmen, es dem Portier und dem Diener in die Hände drücken, damit man sie einlasse, und wollte, ohne den Schleier zu lüften, sagen, sie käme von einem Paten Sergeys, um diesem zu gratulieren, und ihr sei aufgetragen, Spielzeug auf das Bett des Kindes zu legen. Sie bereitete sich nicht auf die Worte vor, welche sie zum Sohne sprechen wollte – soviel sie auch darüber nachdachte, sie vermochte nichts auszudenken.

Am andern Tage um acht Uhr morgens, stieg Anna allein aus der Mietkutsche und läutete an der großen Einfahrt ihres ehemaligen Hauses.

„Sieh nach, was man will. Wer die Dame ist,“ sagte Kapitonitsch, noch nicht angekleidet, im Überrock und Kaloschen, indem er durch das Fenster nach der Dame blickte, die von einem Schleier bedeckt, dicht vor der Thür stand. Der Gehilfe des Portiers, ein Anna nicht bekannter, junger Bursch, hatte dieser nicht sobald die Thür geöffnet, als sie schon in dieselbe hineintrat, ein Dreirubelpapier aus dem Muff nahm und es ihm in die Hand drückte.

„Sergey – Sergey Aleksandrowitsch,“ sprach sie und wollte voranschreiten. Der Gehilfe des Portiers besah das Rubelpapier, hielt sie aber an der zweiten Glasthür fest.

„Was wollt Ihr?“ frug er.

Sie hörte weder seine Worte, noch antwortete sie etwas.

Als Kapitonitsch die Verwirrung der Unbekannten bemerkte, kam er selbst zu ihr, ließ sie in die Thür herein und frug, was ihr gefällig wäre.

„Vom Fürsten Skorodumoff komme ich und will zu Sergey Aleksandrowitsch,“ sprach sie.

„Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden,“ antwortete der Portier, sie aufmerksam betrachtend.

Anna hatte durchaus nicht erwartet, daß das vollständig unverändert gebliebene Äußere des Vorzimmers dieses Hauses, in welchem sie neun Jahre gelebt hatte, so mächtig auf sie einwirken würde. Eine nach der anderen, erhoben sich frohe und trübe Erinnerungen in ihrer Seele und für einen Augenblick hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.

„Wollt Ihr gefälligst warten?“ sagte Kapitonitsch, ihr den Pelz abnehmend. Nachdem er den Pelz abgenommen hatte, blickte er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte schweigend eine tiefe Verbeugung. „Bitte gefälligst, gnädigste Frau,“ sagte er zu ihr.

Sie wollte etwas erwidern, doch versagte ihr die Stimme, so daß sie keinen Ton hervorzubringen vermochte. Wie schuldbewußt bittend, blickte sie den Alten an, und stieg dann mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Ganz vorgebeugt und mit den Kaloschen an den Stufen hängen bleibend, lief Kapitonitsch ihr nach im Bemühen, ihr zuvorzukommen.

„Der Lehrer ist dort, er ist vielleicht nicht angekleidet. Ich muß erst melden.“

Anna ging weiter die ihr bekannte Treppe hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte gesprochen hatte.

„Hierher, bitte links. Entschuldigt, daß alles noch unsauber ist. Der junge Herr ist jetzt im früheren Diwanzimmer,“ sagte der Portier keuchend. „Gestattet, geduldet Euch ein wenig, Excellenz, ich will nachsehen,“ sagte er, öffnete, vor sie tretend, die hohe Thür und verschwand in derselben. Anna blieb stehen und wartete.

„Er ist soeben erwacht,“ sagte der Portier, wieder aus der Thür kommend.

Im nämlichen Augenblick, als der Portier dies sagte, hörte Anna den Klang eines kindlichen Gähnens. Schon an der Stimme dieses Gähnens erkannte sie den Sohn und sie sah ihn wie lebendig vor sich.

„Laß mich hinein, laß mich, laß mich!“ sprach sie und trat durch die hohe Thür. Rechts von derselben stand das Bett, und im Bett saß der Knabe, welcher sich aufgerichtet hatte, im halbgelösten Hemdchen, den kleinen Körper vorgebeugt, sich streckend und ausgähnend.

Im Augenblick, als seine Lippen sich schlossen, kräuselten sie sich zu einem glücklichen traumhaften Lächeln, und mit diesem Lächeln legte er sich langsam und zufrieden wieder zurück.

„Mein Sergey!“ flüsterte sie, unhörbar an ihn herantretend.

Während ihrer Trennung von ihm, und unter dem Einfluß der Liebe, welche sie in dieser ganzen letzten Zeit empfunden, hatte sie sich ihn als vierjährigen Knaben, so wie sie ihn am liebsten gehabt hatte, vorgestellt.

Jetzt war er schon nicht einmal mehr so, wie sie ihn verlassen hatte. Er hatte sich noch weiter entfernt vom Alter des Vierjährigen, war noch mehr gewachsen und magerer geworden. – Was war das? – Wie hager erschien sein Gesicht, wie kurz war sein Haar? Wie lang seine Hände! Wie hatte er sich verändert seit jener Zeit, da sie ihn verlassen! Aber er war es doch, mit dieser Form seines Kopfes, seinen Lippen, dem geschmeidigen Hals und den breiten kleinen Schultern.

„Sergey!“ wiederholte sie dicht über dem Ohr des Kindes.

Dieser erhob sich wiederum auf den Ellbogen, wandte den Kopf verwirrt nach beiden Seiten, als suche er etwas und öffnete die Augen. Still und fragend blickte Sergey einige Sekunden auf die unbeweglich vor ihm stehende Mutter, dann lächelte er plötzlich, glückselig, schloß wiederum die noch schlaftrunkenen Augen, und warf sich, nicht mehr zurück, sondern ihr entgegen, in ihre Arme.

„Sergey! Geliebter Knabe!“ sprach sie mit erstickter Stimme, mit beiden Armen den blühenden Körper umfangend.

„Mama!“ sagte er, sich regend in ihren Armen, um mit wechselnden Stellen seines Leibes ihre Arme berühren zu können.

Schlaftrunken lächelnd, noch immer mit geschlossenen Augen, faßte er mit den runden Ärmchen von der Bettlehne nach ihren Schultern, und warf sich auf sie, jenen lieblichen Schlafduft, jene Wärme von sich ausströmend, die nur bei Kindern da ist, und begann dann, sein Gesicht an ihrem Hals und ihren Schultern zu reiben.

„Ich wußte es,“ sagte er, die Augen öffnend. „Heute ist mein Geburtstag. Ich wußte es, daß du kommen würdest. Sogleich werde ich aufstehen.“

Mit diesen Worten kam er zu sich.

Voll Sehnsucht betrachtete ihn Anna; sie sah, wie er gewachsen war und sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Sie erkannte und erkannte auch nicht seine nackten Füße, die jetzt so groß geworden waren und aus der Bettdecke hervorschauten, sie erkannte diese hager gewordenen Wangen, diese verschnittenen, kurzen Haarlocken im Nacken, auf welchen sie ihn so oft geküßt hatte. Sie befühlte alles dies und vermochte nichts zu sprechen; die Thränen erstickten sie.