Suzanne

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7

Langsam erhob er sich vom Steg, löste sich aus seinem Traumbild und begann in Richtung des Dorfes zu schlendern, wo er den Bäcker vermutete. Nachdem er den mit Panzerplatten betonierten Zufahrtsweg zum Campingplatz hinter sich gelassen hatte und der Wald sich lichtete, um einem großen Rübenacker Platz zu machen, konnte er aus der Ferne bereits einen Kirchturm entdecken. Er schätzte, dass dieser ungefähr zwei bis drei Kilometer entfernt sein müsste. Die Wolkendecke zeigte nun bereits einige hellere Stellen, durch die es vereinzelte Sonnenstrahlen herunter schafften, wie Vorboten auf besseres Wetter. Erleichtert beschleunigte er seine Schritte, da er sich ausrechnete, wohl gut eine halbe bis Dreiviertelstunde zum Dorf unterwegs zu sein und dieselbe Zeit nochmals zurück. Er würde ziemlich genau dann am Campingplatz wieder angekommen sein, wenn die Familie sich verschlafen aus den Betten erhob.

So schritt er pfeifend aus, immer der Straße entlang, während links und rechts eintöniges Ackerland das Landschaftsbild ausmachte, nur in der Ferne durch vereinzelte kleine Waldgruppen aufgelockert. Nach wenigen Minuten kreuzte eine Bahnlinie die Straße, an der ein kleines graues fensterloses Wartehäuschen die wenigen Fahrgäste, die zu erwarten gewesen wären, vor der Unbill des Wetters schützen konnte. Doch es war jetzt leer, nicht einmal ein Fahrplan wies auf die Verkehrszeiten eines Zuges hin, noch war ein Stationsschild zu erkennen. Ein Mast, an dem wohl eines gehangen haben musste, wies wenigstens noch die verrostete Halterung des Schildes auf. Auf dem Boden lagen Glasscherben zerschlagener Bierflaschen, einige leere Papiertüten und zerbeulte Getränkedosen. Gras wucherte zwischen den Schienen, so dass er sich fragte, ob in der letzten Zeit hier überhaupt ein Zug verkehrt haben mochte. Er stellte sich mit dem Rücken an das Wartehäuschen, um den morbiden Geist der Station in sich aufzunehmen.

Die Station passte irgendwie zu der öden Gegend und auch zu seiner Grundstimmung der letzten Tage. Er stellte sich vor, er stünde hier in dem Wartehäuschen, einen Zug erwartend, der niemals kommen würde. Wind und Regen wären ihm die einzige Begleitung und schließlich würde er über die Gleise davongehen. Endlose Gleise ins nirgendwo.

Nachdem er sich ausreichend umgesehen hatte, setzte er seinen Weg fort, nur um wenige hundert Meter später an die Hauptstraße zu kommen. Allerdings verlief diese weder in der einen noch der anderen Richtung auf das Dorf zu. Da die Straßenkreuzung in einer Talmulde lag und sich ihm der Kirchturm nun dem Blick entzog, konnte er sich nicht recht entscheiden, wohin er sich wenden sollte. Unschlüssig schaute er mal in die eine, dann die andere Richtung. Sollte er lieber wieder zurückgehen? Das wäre ihm wie eine Niederlage vorgekommen. Niederlagen hatte er in letzter Zeit genug erlitten. Er dachte an die Gleise. Er würde sich dem Nichts überlassen. Er würde jetzt eine Münze werfen und dem Zufall die Wahl der Richtung überlassen. Zahl für links, Kopf für rechts.

Die Münze sprang genau in dem Moment aus seiner Hand, als die Wolkendecke aufriss und einen kräftigen Sonnenstrahl hindurch ließ, der das gelbe Metall hell aufblitzen ließ. Dann kullerte sie auf die Straße, drehte sich mehrmals im Kreis, als könne sie sich nicht entscheiden, in welche Richtung sie fallen wolle und kippte dann schlingernd um, mit dem Kopf nach oben. Kopf stand für rechts. Er bückte sich, um die Münze wieder aufzuheben. Sie war direkt neben der ausgetrockneten Leiche eines vor längerer Zeit platt gefahrenen Frosches liegen geblieben. Angeekelt kickte er die Münze in den Chauseegraben und wandte sich in die andere Richtung, nach links.

Die Straße zog sich endlos hin, machte mehrere Biegungen, wand sich durch ein kleines Waldstück, passierte einige weitere Felder, doch von dem nahe gelegenen Dorf war nichts mehr zu sehen. Die Sonne hatte es geschafft, die restlichen Wolkenfelder mehr und mehr zur Seite zu drücken und begann bereits gnadenlose Hitze zu verströmen, die sich mit dem Dampf der regennassen Felder vermischte. Er begann heftig in seiner Regenkleidung zu schwitzen, die er schließlich aufknöpfte, ohne dass sich dadurch eine wesentliche Abkühlung einstellte. Langsam ärgerte er sich, dass er diesen Weg überhaupt auf sich genommen hatte.

Er war nun gut eine Stunde unterwegs, durstig und zunehmend übelster Laune. Bislang war ihm nicht ein Fahrzeug entgegengekommen, das er hätte vielleicht anhalten können. Ratlos blickte er zurück. Er beschloss, es noch bis zur nächsten Kurve zu versuchen. Ohne weitere Orientierung, wo er war, würde er dann eben doch zurückgehen.

Am Ende des kleinen Wäldchens führte ein Forstweg in das Waldstück hinein. Dort stand ein grauer Lieferwagen, dessen Motor vor sich hin knatterte. Erleichtert atmete er auf und beschleunigte seinen Schritt auf den Wagen zu. Der Wagen war leer, eine Kofferraumtür nur leicht angelehnt. Der Fahrer konnte also nicht weit sein. Er beschloss zu warten.

Wenige Sekunden später hörte er aus dem Waldstück das Rascheln herankommender Schritte. Ein mittelgroßer Mann in blauem Handwerkerdrillich kam aus dem Unterholz herangestapft.

»Guten Tag!«, begrüßte er den unrasiert und leicht ungepflegt wirkenden Mann. Der zuckte zusammen und blieb plötzlich stehen. Er stierte Roy feindselig an, ohne weiter zu gehen. Der Mann war Roy auf Anhieb unheimlich.

»Entschuldigen Sie, ich habe mich wohl verlaufen«, versuchte er die Situation zu entspannen. Der Mann machte einen kurzen Schritt auf Roy zu, blieb dann jedoch abrupt stehen, drehte den Kopf kurz in Richtung Wald, aus dem er gekommen war, als überlege er etwas, brummte etwas in sich hinein, das wie ein Fluch klang und spuckte auf den Boden, bevor er zum Wagen ging. Vielleicht war er betrunken, überlegte Roy alarmiert. Wer weiß, ob es noch zu einer Schlägerei kommen würde. Roy selbst war zwar nicht gerade schmächtig. Er war etwas größer als der Typ vor ihm. Doch Roy war eher der gemächliche Typ, der gutmütige Bär, der einer Auseinandersetzung gerne aus dem Weg ging. Er straffte sich, versuchte aber nochmals, irgendeine Information aus dem Mann heraus zu bekommen. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist?«

Es folgte jedoch keine Antwort. Stattdessen rammte der Fremde, der an Roy vorbeigehen musste, wenn er zu seinem Wagen wollte, ihn grob mit der Schulter an. Roy ging erschrocken einen Schritt zurück und bekam es mit der Angst zu tun. An einer Schlägerei war ihm absolut nicht gelegen. Der Fremde stieg jedoch mit einem »Verpiss dich« in seinen Wagen, setzte rückwärts aus dem Waldweg, wendete und fuhr in die Richtung los, aus der Roy gekommen war.

Da er jedoch offenbar vergessen hatte die Kofferraumtür des Kombis zu schließen, klappte diese auf, als er Gas gab. Etwas fiel aus dem Wagen und blieb auf der Straße liegen. Der Fahrer schien dies nicht zu bemerken, sondern fuhr mit quietschenden Reifen davon. Wie betäubt stand Roy noch immer dort, wohin er ausgewichen war und atmete erleichtert aus, froh, dass es noch einmal glimpflich ausgegangen war. Er schüttelte verärgert den Kopf. Langsam trottete er zur Straße zurück. Der Wagen war nicht mehr zu sehen, doch der Gegenstand, der hinausgefallen war, lag noch immer dort. Es war ein Schuh! Eine zierliche Sandale mit weißen Lederriemchen und Strassbesatz. Offenbar ein Frauenschuh. Das Fußbett wies Spuren auf, dass er getragen worden war, auch das Leder zeigte einige Falten, die auf vorherigen Gebrauch hinwiesen. Schon wollte er den Schuh einfach ins Gebüsch werfen, doch irgendetwas hielt ihn zurück, und er bremste die Bewegung, da er schon ausgeholt hatte und betrachtete den Schuh nochmals.

Wie passte der Schuh zu diesem merkwürdigen Fremden, aus dessen Wagen er gefallen war? Er beschloss, ihn mitzunehmen und steckte ihn kurzerhand in seinen Regenmantel, wo er knapp aus der Tasche ragte. Da der Fremde in die Richtung gefahren war, aus der er selbst gekommen war, überlegte Roy, konnte er wohl vorher nicht von dort gekommen sein, denn dann wäre er ihm auf der Straße begegnet. Also musste er aus der anderen Richtung gekommen sein. Deshalb würde dort wohl irgendeine Siedlung liegen. Er setzte also nachdenklich seinen Weg fort und richtig, kaum machte die Straße einen Bogen, sah er auch bereits den Kirchturm, den er in der Ferne vorher erblickt hatte und ein Ortsschild. »Klein Quentin«. Weit ausholend schritt er erleichtert darauf zu.

Als er über drei Stunden später mit einer großen Tüte voll duftender Brötchen im Ferienhaus wieder ankam, fand er es leer vor. Auf dem unabgeräumten Küchentisch, auf dem die Spuren eines Frühstücks noch überdeutlich zu sehen waren, lag ein Zettel, den seine Frau geschrieben hatte.

»Da du ja offensichtlich keinerlei Interesse hast, mit deiner Familie einen entspannten Urlaub zu verbringen, sind wir schon ohne dich losgefahren!!!!«

Seufzend legte er die Brötchentüte ab. Dann fiel es ihm wieder ein. Sie wollten ja bei guten Wetter eine Fahrradtour machen! Er ging nochmals aus dem Haus, um nach den Fahrrädern zu schauen. Tatsächlich stand nur noch seines dort. Warum hatten sie ihn nicht einfach auf dem Handy angerufen.

Er fasste in die Manteltasche, wo er jedoch lediglich auf den gefundenen Schuh stieß. Er nahm ihn heraus. Was sollte er jetzt nur damit machen? Er konnte ihn kaum in der Wohnung abstellen. Also steckte er ihn vorerst wieder zurück. Sein Handy hatte er offenbar gar nicht mitgenommen. Er entdeckte es neben seinem PC, wo er es abends abgelegt hatte.

Seufzend ließ er sich am Küchentisch nieder. Es war nun knapp zehn Uhr. Sollte er versuchen, seine Frau telefonisch zu erreichen? Er versprach sich nicht viel davon. Er starrte sein Mobiltelefon an, als könne es ihm die Antwort geben. Das Display zeigte keine neuen Nachrichten.

8

Immer wieder schaute er vergeblich auf das Display seines Handys. Es war bereits früher Nachmittag ohne einen Anruf von ihr. Keine neuen Nachrichten auf dem Display. Langsam begann er daran zu zweifeln, dass sie noch anrufen würde. Unentschlossen schaute er aufs Meer, das zunehmend kleine Schaumkronen aufwies, weil urplötzlich ein scharfer Wind begonnen hatte, vom Meer her zu wehen. Obwohl die Luft nicht kalt war, begann er doch zu frösteln. Er beschloss, nicht länger zu warten. Vielleicht würde er morgen einfach einen Ausflug machen. Er sollte sich nicht so abhängig machen von dieser Frau. Er kannte sie ja schließlich gar nicht. Doch der Gedanke, versetzt worden zu sein, erzeugte einen Stich in seinem Herzen. Er war traurig und auch ein bisschen wütend. Wütend auf sie, weil sie ihr Versprechen nicht einzuhalten schien und auf sich selbst, weil es ihm so viel ausmachte. Er seufzte, dann fasste er den Entschluss, nach Calvi zu fahren, um sich dort nach einem Mietwagen umzusehen.Calvi lag nicht weit von hier. Mit der altertümlichen Bahnlinie, auf die die Korsen aus einem unerfindlichen Grund offenbar sehr stolz sind, obwohl eigentlich nur Touristen damit transportiert werden, war es nur eine knappe halbe Stunde. Nachdem er im Hotel die nötigen Unterlagen und eine windfeste Jacke mitgenommen hatte, machte er sich zu dem kleinen Bahnhof in Algajola auf, der ein wenig außerhalb des Zentrums liegt. Ein rosafarbenes Bahnhofshäuschen mit einer kleinen Touristeninformation, die nie besetzt zu sein schien und ein Bouleplatz davor, der offenbar nie bespielt wurde. Die eingleisige Bahn ließ nur einen Zug alle zwei bis drei Stunden in eine Richtung zu. Wenn er Glück hatte, dann brauchte er nicht mehr als eine Stunde zu warten. Auf dem Bahnsteig hatten sich einige Touristen angesammelt, meistens Engländer, die sich fröhlich unterhielten. Ein Blick auf den Fahrplan zeigte ihm an, dass er mehr als Glück hatte. Der nächste Zug nach Calvi sollte in etwa zehn Minuten eintreffen. Dieser wurde auch wenig später durch die Glocke des Bahnübergangs angekündigt. Die mit Diesel betriebene antike Lock stampfte lautstark heran und hielt quietschend am Bahnhof. Wenige Menschen stiegen aus, doch ein Blick in die zwei Waggons zeigte, dass sich die Reisenden im Abteil bereits im Stehen zusammendrängten. Um diese Zeit fuhr alles von den Stränden zurück nach Calvi. Mit Mühe konnte er noch einen Stehplatz ganz vorne am Eingang bekommen, der mehr als unbequem war, abgesehen von der Hitze, die im Abteil herrschte. Einen Schaffner gab es auch, der sich noch zusätzlich durch die Menschenmassen quetschte, um seine vier Euro für die Fahrkarte zu kassieren. Der Dieselmotor heulte dumpf auf und der Zug ächzte langsam los. Levi schaute aus dem Fenster. Es war nur mehr ein Mann auf dem Bahnsteig zurückgeblieben, der nun dem abfahrenden Zug nachschaute. Ihm lief eine Gänsehaut über den Nacken, als er in ihm den Rüpel von heute Morgen zu erkennen glaubte, der sich nun umdrehte und den Bahnhof verließ. Ob er ihm gefolgt war? Es war nun das dritte Mal, dass er diesen Mann zu Gesicht bekam. Vielleicht wurde er von einer Bande ausgespäht, um in seiner Abwesenheit das Hotelzimmer auszurauben? Unmöglich schien dies nicht. Noch wahrscheinlicher wäre dies in Italien gewesen, aber in Korsika? Er konnte eh nichts dagegen unternehmen und so beschloss er, es bei der Hoffnung zu belassen, dass er sich irrte. An der Haltestelle kurz vor der Endstation leerte sich der Zug endlich, so dass er für die wenigen Minuten bis zum Bahnhof in Calvi sogar einen Sitzplatz ergattern konnte. Die Bucht von Calvi lag ruhig, trotz des frischen Windes, denn die trutzige Zitadelle, einst gegen Piratenüberfälle auf einem massiven Fels gebaut, bot ausreichend Schutz gegen das Wetter. Die Sonne hatte ihren Höchststand längst überschritten und die Schatten wurden länger. So traten die Mauern der Zitadelle plastischer hervor und zeigten, dass sie zu allen Zeiten von möglichen Ankömmlingen vom Meer nicht leicht zu überwinden gewesen waren. Soweit er wusste, war dies auch niemals gelungen. Die Innenstadt von Calvi wird von kleinen Geschäften und Cafés dominiert, die zum Bummeln und Kaufen einladen. Dennoch strahlen sie diese korsische gelassene Lebensart aus, die zumindest für die Meeranlieger typisch ist. Levi liebte es, durch die Straßen zu schlendern und die Auslagen zu studieren oder sich in dem einen oder anderen Café niederzulassen, seinen Espresso zu trinken und den Gesprächen der Einheimischen zu lauschen, auch wenn er meist kein Wort verstand. Die Bewohner Calvis hatten derbe Gesichter, die streng schauten, jedoch schnell zu einem schelmischen Lächeln wechseln konnten, wenn sie sich gegenseitig neckten. Heute strebte er der kleinen Autovermietung am Rande der Innenstadt zu, da er befürchtete, sie geschlossen vorzufinden. Auch hier hatte er Glück. Sie war noch geöffnet und so mietete er sich ohne große Umstände einen kleinen PKW, den er vorerst auf dem Parkplatz stehen ließ, da er auf jeden Fall die Gelegenheit nutzen wollte, die Zitadelle noch zu besteigen. Der Weg führte den Berg hinan, am Ehrenopfer für die Kriegstoten des letzten Weltkrieges vorbei, einem monumentalen Säulendenkmal mit einer engelsgleichen Frauenstatue davor. Unwillkürlich musste er an Suzanne denken, die er jetzt einige Minuten aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Ein Blick auf sein Mobiltelefon zeigte weiterhin keine Nachricht von ihr. Er schlenderte weiter, durch den mächtigen Eingangsbogen der Zitadelle aus sauber behauenen Granitsteinen und entlang der Wehrmauer bis zu einem Aussichtsplatz, von dem man einen guten Rundumblick sowohl auf die teilweise noch schneebedeckten Berge des Inlandes als auch die Bucht von Calvi hat. Der Wind wehte hier scharf über den Wehrhügel, so dass er es vorzog, sich dem Zentrum der Zitadelle zuzuwenden, einer Kathedrale mit gelblichem bröckelnden Putz und ihrem Vorplatz. Neben ihrer Ostseite ließ er sich in einem windgeschützten kleinen Café mit einigen wenigen gusseisernen Stühlen nieder. Kaum hatte er sich gesetzt, da meldete sich sein Handy. Er riss es förmlich aus seiner Tasche. »Hallo?« »Levi?« »Bist du das Suzanne?« »Ja, Levi, tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde, verzeih mir...« »Nein, nein, kein Problem, ich freu mich, dass du anrufst. Ich habe schon gedacht, du hättest mich vergessen!«, beeilte er sich zu sagen. »Oh, es tut mir so leid, aber ich konnte nicht früher! Bitte verzeih mir!«, flüsterte sie. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, stutzte er, denn ihre Stimme klang ihm irgendwie weinerlich. Es entstand eine kleine Pause. Er hörte, dass sie schluckte. »Oh, nein, mach dir keine Sorgen, es ist … es ist nichts. Nichts von Bedeutung. Nur eine kleine Familienangelegenheit.«Sein Gefühl sagte ihm, dass sie irgendetwas verheimlichen wollte, das ihr unangenehm war, doch er hielt sich zurück, sie auszufragen. »Können wir uns sehen?« »Tut mir leid, heute geht es leider nicht mehr.« »Wie wäre es morgen?« »Das wäre schön!« »Magst du mit mir zum Strand fahren?« »Fahren?«, fragte sie nun neugierig. »Ja, ich bin gerade in Calvi und habe mir ein Auto gemietet. Wir könnten eine kleine Tour über die Insel machen!« »Oh, ja, das wäre superb, ganz ausgezeichnet. Lass uns weit wegfahren, Cheri. Ja?« »So groß ist Korsika nicht. Wie weit soll es denn sein?«, lachte er. »Na, ich meine nicht in der Nähe von Algajola. Ich komme hier so selten raus.« »Ja klar, gerne. Ich freue mich. Ich hole dich morgen früh ab«, schlug er vor. »Morgen hole ich dich bei deiner Wohnung ab.« »Nein, nein!«, rief sie erschrocken. »Bitte komm niemals allein zu meiner Wohnung. Das wäre unschicklich. Wir treffen uns...«, sie dachte offenbar nach,» am Kreisverkehr, der vor den Bahngleisen, gleich am Eingang der Stadt ist, weißt du?« Warum das?, fragte er sich, doch antwortete er, »Wie du willst. Wenn wir zum Strand gehen wollen, solltest du dir Badekleidung mitbringen.« »Ich brauch nicht viel!«, lachte sie. Das war ihm ganz recht, grinste Levi in sich hinein. »Sagen wir um 10 Uhr morgen?« »Ja, 10 Uhr ist gut. Ich werde da sein!«, versprach sie. »Suzanne«, flüsterte er ins Telefon. »ich freue mich so, ich bin so glücklich, dass du dich gemeldet hast.« »Was denkst du? Wenn ich etwas verspreche, dann tu ich das auch!«, protestierte sie. »Ich wollte dir nur sagen...« »Ja?« »Ich, ich glaube, ich habe mich total in dich verliebt!« Sie sagte eine Weile nichts. »Oh Levi, bitte sag das nicht. Bitte lass alles so zwischen uns, wie es jetzt ist. Hörst du Levi?«Ihre Stimme hatte etwas Flehendes angenommen. Er schluckte enttäuscht. Doch er wollte sie auch nicht überfordern. Er wollte nicht, dass sie noch einen Rückzieher machte. »Tut mir leid, aber...« »Du Guter, du Lieber..«, flüsterte sie leise und ihre Stimme hörte sich tränenerstickt an. »Okay, dann bis morgen?«, versuchte er die Situation zu retten. »Ja, bis morgen. Ich küsse dich!«, flüsterte sie heiser. Dann wurde die Leitung getrennt. Er saß noch eine ganze Weile wie vor den Kopf geschlagen da, unfähig sein Gefühlschaos zu ordnen. So merkte er auch erst nach einer geraumen Weile, dass eine Kellnerin ihn wohl bereits mehrfach nach seinen Wünschen gefragt haben musste. Sie wirkte jedenfalls ungeduldig, als ihre Stimme endlich zu ihm durchdrang. »Nichts, danke, ich möchte nichts!«, murmelte er und erhobt sich von seinem Stuhl unter dem verärgerten Kopfschütteln der jungen Dame. Auf dem Rückweg grübelte er weiter über das Telefonat nach. In was für eine merkwürdige Situation war er da hineingeraten? Wenn er an Suzanne dachte, ihre jugendliche, weibliche Ausstrahlung, ihr hübsches Gesicht mit den ausdruckvollen Augen, den vollen Lippen, ihre grazilen Bewegungen, dann war er sich sicher, dass er sie liebte. Er liebte sie so sehr, dass es ihn förmlich schmerzte. Noch nie war er auf Anhieb einer Frau so sehr verfallen wie ihr. Es bereitete ihm ein Gefühl, das in Kitschromanen als »Schmetterlinge im Bauch« bezeichnet wird, aber genauso fühlte es sich tatsächlich an. Er musste immerzu an sie denken, hatte immerzu ihr Bild vor Augen, hörte ihre angenehme warme Stimme. Es gab keinerlei Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle. Natürlich lauerte da im Hintergrund die Frage, wie es weitergehen sollte, wenn er..., wenn er wieder abreisen müsste? Denn sein Urlaub neigte sich dem Ende zu. Nicht mehr ganz 5 Tage und er würde wieder den Flieger in Bastia besteigen, um nach Hause zu fliegen. Nach Hause? Hatte er denn noch ein Zuhause? War denn seine Ehe noch eine Ehe? War sie nicht eher eine mumifizierte Hülle bestehend aus alten Gewohnheiten, Besitzstandsdenken und Verletzungen? Nicht umsonst war er hierher, nach Korsika geflohen, um Abstand zu gewinnen. Zu sich selbst zu finden. Und nun hatte sie ihn zu neuem Leben erweckt. Suzanne. Die schöne, die begehrenswerte. Doch mit ihr war auch ein Schmerz gekommen. Der Schmerz, den man fühlt, wenn das Leben wieder in einen einströmt, wie die Flut, die das ausgetrocknete Ufer überspült oder das Blut in eine abgeschnürte Extremität. Der Schmerz, den es bedeutet, wenn man wieder zu spüren beginnt. Und da war noch etwas. Suzanne brachte neben ihrer herrlichen Leichtigkeit einen Anflug von Traurigkeit in sein Leben. Traurigkeit, die nicht die seine war, doch die seine werden musste, wenn er sein Herz mit ihr verband. Das spürte er. Unbelastet war dieses Arrangement nicht, im Gegenteil. Irgendwo dort drinnen in dieser schönen Frau warteten das Grausen, die Angst und die Verzweiflung. Dies war es, dessen er sich nun bewusst wurde. Die Hüter des Tores, die bösen Geister, die ihre Pforte zum Herzen bewachten, waren wohl grausame Dämonen. Ihn fröstelte. Würde er es wagen, diesen Dämonen zu begegnen, ihnen die Stirn zu bieten, ihnen Stand zu halten? Er war kein mutiger Mensch, das wahrlich nicht. Er brauchte nie mutig zu sein in seinem geordneten Leben. Aber war er daher auch ein feiger Mensch? Er wusste es nicht. Aber er wollte sie und wenn er sie retten müsste, wie der Prinz die schöne Prinzessin im Märchen. Er lächelte in sich hinein, als ihm diese Allegorie bewusst wurde. Die tiefere Bedeutung der Märchensymbolik. Nie war sie ihm gegenwärtiger als im Moment.Erst als er wieder am Bahnhof stand, erinnerte er sich, dass er ja ein Auto gemietet hatte, mit dem er nun zurückfahren konnte. Kopfschüttelnd über seinen Geisteszustand machte er kehrt und ging zur Autovermietung zurück.Er konnte sich nicht genau erinnern, wie er zurückgekommen war, so sehr grübelte er auf der Rückfahrt weiter über Suzanne nach. Erst als er wieder in seinem Hotelzimmer stand und erleichtert feststellte, dass weder die Tür aufgebrochen noch er ausgeraubt worden war, kam er wieder in der Gegenwart an. Er stellte sich vor den Badezimmerspiegel und blickte seinem Spiegelbild sinnend in die Augen…