Schwarzer Regen Rotes Blut

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Dienstag, fünfzehnter Mai 1945



Kapitulation der letzten eingeschlossenen deutschen Truppen in Jugoslawien, die immer noch Widerstand geleistet haben.



Auch Michael Dorns Frau hörte die Schläge vom Kirchturm. Seit drei Stunden wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, konnte nicht schlafen, stand auf, ging zum Abort, trank einen Schluck Wasser, schaute nach den Kindern, legte sich wieder hin und starrte hinauf zur Zimmerdecke.



Vor ihren Augen erstand das immer gleiche Bild: Ein Soldat in feldgrauer Uniform hob sein Gewehr, legte an, wollte schießen, kam aber nicht dazu, eine feindliche Kugel zerfetzte ihm die Brust. Er brach zusammen. Stand wieder auf, wollte erneut feuern. Wieder traf ihn das feindliche Geschoss, mitten in die Stirn. Diesmal stand er nicht mehr auf, sondern blieb regungslos liegen. Im Tod lächelte er ein zufriedenes Lächeln. Sein Gesicht war geprägt von großer Milde.



Die Frau fuhr schweißgebadet hoch, nachdem sie kurz in den Schlaf gefunden hatte. Sie fasste sich an den Kopf und erschrak. Nicht der Traum hatte sie erschreckt, den kannte sie, den hatte sie öfter geträumt. Es war ein Geräusch, das ihre Aufmerksamkeit erregte.



»Karola«, flüsterte eine Stimme. Die Frau sprang aus dem Bett, verließ die Schlafkammer, das Nachthemd schlotterte um ihren dürren Leib. Sie stolperte die Treppe hinunter in den Hausgang. Da stand der Soldat, der im Traum gestorben war.



»Karola«, flüsterte er. Langsam ging sie auf ihn zu, näherte sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck. Kurz wich sie zurück, er fasste sie an den Armen und zog sie an sich. Sie roch den Schnaps, das Bier, die modrigen Kleider. Sie vernahm Brandgeruch und schreckte abermals zurück. Der Mann sagte mit rauer Stimme, der Anspannung anzumerken war: »Ich bin’s.«



»Du?«



»Ja. Bin wieder da. Freust dich?«



Die Frau wusste nicht, was sie auf diese Frage antworten sollte. Eigentlich hatte sie sich das Wiedersehen mit ihrem Ehemann anders vorgestellt, ganz anders, irgendwie romantischer. Dass es jetzt in dem dunklen, kalten Hausgang geschah, ließ sie verstummen.



»Du stinkst nach Rauch«, sagte sie verlegen.



»Ist das alles, was dir einfällt?«, fragte er und wollte sie erneut umfangen, aber sie wich aus, ungeschickt zwar, aber dennoch. Er spürte es, wollte jedoch nichts davon wissen. Er wollte etwas anderes von ihr. Sie war sein angetrautes Eheweib, das ihm zu Diensten sein musste, wann immer er wollte. Und jetzt, in genau diesem Augenblick, wollte er es haben.



Sie rannte die Treppe hinauf, zum Zimmer der Kinder. Dort befand sich der dreijährige Adolf schlummernd in seinem Bettchen. Daneben lagen der Säugling Florian und seine Schwester Berta, elf Jahre alt, in dem anderen Bett. Dorthin eilte die Frau, schlüpfte in den Raum und drehte den Schlüssel um.



Der Mann stand vor der versperrten Tür und rüttelte am Griff. »Mach auf«, rief er.



Keine Antwort. Er rüttelte weiter, trat gegen das Türblatt. Adolf begann zu weinen, auch Berta und ihr Bruder waren wach.



»Du sollst aufmachen!«, brüllte er wie von Sinnen. Karola war seine Frau. Sie durfte ihn nicht abweisen. Sie gehörte zu ihm. Sie gehörte ihm. Ganz allein. Oder hatte sie etwa einen Freund? Er hatte davon gehört. Von Kameraden, die zu lange im Feld waren. Sie hatte sicher auch einen Kerl, er war sich nun ganz sicher. Langsam ging er die Stiege wieder hinunter. In der winzigen Küche suchte er nach Schnaps, fand keinen und hockte sich an den Tisch, ohne Licht zu machen.



Nach einer Weile erschien Karola, Adolf auf dem Arm. Berta trippelte barfüßig hinterdrein. Mit großen Augen musterten sie den Mann, der ihr Vater war, den sie jedoch seit seinem Heimaturlaub vor gut einem Jahr nicht mehr gesehen hatten. Bärtig war er, und dünn sah er aus in seiner abgerissenen Uniform und dem mausgrauen Käppi.



»Was willst du?«, fragte Karola. Adolf weinte. Seine Ärmchen umklammerten den Hals der Mutter. Den Vater mochte er nicht anschauen.



»Wer ist es?«, fragte er.



»Was?«



»Wer ist der Kerl, mit dem du es treibst?«



»Nein!«



»Ich seh es in deinen Augen.«



Die Frau wich zurück, stolperte über einen Stuhl und wäre beinahe hingefallen. Im letzten Augenblick fing sie sich. Ihr kam ein furchtbarer Verdacht.



»Du willst doch nur ablenken«, sagte sie heftig.



»Von was soll ich denn ablenken?«, fragte er und wollte Berta die Hand reichen, doch das Mädchen wich erschrocken zurück.



»Die Leut reden.«



»Was reden sie denn, die Leut?«, wollte er wissen. Jetzt stand er reglos vor ihr. Sie hoffte, er würde ihr im Angesicht der Kinder nichts tun. Nicht jetzt, nicht in dieser Nacht.



»Die Leut sagen«, fasste sich Karola ein Herz, »du hast den Pfanzelt erschossen und sein Wirtshaus angezündet. Davon reden die Leut und von nichts anderem.«



»Wer sagt das?«



»Der Schnaitz erzählt es überall herum.«



»Und du glaubst den Schmarrn?«, fragte er und sank zurück auf den Stuhl. Sie hatte das Licht angemacht und blickte ihm nun geradewegs in die Augen.



»Ja, das glaub ich.«



»Warum?«



»Weil ich dich kenn. Weil du schon immer so warst. Der Krieg hat dich nicht besser gemacht.«



»Blödsinn«, sagte er matt und schaute zu Boden, als müsste er tief in seinen Erinnerungen kramen, was vor fast zwei Tagen passiert war.



Die Frau wandte sich wieder zur Tür, Berta an der Hand und Adolf im Arm. Aus sicherer Entfernung fragte sie: »Was willst?«



»Mein Gwand.«



»Das kannst haben.« Sie ging aus der Tür, kletterte die Stufen hinauf. Droben brachte sie die Kinder ins Bett und ging zur Schlafkammer. Im Schrank suchte sie den schwarzen Anzug heraus, den er immer bei Beerdigungen getragen hatte. Dazu ein kragenloses Hemd. Sie schmiss die Kleidungsstücke die Treppe hinunter und verriegelte die Tür.



Nach einer Weile hörte sie, wie er das Haus verließ.



Sie wartete bis zum Morgengrauen, ging hinunter und heizte den Kachelofen an. Dann verbrannte sie die Uniform mit den SS-Runen auf dem Kragenspiegel. Auch der Zettel wanderte ins Feuer: »Wenn du der Polizei was sagst, bring ich dich um.«



*



Die Frau trat vor die Tür und schaute hinüber zum Wald. Nichts war mehr von ihm zu sehen. Auf dem Feldweg kamen zwei Männer daher. Die Frau erkannte den alten Mann, den die Amerikaner wieder zum Bürgermeister gemacht hatten. Zingler hieß der, Rudolf Zingler. Sein Kennzeichen war ein gewaltiger Kropf. Im Dorf hieß es, der Rudi sei im KZ gewesen, in Dachau, weil er ein Kommunist war und weil er den Kommunismus in Bayern hat einführen wollen. Das hat der Führer aber nicht zugelassen. Warum die Amerikaner ihn wieder zum Bürgermeister gemacht hatten, verstand Karola nicht. Ihm würde sie jedenfalls nichts erzählen, denn bei Kommunisten musste man vorsichtig sein. Die verschleppten einen sofort nach Russland. Und dass die Russen Untermenschen und Kannibalen sind, das wusste man hier. Das hatte ihnen Bürgermeister Staubwasser jahrelang eingebläut.



Neben Zingler ging ein städtisch gewandter Herr, dem die linke Hand fehlte. Die Frau hatte ihn noch nie gesehen. Also wartete sie, bis die beiden vor ihr standen.



»Grüß Gott«, sagte der neue Bürgermeister. Sie grüßte stumm und sah auf den Fremden.



»Leo Klemm ist mein Name«, sagte dieser und zeigte eine Kennkarte, die ihn als Polizeikommissär auswies. »Sie wissen, warum wir hier sind?«



»Nein«, log die Frau.



»Wollen wir nicht ins Haus gehen?«, meinte der Kommissär.



»Nein.«



»Wie du willst«, sagte Zingler.



Eine Pause entstand. Plötzlich drehte die Frau sich um und betrat ihr Haus. Die beiden Männer folgten wortlos. In der Küche setzten sie sich an den Tisch, die Kinder schliefen noch.



»Sie sind Frau Karola Dorn?«, fragte Klemm.



»Ja.«



»Können Sie sich ausweisen?«



Die Frau zog aus der Schublade den alten Ausweis mit ihrem Namen und dem verblichenen Lichtbild darin und legte ihn vor den Kommissär auf den Tisch. Dieser musterte das Dokument und schob es dann von sich.



»Ihr Mann ist Michael Dorn?«, sagte der Kommissär.



»Ja.«



»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«



»Vor gut einem Jahr auf Heimaturlaub.«



»Wenn du lügst, Karola«, begann Zingler, stockte aber, als er ihren verzweifelten Blick sah.



»Ich wiederhole meine Frage: Wann haben Sie Michael Dorn zum letzten Mal gesehen?«



»Auf Heimaturlaub«, sagte die Frau leise.



»Und seither nicht mehr?«



»Wenn ich es sage.«



Sie hockte am Tisch und trenzte in ihr Taschentuch. Die Männer wechselten einen Blick. Klemm hätte schwören können, dass die Frau nicht die Wahrheit sagte. Auch Zingler spürte die Lüge in ihren Worten. Dennoch ließ sich nichts ausrichten, wenn die Frau bei ihrer Aussage blieb. Klemm versuchte es abermals.



»Frau Dorn, wir müssen unbedingt mit Ihrem Mann sprechen, verstehen Sie das?«



»Lassen Sie mich in Ruhe«, greinte sie.



»Wir wollen nur mit ihm reden, Karola«, mischte sich der Bürgermeister ein und versuchte, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Sie schüttelte sie ab und stand auf, dass der Stuhl kippte.



»Ich weiß nix«, stammelte sie. »Nix weiß ich. Nix.«



»Zeigen Sie uns Ihr Schlafzimmer«, befahl Klemm. Also gingen sie hinauf. Der Kommissär betrachtete das Ehebett, schaute darunter, öffnete dann den Kleiderschrank. Dort hingen Röcke, Blusen, eine lindgrüne Sommerjacke.



»Wo hat Ihr Mann seine zivile Kleidung?«



»Hab alles weggetan«, stammelte die Frau.



»Wann?«



»Im Herbst.«



Der Polizeikommissär musterte sie forschend. Sie schlug die Augen nieder und presste die Lippen aufeinander. Was immer diese Frau zu verbergen hatte, er würde es nicht erfahren. Vielleicht morgen. Aber nicht heute. Ihre Angst war zu groß.

 



Mit einem knappen Nicken verabschiedete er sich. Zingler folgte ihm. Als sie aus dem Haus traten, schloss die Frau die Tür hinter ihnen und sperrte ab.



»Der Kachelofen war heiß«, sagte Klemm, nachdem sie eine Weile gegangen waren.



»Jetzt im Mai?«, fragte Zingler.



»Sie hat etwas verbrannt.«



»Aber was?«



»Das müssen wir herausfinden, Herr Bürgermeister.«



*



Vor dem Rathaus, dem die Fensterläden fehlten, erwartete sie ein Mann. Klaus hieß er; ein armer Kerl, noch keine fünfzig. Man nannte ihn allgemein Klaus, den Wagenknecht, weil er entsetzlich stotterte. Der Bub war zu schwach für dieses Leben, hatte seine Mutter immer gesagt, darum stotterte der arme Kerl. Wo doch der Vater in Stalingrad geblieben war. Bald darauf hatte sie sich auf dem Dachboden erhängt.



»Die Russen sind aus dem Lager ausgebrochen. Und eine Sau«, sagte er. Es war kurz nach sieben in der Früh, aber der Fusel schaute ihm bereits aus dem pockennarbigen Gesicht. Der lebte nur noch zum Saufen, dachte Klemm.



»Wollen Sie mir helfen?«, fragte Zingler in Richtung des Kommissärs. Der schaute ihn belustigt an, nickte aber nach einer Weile.



»Kümmern wir uns halt um die Sau«, sagte er. Um eine Sau hatte er sich bisher nicht kümmern müssen. Dennoch war er dankbar um jede Abwechslung. Eigentlich hatte er nach Friedrich Berner, dem anderen Verdächtigen forschen wollen, aber jetzt war halt eine Sau dran. Die geflohenen Russen hingegen waren Angelegenheit der amerikanischen Militärregierung.



»Wo hast du die Sau gesehen?«, fragte Zingler.



»Hinten beim Staubwasser seinem Stall.«



»Wo sonst die Rösser sind?«



»Ja. Krieg ich eine … eine Belohnung, wenn die Sau gefunden wird?«, fragte Klaus mit bangem Blick.



»Was willst denn?«, fragte Zingler. Noch hatten sie die Sau nicht.



War Klaus aufgeregt oder hatte er Angst, blieb seine Stimme gelassen. Sie hatte ein wunderbar tiefes Timbre. In der Aufregung konnte er über Worte und Satzbau nicht nachdenken. War aber alles ruhig in ihm, so stotterte er zum Herzerweichen. Ansonsten war er ein gut aussehender, gütiger Mann, wie manche Frau ihn sich in Friedenszeiten wünschen würde. Wenn nur diese grausliche Stammelei nicht wär …



Sie gingen hinüber zu Staubwassers weitläufigem Anwesen. Das zweistöckige Steinhaus mit zwei Erkern an den Ecken und einem hohen Giebel stand stolz inmitten von Schachtenstein. Es war das größte Gebäude im Dorf.



Die massive Eingangstür hatte einst zu einer Mühle gehört. Während über das obere Drittel der Türfläche Mühlsteine verteilt waren, querte eine Leiste mit Kammrädern den Mittelteil mit eingeschnitzten Ähren. Das Mittelfeld wurde von einer Brotleiste nach unten abgegrenzt. Darunter fanden sich Schärfhammer, Schärfer und Schältrommel.



Klemm betrachtete die wunderbare Arbeit. Dann sah er zu Zingler, der nervös wirkte.



»Was ist das für einer, der Staubwasser?«



In Zinglers Stimme schwang tiefe Resignation mit.



»Der Konrad war vor dem Krieg der reichste Rosshändler im Zwieseler Winkel. Er hat mich in das KZ gebracht. Aber ich kann es bis heute nicht beweisen. Dann ist er mein Nachfolger geworden.«



Der Kommissär schluckte. »Mit welcher Begründung hat man Sie nach Dachau geschickt?«



Zinglers Lächeln erreichte seine Augen nicht. Sie blieben kalt und abweisend. »Ich war eine Zeit lang Kommunist. Das hat denen nicht gepasst. Drei Jahre war ich im KZ, zusammen mit dem Georg Elser.«



»Und jetzt?«



»Jetzt ist der Staubwasser kein Bürgermeister und auch kein Ortsgruppenleiter mehr, sondern lediglich Rosshändler. Der Krieg hat ihn mit Geld zugeschissen, Herr Kommissär. Seine Ställe aber sind leer, denn jeden noch so buckligen Gaul hat er für gutes Geld an die Wehrmacht verkauft. Die Leut sagen, es gibt Verhandlungen mit den Besatzern. Woher der Konrad allerdings weitere Pferde nehmen will, ist mir ein Rätsel.«



Zingler klopfte an die breite Eichentür. Nach ein paar Sekunden trat Konrad Staubwasser heraus, als hätte er darauf gewartet. Ein verächtlicher Blick traf Klaus. Dann wandte er sich an Zingler.



»Was gibt’s?«, fragte er mit tiefer Stimme. Sein gewaltiger Bauch bebte unter der teuren Samtweste. Der kahle Schädel glänzte im Morgenlicht. In der Hand hielt er eine brennende Zigarre, an der er nun zog und Rauchzeichen in den Himmel schickte. Klemm dachte daran, dass dieser Prototyp des schmierigen Geschäftemachers jedes Klischee sprengte.



»Eine Sau«, sagte Zingler vorsichtig. Insgeheim fürchtete er Staubwasser noch immer, mochte es aber nicht zeigen. Der Rosshändler hatte Freunde, und zwar in jeder Richtung. Damit war auch nach dem Ende des Krieges nicht zu spaßen. Die Zeiten hatten sich geändert – wirklich geändert?



»Eine Sau willst?«, feixte Staubwasser und reckte den Bauch in die Sonne. »Dann musst nach Zwiesel auf den Saumarkt. Aber der ist erst nächsten Samstag. Bis dahin wirst dich gedulden müssen, Bürgermeister.«



Sprach der immer so?, überlegte Klemm, oder hatte er ein schlechtes Gewissen? Wahrscheinlich besaß der fette Kerl überhaupt kein Gewissen, das diese Bezeichnung verdiente.



»Ich will den Stall sehen«, sagte Zingler.



»Wer ist denn der da?« Staubwasser deutete mit der Zigarre auf Klemm, ohne auf Zinglers Forderung einzugehen.



»Polizeikommissär Klemm«, sagte Klemm und zeigte seine Kennkarte.



»Oho!«, schüttelte es Staubwasser. »Jetzt suchen die Gendarmen schon nach einer Sau. Dann wollen wir Sie nicht warten lassen.«



Als sie im Stall waren, lehnte Staubwasser sich gemütlich an die Tür.



»Vorschlag: Wenn ihr die angebliche Sau findet, schlachten wir sie und fressen sie gemeinsam auf.«



»Ja«, brüllte Klaus und leckte sich die Lippen. Nicht nur der Hunger trieb ihn an, sondern auch ein gewaltiger Durst. In der Nacht war er fast verrückt geworden vor Sehnsucht nach Alkohol. Kein Auge hatte er zugetan.



Zingler sah sich hilflos um. Wo sollte er suchen? Die Kobel waren leer, kein Futter zu sehen, es roch frisch, fast zu frisch. Hier war schon lange kein Tier mehr eingesperrt gewesen. Aber vielleicht in einem der zahlreichen Nebengebäude?



Sie gingen über den Hof, da drang aus einem der Keller ein verräterisches Grunzen. Klemm blickte zu Zingler, Zingler blickte zu Staubwasser, Staubwasser blickte zum Himmel. Klaus war an die Öffnung getreten, die durch Eisenstäbe gesichert war.



»Da grunzt was«, sagte er.



»Du träumst ja«, sagte Staubwasser mürrisch.



»Da, schon wieder«, sagte Klaus.



»Dein Hunger grunzt«, sagte Staubwasser.



»Nein, eine Sau«, sagte Zingler.



»Gehen wir in den Keller und schauen nach«, schlug Klemm vor. Der Rosshändler musterte ihn mit einem feindseligen Blick, gab aber nach.



Sie irrten von Raum zu Raum. Der Keller war riesig. Die Mehrzahl der Räume war leer, in einigen lag Gerümpel herum, aber nirgends fand sich eine Sau.



»Wo ist der Kartoffelkeller?«, wollte Zingler endlich wissen. Er war es leid, hier herumzustöbern. Also wanderten sie weiter zum Kartoffelkeller. Doch der war verschlossen. Staubwasser hatte keinen Schlüssel dabei. Er musste ihn erst holen.



Als der Rosshändler nach einer Viertelstunde noch immer nicht zurück war, wurde es Klemm zu bunt. Er eilte die Kellertreppe hinauf und traf im Hausgang die Köchin. Auf seine Frage hin sagte sie, sie solle dem Herrn Gendarm ausrichten, dass ihr Herr dringender Geschäfte wegen verreisen musste und erst übermorgen am späten Abend wieder zurückerwartet werde.



Klemm blieb tatsächlich die Luft weg. Eine derartige Frechheit hatte er in seinem ganzen Berufsleben noch nicht gesehen. Unverrichteter Dinge mussten sie abziehen. Auch der Säufer war verschwunden.



Nicht verschwunden hingegen war Konrad Staubwasser. Er hatte sich hinter dem Hühnerstall versteckt und kam jetzt wieder hervor. Schnaubend rannte er ins Haus, hinunter in den Kartoffelkeller, den schweren Revolver im Anschlag. Die Sau starb, ohne dass sie etwas spürte. Eine Stunde später war sie zerlegt und in alle Himmelsrichtungen verteilt. Hochwürden Tecklenburg bekam ein besonders schönes Stück. Man wollte ja nach dem Tod ins Paradies auffahren. Emmi nahm das Fleisch entgegen und verstaute es in der Speis.



Klemm hockte wieder im Büro. Da fiel ihm etwas ein. Er ließ die Schreibmaschine links liegen und machte sich auf den Weg zurück zum Rosshändler. Noch immer mochte er nicht glauben, dass Konrad Staubwasser ihm und Bürgermeister Zingler einen derartigen Streich gespielt hatte.



Wahrscheinlich würde Staubwasser sich am Sonntag nach der Messe am Stammtisch damit brüsten, wie er die beiden Männer an der Nase herumgeführt hatte.



Als Klemm auf Staubwassers Hof stand, kam dieser gerade ums Eck.



»Ich dachte, Sie sind verreist?«, sagte Klemm mit tiefem Grant in der Stimme.



»Mein Auto ist kaputtgegangen«, kam die Antwort.



»Ganz plötzlich?«



»Was soll ich machen, Herr Kommissär?«, sagte Staubwasser und zog das Gesicht in tiefe Sorgenfalten. »Auch unsereiner hat seine Probleme.«



»So ein Zufall aber auch«, meinte Klemm und stand da wie ein dummer Bub.



»Wenn Sie wollen, Herr Kommissär, können wir jetzt den Kartoffelkeller inspizieren.«



»Inspizieren, sagen Sie?«, entfuhr es Klemm. »Nein danke. Ich gehe jede Wette ein, dass Ihr Kartoffelkeller der sauberste im ganzen Zwieseler Winkel ist.«



Damit stapfte Klemm davon. Insgeheim kochte er vor Wut und schwor bei allen bösen Geistern, diesen Halunken während seines Aufenthaltes in Schachtenstein nicht mehr aus den Augen zu lassen. Irgendeine Schweinerei würde sich schon finden, die man dem Fettberg anhängen konnte.



Er war so in Gedanken, dass er beinahe die Pfarrersköchin übersehen hätte. Emmi war eine schmucke Erscheinung. Was sie nur an dem Pfarrer fand?, dachte Klemm, sie konnte doch jeden Mann in Schachtenstein haben. Und einen Stall voll Kinder dazu.



»Hoppla, Herr Kommissär«, sagte Emmi belustigt. Beinahe hätte er sie über den Haufen gerannt.



»Entschuldigung, Frau …«



»Emmi heiße ich.«



»Frau Emmi. Ich war gerade in Gedanken.«



»Der Mord beim Pfanzelt?«, fragte sie und schaute ihm gerade ins Gesicht. Diese Augen konnten einen verrückt machen, dachte Klemm, und die Figur dazu.



»Ich wollte gerade zu Ihnen, Herr Kommissär.«



»Wollen Sie eine Aussage machen? Haben Sie etwas gesehen oder gehört, was mich bei den Ermittlungen weiterbringt?«



»Das nicht, Herr Kommissär. Aber Hochwürden, Herr Pfarrer Tecklenburg, würde sich riesig freuen, wenn Sie heute zum Abendessen zu uns kommen könnten. Er ist nämlich, mit Verlaub, sehr neugierig auf diesen Mordfall.«



»Das kann ich mir denken.«



»Um acht Uhr?«



»Gerne. Was gibt es denn Gutes?«



»Schweinebraten mit Kartoffelklößen«, hauchte Emmi selig.



Ein richtiger Polizist, überlegte sie, als er weg war. Kein Schupo, wie sie in Berlin sagten, sondern ein echter Kommissär.



Leo Klemm hatte etwas Seriöses, etwas, das Geborgenheit vermittelte, etwas, das ihn heraushob aus der Masse der verunsicherten Menschen, die ohne Hoffnung in die Zukunft blickten. Polizeikommissär Klemm trug etwas in sich, das Emmi Unruh an ihren verstorbenen Mann erinnerte. Was genau das war, hätte sie nicht sagen können, aber ihr war bewusst, dass der Mann mit der fehlenden Hand eine große Faszination auf sie ausübte. Seine Ruhe und Gelassenheit. Sein freundliches Lächeln – all das brachte etwas zum Klingen, das sie vergessen hatte.



Emmi erkannte plötzlich, dass sie sich in den Mann verliebt hatte. Leichte Röte überzog ihr Gesicht und sie schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht alle Latten am Zaun!«, sagte sie sich und stapfte davon.



*



Vor Klemms Büro im Stormberger wartete Josef Schnaitz. Der Kommissär bat ihn herein und legte ihm das Protokoll zur Unterschrift vor. Der junge Mann studierte das Dokument eine Weile und setzte dann seinen Namenszug darunter.



Währenddessen betrachtete ihn Klemm. An dem Janker, den Schnaitz trug, steckte ein Abzeichen mit stilisiertem Gewehr und Eichenlaub.



»Gibt es im Dorf einen Schützenverein?«, fragte Klemm.



Schnaitz sah auf. »Ja, Herr Kommissär. Die Eichenlaub-Schützen. Warum fragen Sie?«



»Weil sämtliche Schützenvereine von den Amerikanern verboten wurden und alle Waffen zu vernichten sind.«

 



»Das weiß ich, Herr Kommissär. Aber die Eichenlaub-Schützen gibt es schon seit über hundert Jahren. Die kann man nicht so einfach verbieten. Uns wird es noch geben, wenn die Amerikaner wieder heimgefahren sind.«



»Sind Sie auch einer von denen?«, fragte Klemm.



»Freilich«, sagte Schnaitz wichtig. »Ich bin auch ein guter Schütze!«



»Sie haben nicht zufällig noch irgendwo ein Gewehr oder eine Pistole, Josef?«



»Nein, Herr Kommissär.«



»Besser, Sie legen das Abzeichen für eine Weile in die Schublade«, sagte Klemm wiederum und heftete das Protokoll ab.



»Das verstehe ich nicht.«



Klemm schnaufte durch. Es ergab keinen Sinn, wenn er dem jungen Mann erklärte, was geschah, sollte die Militärpolizei eine unerlaubt in seinem Besitz befindliche Schusswaffe finden. Dafür konnte man in diesen Tagen hingerichtet werden.



»Nun zu etwas anderem, Herr Schnaitz. Wo sind Sie heute Nacht untergekommen?«



»Im Rossstall vom Staubwasser. Da kann ich auch arbeiten.«



»Was ist der Staubwasser für ein Mensch?«



»Der Herr Staubwasser ist reich. Richtig reich. Der handelt mit Rössern. Mehr weiß ich nicht, Herr Kommissär.«



»Kennt Herr Staubwasser den Michael Dorn?«



»Wieso?«



»Oder Friedrich Berner?«



»Warum wollen Sie denn das wissen, Herr Kommissär?«



»Weil ich Polizist bin und einen Fall aufzuklären habe. Hast du das schon vergessen, Josef?«



»Nein, Herr Kommissär.«



»Wenn du wirklich bei mir als Hilfspolizist anfangen willst, musst du immer daran denken.«



»Ich könnte bei Ihnen anfangen? Wirklich?«



»Vielleicht …«



»Ich mach alles, Herr Kommissär. Daran glaub ich ganz fest.«



»Das ist gut. Ich hole dich, wenn ich dich brauche«, sagte der Kommissär lächelnd. Ihm gefiel die Begeisterung des Burschen.



»Da fällt mir noch was ein, Herr Kommissär. Der Staubwasser hat droben am Donnerholz eine Jagdhütte. Da geht er manchmal mit dem Rahner hinauf zum Jagen. Ich darf dann immer die Gewehre tragen.«



»Donnerholz?«



»Ja. Das Donnerholz ist droben beim Felsabbruch.«



»Wo gibt es denn hier einen Felsabbruch?«, fragte Klemm etwas überrascht. Er hatte zwar von der Wand über dem Arbersee gehört, aber eine Felswand in der Nähe des Dorfes Schachtenstein war ihm bisher nicht bekannt gewesen.



»Beim Donnerholz, Herr Kommissär.«



»Und die Waffen?«



»Da fragen Sie am besten den Rahner«, sagte Schnaitz und drückte sich aus der Tür.



Mit dem Rahner meinte er Hans Rahn, der neben der Kirche den Kramerladen führte. Er hatte am Sonntag nach der Messe geöffnet. Die Leute sprachen mit Respekt von ihm. So viel hatte Kommissär Klemm bereits in Erfahrung gebracht.



Zuvor aber galt es, das Mittagessen einzunehmen, denn es war bereits nach ein Uhr. Herr Pretzlaff tischte eine saure Mehlsuppe auf, von der Klemm vier Teller verdrückte. Dazu gab es dunkles Bier und eine Tasse Landkaffee aus Zichorien. Klemm ließ die Hälfte stehen. Die Rechnung würde am Ende der Ermittlungen nach Zwiesel aufs Präsidium geschickt werden.



»Sagen Sie mal, Herr Wirt, was ist denn der Rahn für einer?«, fragte Klemm und steckte Pretzlaff ein Geldstück zu.



»Der Rahner Kramer?«



»Ja, der Kramer.«



»Die Leut sagen, dass man beim Rahner alles kriegt, was man braucht.«



»Das sagen die Leut?«



»Ja, das sagen die Leut, Herr Kommissär.«



»Und wenn ich was Besonderes will, was man sonst nicht bekommt?«



»Dann bestellt er es in Zwiesel oder in Passau.«



»Bestimmt, Herr Wirt?«



»Das weiß ich nicht«, sagte Pretzlaff und wandte sich hastig anderen Gästen zu.



Die Leut sagen. Immer wieder die Leut. Welche Leut? Die Leut im Dorf?



In einem Dorf wie Schachtenstein hielten die Leute zusammen. Seit jeher. Jeder kannte den anderen, jeder war irgendwann auf den anderen angewiesen, schon immer. Auch wenn sie im Wirtshaus stritten und rauften bis aufs Blut. Irgendwann rückten sie wieder zusammen, als wären sie eine Familie. Auch in Familien gab es Unstimmigkeiten. Immer die gleichen Fragen, Missverständnisse, Lügen, den Hass und den Neid.



Wie viele Söhne, wie viele Töchter waren schon enterbt worden? Wie viele Dienstmägde waren schwanger geworden vom Bauern oder einem Knecht und mussten außer Landes gehen, um das Kind zur Welt zu bringen? Zurück konnten sie nicht.



Was täten die Leut sagen? Oder der Herr Pfarrer? Oder die Nachbarn und die Verwandtschaft? Die Freunde, die nun keine mehr waren? Die Spötter, die Feigen, die Hinterfotzigen? Nicht zu vergessen die Sturköpfe, die auf ihrer Meinung beharrten, und wenn daneben die Welt zerbrach?



Und doch standen sie zusammen, wenn ein Hof in Flammen aufging, das Vieh verbrannte und die Feuerwehr anrückte, um zu löschen. Wenn dem Bauern das Weib wegstarb und er einen Ersatz für die sieben unmündigen Kinder suchte. Wenn ein Unwetter getobt hatte und Scheunen und Ställe zerstört worden waren. Dann kamen der Zimmerer, der Maurer und der Schmied, mit denen man seit Jahren im Streit lag, und nahmen Maß.



Alle packten an.



Josef Schnaitz war ein anderer Fall. Er hielt sich nicht an die unausgesprochene Vereinbarung des Schweigens im Dorf. Josef war Zeuge eines furchtbaren Verbrechens geworden. Das hatte es in Schachtenstein lange nicht gegeben. Schnaitz sprach mit Klemm. Wollte Hilfspolizist sein. Warum? War der Bursche größenwahnsinnig geworden? Glaubte der Wirrkopf, etwas Besseres zu sein, bloß weil er für den Polizeikommissär aus Zwiesel ein wichtiger Zeuge war?



Der Fall konnte gefährlich werden für einen jungen Mann, der im Rossstall vom Staubwasser nächtigte, weil er sonst keine Bleibe mehr hatte. So einer wie der Schnaitz war schnell auf die Seite geräumt. Der Wald war weit und still.



Ganz gleich, was die Leute redeten.



Klemm wusste genau, was die Leute über ihn redeten. Wahrscheinlich hatte der einarmige Polizist irgendetwas verbrochen, dass man ihn nach Schachtenstein abgeschoben hatte. Wer wusste schon, was der Mann auf dem Kerbholz hatte? Keiner kannte ihn. Kam ins Dorf geschneit und wollte den Fall lösen. Aber das Dorf brauchte keinen abgehalfterten Krüppel von der Polizei. Das packten sie selbst.



Was täten da die Leut sagen?



Seufzend machte sich Klemm auf den Weg zum Rahner. Neben dem Schaufenster befand sich der jetzt leere Stürmerkasten, in dem jahrelang die aktuelle Ausgabe der Hetz- und Hass-Postille der Nazis gehangen hatte.



Die Türglocke klingelte, als Klemm den Laden betrat. Die Einrichtung wurde beherrscht von der breiten Ladentheke mit der gewaltigen Registrierkasse und einer leicht ramponierten Tafelwaage. Daneben lagen ein vergilbter Mehlschein, darauf die Jahreszahl »1941« und eine alte Ausgabe des Völkischen Beobachters. In einer offenen Schachtel lagerten Bezugsscheine für Zucker und Marmelade, Reichseierkarten, verschiedene Raucherkarten und ein Einkellerungsschein, gültig bis zum neunzehnten Dezember 1944.



Im Hintergrund ein Papierabroller und ein Werbeplakat für Brot. Dazu Fünferl-Rippen, also Schokolade, die einzelne Rippe zu fünf Pfennigen.



An den Wänden befanden sich Regale mit Gläsern voller Gurken, Apfelkompott und Marmelade. Ein Kübel mit eingelegten Eiern stand in der Ecke. Leere Milchflaschen, ein irdener Topf mit der Aufschrift »Senf« sowie in einer Steige an der Wand Kartoffeln und kleine Säcke mit Mehl. Eine sogenannte Weibsdose, also eine Bonbonniere zur Aufbewahrung von Süßigkeiten. Ein Kaffeespender mit Kaffeeschütte – jetzt leer – fristete sein einsames Dasein. Auch Salz, Mehl und Gewürze konnte man hier erstehen. Ebenso Nadel, Faden, Wolle und Strickzeug für die fleißige Hausfrau.



Ganz oben auf dem Regal entdeckte Klemm etliche Flaschen billigen Schnaps. Weiter hinten fanden sich diverse Waschmittel wie VIM oder PERSIL und die berühmt-berüchtigte Kernseife samt Bürsten und Besen. Und direkt neben der Theke befand sich, etwas niedriger und für Kinderhände gut erreichbar, allerlei Spielzeug. Klemm traute seinen Augen nicht. Er beugte sich hinunter, um genau hinzusehen. Da standen, neben kleinen Puppen und Blechautos, sieben einfache hölzerne Spieluhren, gefertigt im Fichtelgebirge.



Der Rahner war also genau der

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?