Schwarzer Regen Rotes Blut

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»Wo befanden Sie sich in diesem Moment, Josef?«

»Wie der Soldat ins Haus rennt, bin ich hinten raus und hab mich im Unterholz versteckt.«

»Und anschließend?«

»Der andere ist davon, ohne einen Blick zurück. Die Schreie von meiner Elise aus dem Keller krieg ich nicht mehr aus dem Kopf.«

»Michael Dorn und Friedrich Berner sind die Täter?«

»Jawoll, Herr Kommissär.«

»Sie konnten Elise nicht helfen?«

»Wär ich hinein, wäre ich verbrannt wie sie. Ich bin kein Feigling nicht, Herr Kommissär, aber das hätt ich nicht können.«

»Gut, Josef. Gibt es etwas, was Ihnen noch aufgefallen ist? Jede Kleinigkeit ist wichtig. Immerhin gab es bei dem Unglück insgesamt vier Tote. Das ist einmalig für ein Dorf wie Schachtenstein.«

»Da war noch die Spieluhr.«

»Mit dem Albumblatt für Elise?«

»Genau, Herr Kommissär. Wie die Elise in den Keller ist, hat sie die Spieluhr aufgezogen, und auf den Stufen spielt die ganze Zeit das Albumblatt. Das hat mich so gegruselt. Verstehen Sie das, Herr Kommissär?«

»Das verstehe ich sehr gut, Josef. Noch etwas?«

»Die Männer, ich mein die Soldaten, waren irgendwie furchtbar aufgeregt.«

»Von Anfang an oder erst nach dem Genuss von dem vielen Bier und dem Schnaps?«

»Ich glaub, von Anfang an.«

»Können Sie mir einen Grund dafür nennen, Josef?«

»Als hätten sie zu viel Kaffee erwischt. Oder was anderes.«

»Oder etwas anderes? Vielleicht Pervitin? Ist notiert. Sonst noch was?«

»Nein, Herr Kommissär, das ist alles.«

»Gut. Ich fertige noch heute das Protokoll. Morgen bitte ich Sie, es zu unterschreiben. Also bleiben Sie in der Nähe.«

»Eine Frage, Herr Kommissär. Wie geht es weiter?«

»Wir werden die Männer stellen, die dieses ungeheuerliche Verbrechen begangen haben. Allen voran Michael Dorn, den Mörder von Bernhard, Elise und Maximilian Pfanzelt.«

»Kann ich da nicht mithelfen?«

»Wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich kenn jeden Fleck im Wald, jeden Steig und jede Hütte hinüber nach Rabenstein und hinauf bis zum Hennerkobel.«

»Sie sind kein Polizist, Josef. Und kurzsichtig noch dazu. Das geht nicht.«

»Wo doch die Polizei keine Männer hat wegen dem Krieg.«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Josef. Aber so einfach ist das nicht. Sie haben keinerlei Ausbildung.«

»Wenn Sie mich mitnehmen, Herr Kommissär, lerne ich alles ganz schnell.«

»Stellen Sie sich vor, Ihnen stößt etwas zu. Das kann ich keinesfalls verantworten.«

»Ich kann gut auf mich selber aufpassen.«

»Vielleicht.«

»Danke, Herr Kommissär.«

»Was werden Sie jetzt tun, Josef?«

»Ich geh zum Staubwasser. Ich kann im Rossstall schlafen. Da geht es mir gut. Daran glaub ich ganz fest.«

»Von mir aus. Bedenken Sie aber, dass Sie Tatzeuge sind. Sperren Sie Augen und Ohren auf. Michael Dorn ist noch nicht gefasst.«

»Ich geb Obacht, Herr Kommissär.«

»Wie Sie meinen. Und damit bis morgen, Herr Schnaitz. Seien Sie pünktlich um neun Uhr hier.«

»Jawoll, Herr Kommissär. Um neun Uhr. Auf Wiedersehen, Herr Kommissär Klemm.«

Während Klemm sich daranmachte, das Protokoll zu fertigen, dachte er über den jungen Mann nach, der Zeuge dieses furchtbaren Verbrechens geworden war. Josef Schnaitz wirkte wesentlich jünger als dreißig Jahre. Ein gut aussehender Bursche mit dunklem, gelocktem Haar, das bis zur Schulter reichte. Klemm konnte sich gut vorstellen, dass Josef durchaus in der Lage war, einem Mädchen das Herz zu brechen. Wäre da nicht der unstete Blick und das fehlende Selbstbewusstsein gewesen, das diesen Eindruck wieder zunichtemachte. Der Junge war in sich zerrissen, wirkte unzufrieden und unruhig. Aber vielleicht lag das nur an dem erlittenen Leid um die geliebte Elise.

Klemm seufzte.

Zunächst galt es, die alte Schreibmaschine aus Wehrmachtsbeständen in Betrieb zu nehmen. Das Gerät stammte aus dem Jahr 1935, hatte Reisen nach Frankreich, Belgien, Polen und vielleicht sogar nach Russland mitgemacht und war nun im Dörfchen Schachtenstein auf Klemms Schreibtisch gelandet. In seinem provisorischen Büro im Gasthof Stormberger hier im Zwieseler Winkel wartete das Vorkriegsmodell nun darauf, dass auf ihr das Protokoll des Massakers an der Familie Pfanzelt amtlich verfasst wurde.

Leo Klemm seufzte. Dies war ein Teil seiner Arbeit, den er hasste; nicht, weil er mit einer Schreibmaschine nicht umgehen konnte oder ihm die Schreibtischarbeit zu anstrengend gewesen wäre, sondern weil er in Polen die linke Hand gelassen hatte. Er musste jeden Buchstaben mühsam mit dem Zeigefinger der rechten Hand suchen und einzeln tippen. Für ein umfangreiches Protokoll oder ein offizielles Schreiben an die vorgesetzte Behörde verbrachte er Stunden vor dem altertümlichen Gerät.

Der Kommissär besaß eine hölzerne Handprothese, die er an den Unterarm schnallen konnte. Sie half zwar beim Radfahren, aber nicht beim Tippen. Zusätzlich hatte ihm ein geschickter Werkzeugmacher eine eiserne Spitze gebaut, die sich am Armstumpf befestigen ließ und die Klemm bei Gefahr als Waffe nutzen konnte. Im Augenblick lag sie wohlverwahrt in einem speziellen Futteral unter dem Bett.

Klemm stammte aus München. Die Wirren des Krieges hatten ihn über Frankreich, Belgien, Russland und Polen zurück in seine Heimatstadt und anschließend in diesen verwunschenen Winkel des Bayerischen Waldes geführt. Am neunundzwanzigsten April war er dreißig Jahre alt geworden. Seit acht Monaten versah er nun seinen Dienst in der Polizeistation Zwiesel. Er hatte sich an die Eigenheiten der Menschen gewöhnt. Auch wenn ihre Sprache noch immer seltsam in seinen Ohren klang; manches konnte er gut verstehen, anderes, wie bestimmte Bräuche und Rituale, blieben ihm, dem Mann aus der Großstadt, fremd.

Klemm hatte einfach beschlossen, sich an das alte Münchner Sprichwort zu halten, das ihn bisher einigermaßen gut durchs Leben gebracht hatte: »Es is, wie’s is.« Er tickte noch immer münchnerisch.

Klemm war nicht überrascht, sich hier in der Provinz einzufinden. In Schachtenstein war verhältnismäßig wenig zu Bruch gegangen.

Zunächst war die 3. US-Armee unter General George Patton Anfang April 1945 über Grafenwöhr, Weiden und Cham in den Bayerischen Wald vorgerückt.

Am dreiundzwanzigsten April querten die Amerikaner den Regen und marschierten die alte Ostmarkstraße entlang. Insbesondere die Skoda-Werke in Pilsen waren eine wichtige Rüstungsschmiede der Nazis gewesen. Im Zuge dieser Maßnahme waren amerikanische Kampfverbände bereits am zwanzigsten April 1945 über Zwiesel hergefallen. Das alles war nur ein paar Tage her, und die Wunden in Zwiesel waren noch nicht verheilt.

Schachtenstein wirkte an diesem heutigen Tage nur deshalb wie ausgestorben, weil viele Männer im wehrfähigen Alter und darüber hinaus in Kriegsgefangenschaft geraten oder im Felde vermisst waren. Die Äcker lagen brach, die Arbeit im Stall ruhte. Die Öfen der Glashütten waren seit Langem erkaltet.

Frauen und Kinder prägten das Ortsbild. Mühsam versuchten sie den Alltag zu gestalten. Der Kramerladen hatte wieder geöffnet. Es gab Brot und Milch, falschen Kaffee und selbst gestrickte Socken. Wer anderes wollte, musste nach Zwiesel fahren oder, wenn er es schaffte, bis nach Passau reisen.

Der Gasthof Stormberger war ein aus der Zeit gefallenes, breit hingelagertes Gebäude mit umlaufendem Balkon im ersten Stockwerk, der bald mit roten und weißen Geranien bestückt werden sollte. Früher einmal hatte er den Stolz seiner Besitzer bedeutet. Heute aber, nach mehrmaligem Eigentümerwechsel, bedurfte die Fassade, wie auch Fenster und Türen, dringend der Renovierung.

Die acht Zimmer waren abgewohnt gewesen; die Betten durchgelegen. Die Schränke hatten nach Moder und Mausdreck gerochen, und die Fenster waren ohne Gardinen.

Der jetzige Besitzer Eugen Pretzlaff war im Winter 1944 aus Wien gekommen, mit nur einem Koffer in der Hand, und hatte zunächst im Anbau eine Bleibe gefunden. In den folgenden Monaten hatte er jeden Raum im Haus gereinigt, kaputtes Mobiliar, so gut es ging, repariert und aus Stoffresten händisch Gardinen genäht. Schließlich war am ersten Mai ein Schild an der Tür gelehnt, worauf geschrieben stand, dass es ab heute Bier und kleine Speisen zu vernünftigen Preisen geben würde.

Auf einer Tafel aus Lindenholz, die über der breiten Eingangstür hing, stand der Spruch:

Rede wenig, rede wahr, trinke mäßig, zahle bar.

Woher Pretzlaff, der zwar gut kochte, aber wenig redete, die Mittel dazu hatte, wurde nie bekannt. Jedenfalls war der kleine Saal im Obergeschoss, wo früher Theater gespielt worden war, am Abend der Eröffnung brechend voll gewesen. Es wurde gelacht, gehandelt und gesoffen, als hätte es nie einen Krieg gegeben.

In der großen Gaststube vom Stormberger hatte sich schon bald ein Stammtisch eingefunden, der unbedingt Friedensstimmung verbreiten wollte und sich bis zur Bewusstlosigkeit dem Kartenspiel ergab. Eine Handvoll Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg hockte hier bei einer Maß zusammen und erklärte, warum der Krieg verloren gegangen war. Dass die Niederlage vor allem ein Akt der Befreiung von der braunen Barbarei gewesen war, darauf kamen sie nicht. Ein paar Buben hatten sich dazugesellt, am Bier genippt und den Geschichten gelauscht, die die Alten erzählten. Später dann, nach der fünften Maß, erklang aus rauer Kehle nicht immer stimmsicher die bodenständige Weise von der seligen Kinderzeit im Böhmerwald, und so manche Träne rann in den steingrauen Bart der Alten.

Was sie selbst in der braunen Zeit gemacht hatten, ob sie in der Partei gewesen waren, ob sie Nachbarn denunziert, Juden schikaniert und ausgeliefert hatten – all das war jetzt vergessen. Hier waren keine Nazis mehr. Nirgendwo in Schachtenstein. Nirgendwo im Zwieseler Winkel. Und nirgendwo mehr im ganzen Bayerischen Wald.

 

Beim Stormberger gab es im Augenblick genügend leere Zimmer. Kein Monteur oder Handelsvertreter fand in diesen Tagen den Weg in das Dorf, geschweige denn ein Sommerfrischler.

Das Problem waren die zurückkehrenden Frontsoldaten. Aus allen Richtungen kamen sie. Abgerissen, hungrig, teilweise noch in den Uniformen der Wehrmacht. Die ganz frechen Burschen trugen sogar noch ihre Waffen. Die Schachtensteiner verzogen sich in die Häuser und kamen erst wieder heraus, wenn die verlotterten Männer fort waren.

Im Gasthaus Pfanzelt, drüben am Waldrand, war nun solch eine Gruppe Kriegsheimkehrer gestrandet und hatte dort ein furchtbares Blutbad angerichtet.

Sofort nach seiner Ankunft war Kommissär Klemm zum Tatort geeilt und hatte die noch rauchenden Trümmer des Gebäudes in Augenschein genommen.

Heute war Montag, der vierzehnte Mai 1945. Die Tat hatte sich am Vormittag des dreizehnten Mai ereignet. Der Mesner und Totengräber Peter Hofmann, genannt Peterl, und ein paar Freiwillige hatten die Leichen geborgen, sie zur Kirche gebracht, wo sie nun in eilig zusammengezimmerten Holzkisten nebeneinander aufgebahrt vor den Altarstufen standen. Die Deckel hatte man verschlossen, um den Besuchern den Anblick der furchtbaren Verletzungen zu ersparen.

Pfarrer August Tecklenburg hatte sie gesegnet. Dem dreiundsechzigjährigen Mann war die Erschütterung deutlich anzusehen gewesen.

Alles befand sich in Auflösung oder im Aufbau, je nachdem, dachte der Kommissär und spannte das nächste Blatt Papier, grau und verblichen, in die Maschine. Jahre würde es dauern, bis sich wieder eine gewisse Ordnung einstellen würde und das geschundene Land seine Ruhe fand. Im Augenblick herrschte das Recht der Sieger. Klemm hatte nichts dagegen. Sehr bald schon würde sich zeigen, was sie aus ihrem Sieg machten.

Jedenfalls war es gut, dass der verdammte Krieg ein Ende hatte. Jetzt musste aufgeräumt werden. Auch mit den Mördern der Familie Pfanzelt.

Nach einer halben Seite legte Klemm eine Pause ein und stand auf. Er könnte jetzt einen starken Kaffee gebrauchen, aber eine solche Köstlichkeit würde er vermutlich in ganz Schachtenstein nicht finden. Seine Vorgesetzten hatten unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat entschieden, ihn an diesen Ort zu schicken, hatten ihm zwei Zimmer im Gasthof Stormberger reserviert und ihm die Schreibmaschine in die Hand gedrückt. Ein Willys-Jeep der Amerikaner hatte ihn in den Ort gebracht und vor der Tür abgesetzt. Der junge GI hatte die Koffer hinauf in das Zimmer geschleppt und war nach Zwiesel zurückgefahren.

Klemm war auf sich gestellt. Er hatte keine Mitarbeiter, denen er die Recherche und die Suche nach Informationen übertragen konnte. Keine Sekretärin, die die Protokolle hätte aufnehmen können. Und es gab niemanden, mit dem Klemm sich austauschen konnte.

Der junge Schnaitz kam ihm wieder ins Gedächtnis. Josef hatte sich als Hilfspolizist mit guten Ortskenntnissen angeboten. Vielleicht sollte man auf den Burschen zurückgreifen. Aber er war nun einmal einer der an der Tat – wenn auch passiv – beteiligten Personen. Hinzu kam, dass Josef Schnaitz als einziger Zeuge des Massakers in permanenter Gefahr schwebte. Wenn ihn Klemm an sich zog, konnte er auf Schnaitz aufpassen und ihm so unter Umständen das Leben retten. Darüber musste man nachdenken, doch Klemm hasste Schnellschüsse.

Der Kommissär gönnte sich einen Schluck Wasser und trat ans Fenster, um auf die menschenleere Straße hinunterzublicken.

Er dachte weiter an den jungen Mann, der das Massaker überlebt hatte. Josef Schnaitz, dreißig Jahre alt, gläubiger Christ, dank Pfarrer Tecklenburg. Was an sich nichts Schlimmes war. Nur diese Fundstelle im Hohelied?

Klemm blätterte im Protokoll und fand die entsprechende Quelle. Aus der Nachttischschublade zog er eine vergilbte Bibel. Er schlug das Hohelied auf, Kapitel vier:

Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge einer Gazelle, die in den Lilien weiden …

Sein Zeigefinger rutschte ein paar Zeilen weiter:

Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel süßer ist deine Liebe als Wein, ein Lustgarten sprosset aus dir …

Hier war wohl kaum vom Messwein die Rede gewesen. Und was sollte der Hinweis auf meine Schwester Braut bedeuten? War Pfarrer Tecklenburg mit Elise intim gewesen? Nun war die junge Frau tot. Die Affäre, wenn sie denn eine gewesen war, damit beendet.

Kommissär Klemm nahm sich vor, Erkundigungen über den Priester einzuziehen. Doch alles der Reihe nach.

Zurück zu Schnaitz. Immer wieder war er bei der Vernehmung ins Stocken geraten, hatte lange Pausen eingelegt, die Brille abgenommen, sie an einem Hemdzipfel geputzt, sie wieder aufgesetzt, um sie sogleich wieder abzunehmen und wiederum mit fahrigen Handbewegungen zu reinigen. Und immer wieder hatte er das silberne Kreuz umfangen, das er an einer Kette um den Hals trug.

Josef Schnaitz hatte, nach eigener Aussage, viel Religion gelernt. Und das Schälen von Kartoffeln.

Als die Rede auf Elise Pfanzelt gekommen war, brach ein Redeschwall aus Josef Schnaitz hervor. Dabei hielt er das silberne Halskreuz vor den Mund gepresst, so fest, dass man die weißen Fingerknöchel erkennen konnte. Klemm nahm sich vor, diese Beobachtung im Auge zu behalten. Josef hatte Elise, obwohl sie mit Bernhard Pfanzelt verheiratet gewesen war, abgöttisch geliebt. Die Frage war: Hatte Elise die Zuneigung des jungen Mannes erwidert? Hatte Bernhard, ihr Ehemann, davon gewusst? Hatte der Altwirt Max Pfanzelt davon gewusst? Und schließlich, wie weit war die Liebe zwischen den beiden jungen Menschen gediehen? Sollte mehr daraus werden? War Elise, dieser Gedanke schoss Klemm plötzlich durch den Kopf, von Josef schwanger gewesen, als sie starb?

War das der Grund für die Fassungslosigkeit von Josef Schnaitz gewesen? Es lag noch viel im Dunkeln, das Klemm ans Tageslicht befördern musste.

Ein zerzauster Veterinär, der mitten im Wald mit ein paar Geißen hauste, hatte die Leichen noch in der Tatnacht untersucht – oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Der Mann war schwerhörig und nahezu blind; auch hatte er es sonst nur mit Kühen und Rössern zu tun gehabt. Doch das war mangels Viehbestand und leeren Pferdeställen Jahre her. Aus diesem Grund erwartete Klemm keine ermittlungsrelevanten Ergebnisse. Die verkohlten Leiber würden alle Geheimnisse für sich behalten und sie mit ins Grab nehmen. Ohne Gerichtsmediziner, das war dem Kommissär bewusst, war die Sache aussichtslos. Dennoch griff sich Klemm seinen Notizblock und notierte, dass er mit dem Veterinär sprechen musste. Auch die Dorfgemeinschaft wollte er befragen, vielleicht nach der Beerdigung von Bernhard, Elise und Maximilian Pfanzelt, wenn alle anwesend waren.

Klemms Blick fiel auf die mitgelieferten Militärakten der mutmaßlichen Mörder. Zuoberst lag die Akte von Michael Dorn, dem Haupttäter. Der Kommissär nahm sie zur Hand und wanderte in dem zum Büro umfunktionierten Zimmer auf und ab, um sich in den Inhalt zu vertiefen.

Michael Dorn, geboren am fünfzehnten April 1900 in Zwiesel, war jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Nach der Volksschule Arbeit als Knecht auf einem Bauernhof in der Nähe. 1932 Eintritt in die NSDAP. Aufstieg zum SS-Sturmbannführer. Dorn galt als aufbrausend, dabei ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Die beigefügte Fotografie zeigte einen bulligen Menschen mit einem pockennarbigen Gesicht. Klemm prägte sich die Visage ein.

Offenbar war Dorn im KZ Sachsenhausen gewesen. Wie passte das zusammen?

Ein SS-Sturmbannführer als Häftling in einem Konzentrationslager? Auf dem nächsten Blatt stand als Begründung, dass Dorn ein unverbesserlicher Wilderer gewesen war, der überall, wo ihn seine Einheit hingeführt hatte, sofort in die Wälder gerannt und alles abgeknallt hatte, was ihm vor die Flinte gekommen war. Nachdem er dabei einen Kameraden, der es ihm gleichtun wollte, angeschossen und schwer verletzt hatte, war es seinen Vorgesetzten zu bunt geworden. Sie hatten ihn nach Sachsenhausen geschickt.

Unwillkürlich musste Klemm schmunzeln. Diesen Empfang im KZ hätte er gerne erlebt.

Doch lange war Dorn nicht im Lager geblieben. Ab Ende Mai 1940 hatte Oskar Dirlewanger notorische Wilderer zum Wilddiebkommando Oranienburg zusammengestellt. Daraus war das Sonderkommando Dirlewanger hervorgegangen. Am Ende des Blattes hatte der Beamte der Militärbehörde mit roter Tinte den Vermerk »Verroht« angebracht.

Es war Klemm noch immer ein Rätsel, wie man Dorns Akte so schnell aufgetrieben hatte. Dennoch hielt er sie nun in Händen. Offenbar war der Begriff »Dirlewanger« die Klammer gewesen.

Bevor er das Dossier wieder zurück auf den Schreibtisch legte, betrachtete er noch einmal aufmerksam Dorns Fotografie. Ein runder Kopf. Gerötetes Gesicht vom üppigen Fleischverzehr und regen Alkoholgenuss. Die Nase mindestens einmal gebrochen. Kleine Augen. Dichter, grau melierter Bart. Der Schädel kahl geschoren. Dieses Gesicht würde der Kommissär nicht so schnell vergessen.

Wieder stand er auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. Er hätte jetzt gern eine Zigarette geraucht. Aber im letzten Kriegsjahr hatte er aufgehört, und das sollte auch so bleiben – Mordfall hin oder her.

Als er sich wieder gesetzt hatte, kreisten seine Gedanken weiter wie ein Polizeiauto in einem Karussell, das an immer den gleichen Stationen und Bildern vorbeifuhr.

Was würde aus Josef Schnaitz werden? Er hatte sowohl den Arbeitsplatz als auch die Wohnstelle verloren. Sicher würde er irgendwo eine Unterkunft finden. Dass er beim ehemaligen NS-Ortsgruppenleiter Staubwasser unterkam, passte Klemm nicht unbedingt. Aber es war besser, als allein in einer verfallenen Hütte zu hausen.

Klemm verstand sehr wohl, warum Schnaitz helfen wollte, die Täter zu fassen. Zum einen galt es, ein Verbrechen aufzuklären. Zum anderen musste der junge Mann unbedingt zu einer geregelten Tätigkeit und damit zu Geld kommen, wollte er eine Zukunft haben und nicht aus Not in die Kriminalität abrutschen oder sich einer der vielen Schmugglerbanden an der Grenze anschließen. Nicht zuletzt wollte Schnaitz vor allem den Mord an seiner Elise aufgeklärt wissen.

Einen weiteren Grund gab es, den Jungen im Auge zu behalten. Die Täter waren auf freiem Fuß. Schnaitz war der einzige Zeuge der Bluttat. Man würde versuchen, ihn zu beseitigen. Damit wäre der Fall gelöst. Jedenfalls für die Mörder der Familie Pfanzelt. Nicht jedoch für einen hartnäckigen Polizisten wie Leo Klemm.

Er riss sich aus seinen Gedanken und setzte sich wieder an die Maschine. Es war weit nach Mitternacht, als er den letzten Punkt tippte.

Noch fand Klemm keine Ruhe. Auf seinem Schreibtisch lagen weitere Akten, die er dringend lesen musste. Es galt, Informationen zu sammeln, die den überlebenden Mittäter Friedrich Berner betrafen. Er war zusammen mit dem getöteten Sturmbannführer Ruppert Waller in der Gaststätte Pfanzelt gewesen.

Ihnen gemeinsam war, so hatten die vorläufigen Recherchen ergeben, die Mitgliedschaft in eben jenem Sonderkommando Dirlewanger.

Das Sonderkommando war Ende 1940 im polnischen Generalgouvernement Lublin in den Befehlsbereich des höheren SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik aufgerückt. Ab Februar 1942 dann zur Partisanenbekämpfung nach Weißrussland versetzt worden, wo es Curt von Gottberg zugewiesen wurde. Ab dem elften November 1942 trug es die Bezeichnung »SS-Sonderbataillon Dirlewanger«, später wurde das »SS-Sonderregiment Dirlewanger« daraus. Mitte 1944 wurde das Regiment dann zur »SS-Sturmbrigade Dirlewanger« umbenannt.

Angewidert blätterte Leo Klemm in den Unterlagen und betrachtete die Fotos der Männer. Da Waller tot war, erschossen von Elise Pfanzelt, legte der Kommissär dessen Akte zur Seite.

Friedrich Berner, der andere überlebende Mittäter des Massakers, geboren 1908 in Zwiesel, war 1930 in die NSDAP eingetreten. Er hatte eine Lehre als Maler abgeschlossen und galt als ein Mann, der alles und jedes organisierte, was in Kriegszeiten von Wert war. Auf dem Bild wirkte er schmal und unnatürlich stolz. Das blonde Haar streng gescheitelt. Zudem ließ sich der Eindruck gewinnen, dass der alleinstehende Mann gern maskuline Burschen um sich scharte. Es fand sich zwar nichts darüber in der Akte, aber Klemm ging davon aus, dass Friedrich Berner homosexuell war. Die Fotografie zeigte ihn in der Uniform eines SS-Rottenführers. Ebenso wie Dorn war Berner nach der Tat sofort abgetaucht. Nun galt es, die beiden möglichst schnell dingfest zu machen. Das hörte sich einfacher an, als es tatsächlich war. Leo Klemm hatte keine Ahnung, wo er in den Wirren des Kriegsendes mit der Suche beginnen sollte. Hier waren der Spürsinn und der Instinkt des erfahrenen Ermittlungsbeamten gefordert.

 

Er legte eine Landkarte von Bayern auf den großen Besprechungstisch. Nach Passau war es nicht weit, und damit auch nicht nach Österreich. München erschien als weitere Option. Der Osten war versperrt, insbesondere für ehemalige Angehörige der Waffen-SS. Was lag näher, als zunächst einmal die Familie von Michael Dorn in Schachtenstein aufzusuchen?

Der Kommissär verstaute die Landkarte wieder in der dazugehörigen Mappe. Dann legte er die Akten aufeinander, zuoberst die des mutmaßlichen Haupttäters Dorn. Sie würde er morgen zur Befragung von dessen Ehefrau mitnehmen. Klemm löschte das Licht und begab sich in seine karge Schlafkammer. Als er zu Bett ging, schlug es vom Kirchturm zweimal.