Tugenden für eine bessere Welt

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c) Das ökologische Zeitalter der Globalisierung

Zeitgenössische Kosmologen und Anthropologen wie Brian Swimm und Thomas Berry bezeichnen unsere Zeit als das Ökozoikum. Es ist das Zeitalter, das dem Känozoikum folgt, das vor 65 Millionen Jahren begann, nachdem die Dinosaurier durch eine Katastrophe ausgerottet worden waren und die Säugetiere eine bis dahin einmalige Entwicklung durchmachten. Wir, die Menschen, tauchten als komplexe und hoch entwickelte Säugetiere im Verlauf des Känozoikums auf.

Nach und nach bricht eine neue Ära an, die sich durch eine neue gemeinsame Hochachtung, Verehrung und Zusammenarbeit zwischen Erde und Mensch auszeichnet. Es handelt sich um die Ära der ganzheitlichen Ökologie: daher auch der Name Ökozoikum. Die Menschen nehmen die Tatsache ernst, ein Moment innerhalb eines Gesamtprozesses von Abermilliarden anderen Momenten zu sein. Sie werden sich dessen bewusst, dass sie ein Netz von lebendigen Beziehungen bilden, für welche sie mitverantwortlich sind. Sie können das Leben, die Ökosysteme und die Zukunft Gaias entweder stärken oder sie weiterhin bedrohen, sie können das Scheitern heraufbeschwören und die Biosphäre vernichten.

Nach so vielen Eingriffen in die Rhythmen der Natur werden wir uns dessen bewusst, dass wir das, was von der Natur noch übrig ist, erhalten müssen und dass wir sie von den Wunden heilen müssen, die wir ihr zugefügt haben.

Diese Sorge muss alle betreffen und die neue Ära der Globalisierung begründen. Der utopische Traum dieser Phase ist es, den Menschen zu humanisieren zu versuchen – den Menschen, der vor der Herausforderung steht, ausgehend von seiner Besonderheit als gemeinschaftsfähiges, kooperatives, zum Mitleid fähiges und ethisches Wesen zu leben, das in seinem Handeln die Verantwortung dafür übernimmt, dass es dem Ganzen zum Wohl gereicht. Diese Utopie muss innerhalb der Widersprüche, wie sie für jeden historischen Prozess unvermeidlich sind oder wie sie aus Interessenskonflikten hervorgehen, konkrete Gestalt annehmen. Doch sie wird einen neuen Horizont der Hoffnung erschließen, der den Weg der Menschheit in die Zukunft ermöglicht.

Aus dieser Sichtweise geht eine neue Ethik hervor. Von allen Richtungen her werden anfanghaft Kräfte sichtbar, die ein neues menschliches und ökologisches Verhaltensmuster anstreben oder bereits ausprobieren. So groß die Schwierigkeiten auch sein mögen: Es wird immer stärker werden und schließlich die Oberhand gewinnen. Es wird das werden, was Teilhard de Chardin die Noosphäre nannte. Es wird jene Sphäre sein, innerhalb derer das Denken und die Herzen der Menschen eine neue, fein abgestimmte Harmonie bilden, die sich durch zunehmende Durchdringung von Liebe, durch Fürsorge, durch gegenseitige Anerkennung aller, durch eine zunehmende spirituelle Sinngebung der gemeinsamen Vorhaben auszeichnen wird. Die Menschen werden in ihrem Planen zusammenwirken, um den Frieden sicherzustellen, um die Integrität der Schöpfung zu gewährleisten und um die ausreichende und sogar im Überfluss vorhandene materielle Basis für die gesamte Gemeinschaft des Lebens zu sichern. Befreit von den Fesseln unserer konsumistischen und überheblichen Zivilisation, können wir in wahrhaft menschlicher Weise als Brüder und Schwestern zusammenleben, und wir werden imstande sein, das Lokale mit dem Globalen, die Teile mit dem Ganzen zu verknüpfen, Arbeit mit Poesie zu verbinden, Effizienz mit Großzügigkeit in Einklang zu bringen und die Subjektivität wiederherzustellen; wir werden als Söhne und Töchter zusammen im Hause zu spielen und zu loben verstehen.

Dieses Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit von Erde und Menschheit wird auf eindrucksvolle Weise von jenem Blick auf den Planeten gestärkt, den uns die Astronauten ermöglicht haben. Von ihren Raumschiffen oder vom Mond aus teilten sie uns ihren tief empfundenen Eindruck mit, wie wir es der Aussage des Astronauten Gene Cernan entnehmen können:

„Ich war im Dezember 1972 der letzte Mensch, der den Mond betrat. Von der Oberfläche des Mondes aus schaute ich mit ehrfurchtsvollem Schauder auf die Erde in einem sehr dunklen Blau. Was ich sah, war zu schön, als dass man es begreifen könnte, zu logisch, sinnerfüllt, als dass es bloß das Ergebnis eines kosmischen Unfalls sein könnte. Man fühlte sich innerlich dazu gedrängt, Gott zu loben. Gott muss existieren, weil er das geschaffen hat, was ich betrachten durfte.“ Sigmund Jähn, ein anderer Astronaut (der erste Deutsche, aus der damaligen DDR, im Weltraum, im Jahr 1978; d. Übers.), brachte nach seiner Rückkehr zur Erde den Bewusstseinswandel, den er vollzogen hat, folgendermaßen zum Ausdruck: „Die politischen Grenzen sind in gewisser Weise bereits überwunden. Auch die Grenzen zwischen den Staaten sind überwunden. Wir bilden ein einziges Volk, und jeder Einzelne trägt Verantwortung für die Erhaltung des fragilen Gleichgewichts der Erde. Wir sind ihre Hüter und müssen für die gemeinsame Zukunft Sorge tragen.“

Diese Wahrnehmung der Erde von außerhalb der Erde lässt eine neue Sakralität entstehen. Das Gefühl der Ehrfurcht und des Respekts wird erweckt. Vielleicht war das der geheime, tiefere Sinn der Reisen ins Weltall, was mit einem feinen Gespür von J. P. Allen zum Ausdruck gebracht wurde:

„Das Für und Wider der Expeditionen zum Mond wurde heftig diskutiert. Ich habe dabei niemanden sagen hören, dass wir zum Mond aufbrechen müssen, um die Erde von dort aus sehen zu können. Alles in allem war dies sicherlich der wahre Grund dafür, dass wir die Reise zum Mond unternommen haben.“

Und vom Mond aus betrachtet gibt es keinen Unterschied zwischen Erde und Menschheit, zwischen Schwarzen und Weißen, Einfältigen und Klugen. Wir alle bilden eine Einheit, die Menschheitsfamilie. Die Menschheit befindet sich nicht nur auf der Erde, sie ist vielmehr selbst Erde, die, wie wir bereits sagten, empfindet, die sich um sich selbst bewegt, die liebt, die sich sorgt und die verehrt.

Wenn dieses Bewusstsein Dauerhaftigkeit gewinnt, stets vorhanden ist, ohne dass wir explizit daran denken müssen, dann bedeutet das, dass wir bereits im Ökozoikum leben. Wir müssen uns noch sehr entwickeln, damit dieses Bewusstsein zum Allgemeingut wird. Doch die ersten Schritte sind bereits getan. Allmählich, nach und nach, wird es uns durchdringen und alles erfüllen. Dann werden wir eine neue Stufe unserer Entwicklung erklommen haben.

Die Erdcharta ist von der Sichtweise des Ökozoikums geprägt. In der Einleitung heißt es: „Die Menschheit ist Teil eines sich ständig fortentwickelnden Universums. Unsere Heimat Erde bietet Lebensraum für eine einzigartige und vielfältige Gemeinschaft von Lebewesen . . . Der Geist menschlicher Solidarität und die Einsicht in die Verwandtschaft alles Lebendigen werden gestärkt, wenn wir in Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Seins, in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Platzes der Menschen in der Natur leben . . . Unsere ökologischen, sozialen und spirituellen Herausforderungen sind miteinander verknüpft, und nur zusammen können wir umfassende Lösungen entwickeln . . . Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten. Notwendig sind grundlegende Änderungen unserer Werte, Institutionen und Lebensweise.“ (Erdcharta 2001, 7 – 8)

Trotz aller Hindernisse aus dem Eisenzeitalter der Globalisierung vollziehen sich diese Veränderungen im Schoß der Menschheit, unter den Jugendlichen, bei den Studenten, bei den Arbeitern, Technikern, Forschern, Ordensleuten und schließlich bei so vielen Menschen, die nicht länger die Geiseln eines entmenschlichenden und den Horizont des Glücks zerstörenden Paradigmas sein wollen. In alternativer Weise engagieren sie sich dafür, ausgehend von sich selbst, Revolutionen im Kleinen anzuzetteln, die auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaft ausstrahlen.

Damit diese menschliche Globalisierung, diese Globalisierung des Ökozoikums sich durchsetzen und Fuß fassen kann, brauchen wir einige grundlegende Tugenden, die alle mit der Gastfreundschaft, dem Zusammenleben, der Toleranz und der Tischgemeinschaft mit den Anderen, dem Andersartigen und Fremden, zu tun haben. Darum geht es uns in unseren Überlegungen.

Die Zeit des Exils ist nun vorbei. Jetzt finden sich alle Stämme der Erde in der großen Gemeinschaft zusammen, unter einem gemeinsamen Dach, im Schoß der großen und großzügigen Mutter Erde. Endlich . . .

III. Der Mythos der Gastfreundschaft

In den bisherigen Kapiteln haben wir die kosmologischen, biologischen, anthropologischen und historischen Grundlagen des aktuellen Globalisierungsprozesses erörtert. Wir haben die Sackgassen gesehen, in die er führt, und haben die wahrhaften Dramen und Tragödien gesehen, die bestimmte Entwicklungen darstellen könnten. Doch wir haben auch auf die Chancen hingewiesen, die nicht verpasst werden dürfen, wenn uns der Sprung auf eine höhere Ebene des Menschseins und des Planeten Erde selbst gelingen soll.

Damit sich eine Globalisierung im wohlverstandenen Sinne ereignen kann, bedarf es einiger Tugenden als Impulsgeber. Sie allein reichen nicht aus. Sie bedürfen technischer und politisch-sozialer Vermittlungen. Es verhält sich wie mit einem Flugzeug, das nach dem neuesten Stand der Technik konstruiert ist. Wenn sich die Antriebsturbinen nicht in perfektem Zustand befinden, wird das Flugzeug nicht abheben können. Diese Tugenden sind wie der steuernde Antrieb für das neue Paradigma der Globalisierung. Ohne sie würde der jetzige Kurs beibehalten und könnte zu einem tragischen Ende von Menschheit und Planet führen. Deshalb ist es so wichtig, jede einzelne dieser Tugenden genau zu studieren und dafür zu sorgen, dass sie schon jetzt als die bestimmenden Prinzipien der Zukunft gelebt werden, und zwar auf persönlicher, gemeinschaftlicher und kollektiver Ebene.

 

Wir beginnen mit der ersten dieser Tugenden, mit der Gastfreundschaft als Grundhabitus. Wir werden sie im Lichte eines Mythos aus der griechischen Tradition betrachten, dem Mythos von Philemon und Baukis. Dieser Mythos wurde uns vom römischen Dichter Publius Ovidius Naso (43 – 34 v. Chr.) überliefert. Er schrieb ein Werk, das fünfzehn Bücher umfasst, die Metamorphosen. Hier behandelt er die Verwandlung von Menschen in Tiere, Pflanzen, Felsen und, wie wir noch sehen werden, in Tempel. Darin erzählt er auch den Mythos von Philemon und Baukis. Wir geben ihn hier in freier Form wieder, um ihn für heute besser verständlich zu machen:

Eines Tages beschlossen Jupiter, der Vater und Schöpfer von Himmel und Erde, und sein Sohn Hermes, der Ursprung aller Kommunikation (von ihm kommt das Wort „Hermeneutik“), sich als arme Leute zu verkleiden. Sie wollten in diesem Aufzug ins Reich der Sterblichen gehen, um zu sehen, wie es mit der Schöpfung bestellt sei, die sie in Gang gesetzt hatten. Jupiter legte all seine Herrlichkeit ab, und Hermes entledigte sich seiner beiden Flügel (seines wichtigsten Symbols) und all seines übrigen Schmucks. Sie sahen tatsächlich wie arme Wanderer aus.

Sie durchstreiften weite Landstriche und trafen viele Leute. Die einen oder anderen baten sie um Hilfe. Niemand streckte ihnen die Hand entgegen. Sie wurden schlecht behandelt und bekamen Beleidigungen zu hören. Des Öfteren wurden sie mit Gewalt von der Schwelle gewiesen. Viele sahen sie nicht einmal an. Was sie am meisten schmerzte: nicht einmal angeschaut zu werden, als wären sie räudige Hunde aus verlassenen Häusern. Deshalb litten sie Hunger und ertrugen allerlei Entbehrungen.

Nachdem sie schon viel gewandert waren und sich von allen verlassen fühlten, ersehnten sie nichts so sehr wie frisches Wasser zum Trinken, eine warme Mahlzeit, ein lauwarmes Bad für die Füße und ein Bett zum Ausruhen. Sie träumten von einem Mindestmaß an Gastfreundschaft!

Eines Tages kamen sie nach Phrygien, eine der entlegensten und ärmsten Provinzen des Römischen Reiches, wohin man Aufrührer und Verbrecher verbannte. Dort lebte ein sehr armes Ehepaar. Er hieß Philemon, was auf Griechisch so viel bedeutet wie „Freund und liebenswert“, und sie hieß Baukis, das heißt „empfindsam und zärtlich“.

Auf einer kleinen Anhöhe hatten sie ihre Hütte erbaut, in ländlichem Stil, aber dennoch sehr sauber. Hier hatten ihre Herzen, als sie noch jung waren, zueinandergefunden. Die innige Liebe machte das Leid leicht. Sie lebten in großem Frieden und in Harmonie, denn sie machten alles gemeinsam, und stets halfen sie einander. Der befahl, war gleichzeitig der, der gehorchte. Sie waren schon in die Jahre gekommen und müde von der Arbeit und der Last des Tages.

Jupiter und Hermes, als arme Sterbliche verkleidet, kamen also zu dieser Hütte. Sie klopften an die Tür. Der gute alte Philemon erschien – zu ihrer Überraschung – lachend an der Tür, und ohne lange nachzufragen, sagte er: „Ihr Fremden müsst sehr müde und hungrig sein. Kommt herein in unser Haus. Es ist armselig, aber es ist alles da, um euch aufzunehmen.“

Die Unsterblichen mussten sich bücken, um einzutreten. Drinnen spürten sie die wohltuende Ausstrahlung der herzlichen Aufnahme und der Gastfreundschaft. Baukis, die „empfindsame und zärtliche“, beeilte sich, ihnen zwei Stühle anzubieten, das heißt vielmehr zwei Hocker aus rustikalem Holz. Und sie holte frisches Wasser von der Quelle hinter der Hütte.

Philemon seinerseits schickte sich an, das fast erloschene Feuer für die Nacht wieder zu entfachen. Er blies in die Asche. Er nahm dünne Zweige und größere Holzscheite, schichtete sie über der Glut auf und setzte den Topf mit Wasser auf, um ihn zu erwärmen. Binnen kurzer Zeit schon war das Wasser lauwarm.

Baukis legte ihre geflickte Schürze an und begann, Jupiter und Hermes die Füße zu waschen, indem sie lauwarmes Wasser über ihre Beine bis fast zum Knie hoch goss, damit sie sich wirklich erholen konnten.

Philemon ging in den Garten hinter der Hütte und sammelte einige Blätter und Gemüse ein, während Baukis ins Obergeschoss ging, wo auf einer Stange das letzte Stück Speck hing, das noch übrig war. Sie dachten sogar daran, die einzige Gans, die sie besaßen, zu opfern – die Gans, die auch die Hütte bewachte. Doch die Unsterblichen hinderten sie mit Entschlossenheit daran. Ihre Augen füllten sich indessen mit Tränen der Rührung.

In einem recht alten irdenen Topf kochten sie das Gemüse mit dem Speck. Ein guter Duft von Hausmannskost breitete sich in der Hütte aus und ließ Jupiter und Hermes, die großen Hunger hatten, das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Baukis nahm von dem trüben und fetten Öl, das sie selbst herstellten, und träufelte es auf die Suppe. Große Fettaugen bildeten sich an der Oberfläche. Nachdem sie den Topf von der Feuerstelle genommen hatte, nahm sie einige Eier und legte sie auf die heiße Asche. Philemon erinnerte sich an den Wein, den er in einer dunklen und verstaubten Flasche in einem Winkel des Hauses als Medizin aufbewahrte. Es waren auch noch einige Stücke Brot vom Vortag übrig. Sie wärmten sie am Feuer auf.

Die Gastfreundschaft und die Atmosphäre des Wohlwollens, die von den beiden Alten ausging, ließ die Wartezeit vergessen. Und plötzlich stand alles auf sauberen Tellern auf dem Tisch.

„Liebe Gäste, lasst uns essen, denn nach all den Mühen habt ihr es verdient. Entschuldigt die schlichte und armselige Kost.“

Und obwohl Philemon und Baukis schon gegessen hatten, setzten auch sie sich an den Tisch, um mit ihnen Mahl zu halten und sie nicht zu beschämen. Alle aßen sich satt bei einem angeregten Gespräch voller gegenseitiger Hochachtung.

Dann erhoben sich Philemon und Baukis und holten Nüsse, trockene Feigen und Datteln aus einer Truhe hervor, wo sie die Teller und Kerzen aufbewahrten, und servierten sie als Nachtisch.

Schließlich boten die beiden alten Leute den Gästen ihr eigenes Bett an, das einzige, das es in der Hütte gab. Zusammen machten sie sich daran, es vorzubereiten. Sie bezogen es mit frischen, wenn auch sichtlich abgenutzten Laken. Über das Bett breiteten sie eine besondere Decke, einen alten Teppich, den sie für die Feste aufbewahrten. Jupiter und Hermes konnten ihre Rührung nicht verbergen. Tränen stiegen in ihre Augen.

Jupiter und Hermes wollten sich zur Ruhe begeben und gingen auf das Bett zu. Da plötzlich brach ein schweres, überraschendes Gewitter los. Blitze erleuchteten die Hütte, und Donner rollte durch das Tal draußen. Mit einem Mal stieg das Wasser an und bedrohte Mensch und Tier.

Philemon und Baukis entschuldigten sich bei den Unsterblichen und erhoben sich schnell, um den Nachbarn zu Hilfe zu eilen.

Und genau da vollzog sich nun die große Verwandlung. Das Gewitter war auf einmal vorbei. Und in einem Augenblick wurde die Hütte in einen leuchtenden Tempel aus Marmor verwandelt. Säulen in ionischem Baustil schmückten den Eingang. Das Dach aus Gold glänzte in der Sonne, die gerade erst die Wolkendecke durchbrochen hatte. Schließlich offenbarten Jupiter und Hermes, wer sie waren, und zeigten sich als Götter im vollen Glanze ihrer Herrlichkeit.

Philemon und Baukis erstarrten; sie waren voller Freude und zugleich von ehrfurchtsvollem Schauder erfüllt. Sie warfen sich auf die Knie und neigten das Haupt bis zum Boden zum Zeichen der Anbetung.

Jupiter, der Herr des Himmels und der Erde, der Sonne und der Winde, sagte, nachdem er das Gewitter besänftigt hatte, voller Güte:

„Freund und Liebenswerter, Philemon, und du, seine Frau, Empfindsame und Zärtliche, Baukis, sprecht eine Bitte aus, die ich, Jupiter, euch zum Dank gewähren kann.“

Baukis neigte sich zu Philemon und legte ihr ergrautes Haupt an seine Brust. Und als ob sie es vorher abgesprochen hätten, sagten sie gleichzeitig:

„Unser Wunsch ist es, euch in diesem Tempel für den Rest unserer Tage zu dienen.“

Und Hermes fügte hinzu:

„Auch ich will, dass ihr eine Bitte äußert, dass ich, Hermes, sie euch erfüllen kann.“

Und wieder flüsterten sie gemeinsam, als hätten sie es zuvor abgesprochen:

„Nachdem wir so lange in Liebe und so großer Eintracht verbunden waren, möchten wir gerne zusammen sterben. Auf diese Weise muss sich der eine nicht um das Grab des anderen kümmern.“

Ihre Wünsche wurden gehört, und sie erhielten das Versprechen, dass sie erfüllt würden.

Tatsächlich dienten Philemon und Baukis, das gastfreundliche Ehepaar, viele Jahre lang im Tempel, solange sie am Leben waren.

Eines Tages saßen sie am frühen Abend im Hof, dachten an die Geschichte jenes Ortes und daran, wie sie, ohne es zu wissen, die Götter in ihrer Hütte als Gäste beherbergt hatten. In diesem Augenblick sah Philemon, wie sich der Leib von Baukis mit Zweigen und Blüten schmückte, vom Kopf bis zu den Füßen. Und auch Baukis sah, dass der Leib Philemons ganz und gar von grünen Blättern bedeckt wurde. Sie konnten kaum zusammen den letzten Abschiedsgruß hervorstammeln, denn die große Verwandlung wurde vollendet. Philemon wurde in eine riesige Eiche verwandelt, und Baukis in eine Linde mit dichtem Blätterschmuck. Ihre Kronen und Zweige umschlangen sich in der Höhe. Und in dieser Umarmung blieben sie für immer vereint.

Wer in diese Gegend (Phrygien, in der heutigen Türkei gelegen) kommt, wird auch heute noch diese phantastische Geschichte hören, die von Generation zu Generation weitererzählt wird. Man kann die beiden jahrhundertealten Bäume Seite an Seite mit ineinander verschlungenen Kronen und Zweigen sehen. Sie erinnern an Philemon und Baukis, dieses gastfreundliche Paar, und die Verwandlung, die ihnen aufgrund ihrer Gastfreundschaft zuteil wurde.

Und die ganz Alten wiederholen die daraus zu ziehende Lehre bis auf den heutigen Tag: Wer den Pilger, den Fremden und den Armen aufnimmt, der nimmt Gott selbst auf. Wer Gott aufnimmt, der wird zum Tempel Gottes. Wer die Fremden zu seinen Tischgenossen macht, dessen Erbe wird selige Unsterblichkeit sein.