Die wirkliche Lage in Rußland

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Lage der Arbeiterklasse und die Gewerkschaften

Die Oktoberrevolution hat zum ersten Male in der Geschichte ein Proletariat zur herrschenden Klasse eines riesigen Staates gemacht. Unsere Verstaatlichung der Produktionsmittel war ein entschiedener Schritt in der Richtung auf die sozialistische Umwandlung jenes ganzen sozialen Systems, das auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen begründet war. Unsere Einführung des Achtstundentages war der erste Schritt zu einer gewaltigen Hebung der materiellen und kulturellen Existenzbedingungen der Arbeiterklasse. Trotz der Armut des Landes gaben unsere Arbeitsgesetze den Arbeitern – selbst den rückständigsten, die früher jeder Gruppenverteidigung beraubt waren – gesetzliche Garantien, wie sie die reichsten kapitalistischen Staaten niemals gaben und niemals geben werden. Die Gewerkschaften, die jetzt zu unendlich wichtigen Werkzeugen in der Hand einer regierenden Klasse geworden waren, erhielten die Möglichkeit, Massen zu organisieren, die ihnen unter andern Umständen völlig unzugänglich geblieben wären, und zugleich direkt den gesamten politischen Kurs des Arbeiterstaates zu beeinflussen.

Es ist die Aufgabe der Partei, die weitere Entwicklung dieser größten geschichtlichen Eroberungen zu sichern – das heißt, sie mit einem echten sozialistischen Geist zu erfüllen. Unser Erfolg auf diesem Wege wird durch die tatsächlichen nationalen und internationalen Verhältnisse, durch die richtige Art unseres Vorgehens und die praktischen Fähigkeiten unserer Führerschaft entschieden werden.

Der entscheidende Faktor bei der Abschätzung der Vorwärtsbewegung unseres Landes auf dem Wege zum Sozialismus muß neben dem Anwachsen unserer Produktivkräfte und der Herrschaft der sozialistischen Elemente über die Kapitalisten vor allem eine entschiedene Verbesserung der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse sein. Diese Verbesserung müßte sich zeigen auf materiellem Gebiete (Zahl der in der Industrie beschäftigten Arbeiter, Steigerung der realen Löhne, Charakter des Arbeiterbudgets, Lebensbedingungen, ärztliche Hilfe, usw.), auf politischem Gebiete (Partei, Gewerkschaften, Sowjets, kommunistische Jugendorganisationen) und schließlich auf kulturellem Gebiete (Schulen, Bücher, Zeitungen, Theater). Die Bemühung, die wirklichen konkreten Interessen der Arbeiter in den Hintergrund zu schieben und sie unter dem verächtlichen Namen eines »Gildensozialismus« dem allgemeinen historischen Interesse der Arbeiterklasse gegenüberzustellen, ist theoretisch falsch und politisch gefährlich.

Die Einziehung des Mehrwerts durch einen Arbeiterstaat ist natürlich keine Ausbeutung. Aber zunächst haben wir einen Arbeiterstaat in bureaukratischer Verzerrung. Der angeschwollene und privilegierte Verwaltungsapparat verschlingt einen ganz beträchtlichen Teil unseres Mehrwerts. Zweitens ist es die anwachsende Bourgeoisie, die durch den Zwischenhandel und das Spekulieren mit den unnormalen Preisunterschieden einen großen Teil des von unserer Staatsindustrie geschaffenen Mehrwerts einsteckt.

Im allgemeinen haben während dieser Umwandlungsperiode die Zahl der Arbeiter und ihre Existenzbedingungen sich nicht nur absolut, sondern auch relativ – das heißt im Verhältnis zum Anwachsen der andern Klassen – gehoben. Aber in der jüngsten Zeit ist da ein scharfer Umschwung eingetreten. Das zahlenmäßige Anwachsen der Arbeiterklasse und die Verbesserung ihrer Lage haben fast aufgehört, während das Anwachsen ihrer Feinde andauert und sogar ein beschleunigtes Tempo annimmt. Dies führt unvermeidlich nicht nur zu einer Herabsetzung der Lage der Fabrikarbeiter, sondern auch zu einer Herabsetzung der relativen Bedeutung des Proletariats in der Sowjetgesellschaft.

Die Menschewisten, die Spione der Bourgeoisie unter den Arbeitern, weisen triumphierend auf das materielle Elend unter unseren Arbeitern hin. Sie versuchen, das Proletariat gegen den Sowjetstaat aufzuwiegeln und unsere Arbeiter dahin zu bringen, die bürgerlich-menschewistische Parole »Zurück zum Kapitalismus«, anzunehmen. Der selbstzufriedene Staatsbeamte, der in der Forderung der Opposition, die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern, »Menschewismus« sieht, leistet damit dem Menschewismus den bestmöglichen Dienst. Er treibt die Arbeiter unter dessen gelbes Banner.

Um Schwierigkeiten zu überwinden, ist es notwendig, sie zu kennen. Es ist notwendig, gerecht und ehrlich unsere Erfolge und Fehlschläge an der wirklichen Lage der arbeitenden Klassen zu prüfen.

Die Lage der Arbeiter

Unsere Periode des Wiederaufbaus brachte bis zum Herbst 1925 ein genügend schnelles Anwachsen der Löhne. Aber die beträchtliche Abnahme der Reallöhne, die 1926 begann, wurde erst mit Beginn des Jahres 1927 überwunden. Die Monatslöhne in den ersten zwei Quartalen des Fiskaljahres 1926–1927 betrugen im Durchschnitt in der großen Industrie in Moskauer Rubeln: 30 Rubel 67 Kopeken und 30 Rubel 33 Kopeken – gegen 29 Rubel 68 Kopeken im Herbst 1925. Im dritten Quartal betrug – nach einstweiligen Berechnungen – der Lohn 31 Rubel 62 Kopeken. Es sind also die Reallöhne im gegenwärtigen Jahr ungefähr auf der Höhe vom Herbst 1925 stehen geblieben.

Natürlich sind die Löhne und die allgemeine materielle Lage von besonderen Arbeiterkategorien und in besonderen Bezirken – vor allem in Moskau und Leningrad – zweifellos höher als dieser Durchschnitt. Dafür bleibt aber die materielle Lage anderer, sehr ausgedehnter Arbeiterschichten beträchtlich unter diesen Durchschnittszahlen.

Überdies bezeugen alle Statistiken, daß das Anwachsen der Löhne hinter der zunehmenden Produktivität der Arbeit zurückbleibt. Die Intensität der Arbeit vermehrt sich – die schlechten Arbeitsbedingungen bleiben die gleichen.

Die Erhöhung von Löhnen wird mehr und mehr an die Bedingung einer stärkeren Intensität der Arbeit geknüpft. Diese neue Tendenz, die unvereinbar mit einem sozialistischen Entwicklungsgang ist, hat der Zentralausschuß noch durch seine bekannte Resolution über Rationalisierung verstärkt. Der vierte Kongreß der Sowjets nahm ebenfalls diese Resolution an. Eine solche Politik bedeutet aber nichts anderes, als daß ein durch technische Entwicklung herbeigeführter Wohlstand (vergrößerte Produktivität der Arbeit) nicht von selbst auch zu einer Erhöhung der Löhne führt.

Das geringe numerische Anwachsen der Arbeiter bedeutet eine Abnahme der Zahl der arbeitenden Glieder jeder Familie. In wirklichen Rubeln hat sich das Ausgabenbudget der Arbeiterfamilie seit 1924–1925 gesenkt. Das Anwachsen der Kosten für Wohnungen hat den Arbeiter gezwungen, einen Teil seiner Wohnung zu vermieten. Die Arbeitslosen belasten direkt oder indirekt den Etat der Arbeiter. Das schnelle Anwachsen des Verbrauchs von alkoholischen Getränken belastet seinen Etat. In der Gesamtsumme haben wir eine ersichtliche Senkung seiner Lebenshaltung. Die Rationalisierung der Produktion, die jetzt eingeführt worden ist, wird unvermeidlich die Lage der Arbeiterklasse noch mehr herabbringen, wenn sie nicht von einer Ausdehnung der Industrie und des Handels begleitet ist, die die entlassenen Arbeiter aufnimmt. In der Praxis kommt »Rationalisierung« oft auf das »Hinauswerfen« von Arbeitern und auf eine Verschlechterung der materiellen Lage der andern hinaus. Dieses erfüllt unvermeidlich die Masse der Arbeiter mit einem Mißtrauen gegen die Rationalisierung selbst.

Bei einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist es immer die schwächste Gruppe, die am meisten leidet: die der ungelernten Arbeiter, der Saisonarbeiter, der Frauen und der Jugendlichen.

Im Jahre 1926 gab es eine ersichtliche Senkung der Löhne der Frauen, verglichen mit denen der Männer, und zwar in fast allen Zweigen der Industrie. Unter den ungelernten Arbeitern in drei verschiedenen Zweigen der Industrie betrug das Einkommen der Frauen im März 1926 nur 51,8 Prozent, 61,7 Prozent und 83 Prozent des Einkommens der Männer. Notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Frauen in solchen Zweigen wie die Torfindustrie, das Verladen und Ausladen usw. sind nicht ausgeführt worden. Die Durchschnittslöhne von Jugendlichen sind im Verhältnis zu den allgemeinen Arbeiterlöhnen in einer ständigen Senkung begriffen. Im Jahre 1923 betrugen sie 47,1 Prozent, 1924 45 Prozent, 1925 43,4 Prozent, 1926 40,5 Prozent, 1927 39,5 Prozent.

Im März 1926 erhielten 49,5 Prozent der Jugendlichen weniger als 20 Rubel. Die Aufhebung der Bestimmung, daß in jedem Industriebetrieb auf eine gewisse Anzahl von Arbeitern eine bestimmte Zahl von Jugendlichen eingestellt werden mußte, war ein schwerer Schlag für die arbeitende Jugend und die Arbeiterfamilien. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist in starkem Anwachsen begriffen.

Landarbeit

Von den annähernd dreiundeinhalb Millionen Lohnarbeitern auf dem Lande sind 1 600 000 ländliche Hilfsarbeiter, Männer und Frauen. Nur 20 Prozent von diesen Hilfsarbeitern sind in Gewerkschaften organisiert. Die staatliche Eintragung der Lohnkontrakte, die oft so niedrig sind, daß sie praktisch Sklaverei bedeuten, hat kaum begonnen. Die Löhne der Landarbeiter befinden sich gewöhnlich unter dem gesetzlichen Minimum – und dies oftmals sogar auf den Sowjetgütern. Die realen Löhne erheben sich im Durchschnitt nicht über 63 Prozent des Vorkriegsstandes. Der Arbeitstag dauert selten weniger als zehn Stunden. In der Mehrzahl der Fälle ist er tatsächlich unbegrenzt. Löhne werden unregelmäßig bezahlt, oft erst nach unerträglichem Zögern. Diese elende Lage der Lohnarbeiter ist nicht nur eine Folge der Schwierigkeiten, wie sie der Aufbau des Sozialismus in einem rückständigen, bäuerlichen Lande ergibt. Sie ist auch ohne jeden Zweifel eine Folge des falschen Kurses, der in seiner wirklichen Betätigung hauptsächlich auf die oberen Schichten und nicht auf die unteren Schichten des Dorfes achtet. Wir müssen einen allseitigen, systematischen Schutz der Lohnarbeiter, nicht nur gegen den Kulak, den reichen Bauern, sondern auch gegen den sogenannten wohlhabenden Mittelbauern, einrichten.

 

Die Wohnfrage

Der normale Wohnraum für die Arbeiter ist in der Regel beträchtlich kleiner als der durchschnittliche Raum der gesamten städtischen Bevölkerung. Die Arbeiter in den großen Industriestädten sind in dieser Hinsicht der am ungünstigsten gestellte Teil der Bevölkerung. Die Verteilung des Raumes zum Wohnen ergab in einer Reihe von daraufhin untersuchten Städten für einzelne soziale Gruppen folgendes:

Für den Industriearbeiter 5,6 Quadratmeter, für den geistigen Arbeiter 6,9, für den Künstler 7,6, für den gelernten Arbeiter 10,9 und für das nicht arbeitende Element 7,1 Quadratmeter. Die Arbeiter nehmen den letzten Platz ein. Überdies vermindert sich die Ausdehnung der Arbeiterwohnungen von Jahr zu Jahr, die der nicht proletarischen Elemente vergrößert sich. Die allgemeine Lage auf dem Gebiete des Wohnungsbaues bedroht die Weiterentwicklung der Industrie. Trotz dieser Tatsache gibt der Fünfjahresplan der Kommission für Staatsunternehmungen einen Voranschlag über den Bau von Wohnhäusern, wonach die Wohnungsverhältnisse am Ende dieser fünf Jahre schlimmer sein werden, als sie jetzt sind. Die Kommission gibt dieses selber zu. Von 11,3 Quadratarschins Ende des Jahres 1926 wird sich der übliche Durchschnitt nach dem Fünfjahresplan bis Ende 1931 auf 10,6 gesenkt haben.

Arbeitslosigkeit

Die langsame Entwicklung der Industrie gibt nirgendwo ein so ungesundes Bild wie in der Arbeitslosigkeit, die die festesten Reihen des Industrieproletariats angegriffen hat. Die amtliche Zahl der eingetragenen Arbeitslosen war im April 1927 1 478 000. Die wirkliche Zahl der Arbeitslosen war etwa 2 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen wächst unvergleichlich schneller als die Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter. Nach dem Fünfjahresplan der Kommission für Staatsunternehmungen werden unsere Industrien die ganzen fünf Jahre hindurch etwas über 400 000 ständig beschäftigte Arbeiter benötigen. Dies bedeutet bei dem ständigen Zustrom von Arbeitern aus dem Lande, daß Ende 1931 die Zahl der Arbeitslosen auf nicht weniger als 3 Millionen Männer und Frauen gestiegen sein wird. Die Folge eines solchen Zustandes wird eine wachsende Zahl von obdachlosen Kindern, von Bettlern und Prostituierten sein. Die geringe Entschädigung, die man den Arbeitslosen bezahlt, erregt berechtigten Unwillen. Sie erhalten im Durchschnitt 11,9 Rubel, das heißt 5 Vorkriegsrubel. Die Gewerkschaften zahlen eine Arbeitslosenrente von durchschnittlich 6,5 bis 7 Rubel. Diese Renten erhalten aber nur etwa 20 Prozent von arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern.

Das Arbeitsgesetzbuch ist durch viele erklärende Zusätze zwar stark vergrößert, aber auch verschlechtert worden. Manche Fürsorgemaßnahmen sind durch solche Zusätze und Auslegungen wieder aufgehoben worden. Besonders ist der gesetzliche Schutz der vorübergehend und saisonweise beschäftigten Arbeiter niedergerissen worden.

Der jüngste Feldzug des staatlichen Handels war durch eine fast allgemeine Lockerung der gesetzlichen Beschränkungen und ein Herabdrücken der Lebenshaltung und der Löhne charakterisiert. Indem man der wirtschaftlichen Leitung die Rechte einer Zwangsentscheidung gab, hob man den gemeinsamen Vertrag einfach auf, indem man ihn aus einer beiderseitigen Übereinkunft in eine behördliche Anordnung verwandelte. Die Unfallentschädigungen der Arbeiter durch die Industrie sind völlig unzureichend. Nach den Angaben des Volkskommissariats für Arbeit gab es 1925–1926 für jedes Tausend von Arbeitern 97,6 Unfälle, die Arbeitsunfähigkeit herbeiführten. Jeder zehnte Arbeiter erleidet jährlich einen Unfall.

Die vergangenen Jahre waren charakterisiert durch eine scharfe Zunahme von Arbeitskonflikten, die meist durch Zwangsmaßregeln, statt durch Einigung beseitigt wurden.

Die Leitung der Betriebe hat sich verschlechtert. Die behördlichen Organe streben immer mehr danach, ihre unbegrenzte Herrschaft zur Geltung zu bringen. Das Einstellen und Entlassen von Arbeitern befindet sich völlig und allein in den Händen der Behörden. Eine vorrevolutionäre Art von Verhältnis zwischen Meister und Arbeiter ist gar nicht selten.

Die Betriebsbesprechungen haben allmählich jede Bedeutung verloren. Die Mehrzahl der von den Arbeitern angenommenen praktischen Vorschläge wird niemals ausgeführt. Bei vielen Arbeitern wird auch eine Abneigung gegen die Betriebsbesprechungen dadurch erzeugt, daß die von ihnen durchgesetzten Verbesserungen oft nur zu einer Verringerung der Arbeiterzahl führt. Infolge davon werden die Betriebsversammlungen nur spärlich besucht.

Auf kulturellem Gebiete ist es notwendig, das Schulproblem besonders zu betonen. Es wird dem Arbeiter immer schwerer, seinen Kindern selbst nur eine elementare Erziehung zu geben, ganz abgesehen von einer Ausbildung ihrer besonderen Fähigkeiten. In fast allen Bezirken mit Arbeiterbevölkerung fehlt es an Schulen, und die Zuschüsse, die in den besseren Schulen verlangt werden, machen es den Eltern unmöglich, so für die Kinder zu sorgen, wie sie es gerne möchten. Der Mangel an Schulen und die unzureichende Versorgung der Kindergärten treibt einen großen Teil der Arbeiterkinder auf die Straßen.

Die Gewerkschaften und die Arbeiter

Der Streit um die Arbeitsbedingungen in den Betrieben, den eine Resolution des elften Parteikongresses erwähnt, ist in den letzten Jahren beträchtlich angewachsen. Trotzdem hat die ganze neuerliche Parteipolitik in bezug auf die Gewerkschaftsbewegung im Verein mit den Ränken der Gewerkschaftsführer dahin geführt, daß der vierzehnte Kongreß bekennt: »Die Gewerkschaften konnten oft ihre Aufgaben nicht erfüllen, da sie ihre erste und wichtigste Aufgabe in den Hintergrund schoben – die Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der von ihnen geleiteten Massen und die möglichste Hebung ihrer materiellen und kulturellen Lage.« Die Verhältnisse wurden nach dem vierzehnten Kongreß nicht besser, sondern schlechter. Die Bureaukratisierung der Gewerkschaften ging weiter vorwärts.

Im Stab der gewählten Vollziehungsbeamten der Gewerkschaften ist der Prozentsatz der Betriebsarbeiter und der nicht zur Partei gehörigen Arbeiter außerordentlich gering (12–13 Prozent). Die ungeheure Mehrzahl der Delegierten auf den Gewerkschaftskonferenzen sind Leute ohne jede Beziehung zur Industrie. Niemals vorher standen die Gewerkschaften und die arbeitenden Massen so weit entfernt von der Leitung der staatlichen Industrie wie jetzt. Die Selbstbetätigung der in den Gewerkschaften organisierten Arbeitermassen ist ersetzt worden durch Verhandlungen zwischen den lokalen Sekretären, den Betriebsdirektoren und den Vorsitzenden der Fabrik- und Betriebsausschüsse (dem »Dreieck«). Die Haltung der Arbeiter den Fabrik- und Betriebsausschüssen gegenüber zeigt Mißtrauen. Die Teilnahme an den allgemeinen Versammlungen ist gering.

Die Unzufriedenheit der Arbeiter, die in den Gewerkschaften keinen Ausdruck findet, breitet sich unterirdisch aus. »Man darf nicht zu sehr hervortreten. Wenn du dein bißchen Brot behalten willst, dann rede nicht so viel!« Solche Worte sind sehr häufig, und man versteht, warum die Arbeiter es vorziehen, ihre Lage durch Tätigkeit außerhalb der Gewerkschaftsorganisation zu verbessern. Dies allein verlangt gebieterisch einen völligen Wechsel in der augenblicklichen Gewerkschaftspolitik.

Die wichtigsten praktischen Vorschläge
A. Auf dem Gebiete der materiellen Bedingungen

1 Schneidet jede Neigung zu einer Verlängerung des Achtstundentages mit der Wurzel ab. Gestattet Überarbeit nur, wenn sie absolut notwendig ist. Erlaubt keinen Mißbrauch der Beschäftigung von Aushilfsarbeitern, keine Behandlung von dauernd Beschäftigten als Saisonarbeiter. Schafft jede neuerdings eingeführte Verlängerung des Arbeitstages in gesundheitsschädlichen Betrieben wieder ab.

2 Das allerdringlichste Problem ist die Erhöhung der Löhne wenigstens in dem Maße, wie sich die Produktivität der Arbeit gehoben hat. In der Zukunft sollte mit jedem Anwachsen des Ertrags der Arbeit grundsätzlich eine Erhöhung der realen Löhne verbunden sein. Notwendig ist auch der Versuch einer Angleichung der Löhne der verschiedenen Arbeitergruppen, und zwar durch systematische Aufbesserung der niedriger bezahlten Gruppen; in keinem Fall aber durch Verschlechterung der höher bezahlten.

3 Wir müssen jeden bureaukratischen Mißbrauch der Rationalisierungsmaßnahmen beseitigen. Diese dürften nur in inniger Verbindung mit einer entsprechenden Entwicklung der Industrie stattfinden, mit einer planvollen Verteilung der Arbeitsmacht und einem Kampf gegen die Vergeudung der produktiven Kräfte der arbeitenden Klasse – besonders der der gelernten Arbeiter.

4 Um die übeln Wirkungen der Arbeitslosigkeit zu lindern, müssen die Arbeitslosenrenten dem durchschnittlichen Lohn in einer bestimmten Gegend angepaßt werden. Die Rentenperiode bei Arbeitslosigkeit muß von einem Jahr auf anderthalb Jahre ausgedehnt werden. Eine weitere Herabsetzung der Bezüge in der Sozialversicherung darf nicht geduldet, und es muß ein ernster Kampf gegen die gebräuchliche Nichtauszahlung derselben begonnen werden. Die Verwendung von angesammelten Versicherungsgeldern für Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitspflege muß aufhören. Wir müssen alle Bestimmungen aufheben, die unter verschiedenen Vorwänden wirkliche Arbeitslose ihrer Rechte auf Renten und auf Eintragung in die Beschäftigungslisten berauben. Es muß auf eine Erhöhung der Arbeitslosenrenten, zunächst bei den Industriearbeitern, hingearbeitet werden. Wir müssen großzügige und auf lange Zeiten angelegte Pläne für soziale Unternehmungen ausarbeiten, um die Arbeitslosen vorteilhaft für das wirtschaftliche und kulturelle Aufblühen des Landes zu verwenden.

5 Eine systematische Verbesserung der Lebensbedingungen für die Arbeiter. Feste Durchführung einer klassengemäßen Politik in allen Wohnungsangelegenheiten. Keine Verbesserung der Wohnungsbedingungen des nichtproletarischen Elements auf Kosten der Arbeiter. Keine Austreibung von entlassenen Arbeitern und von Arbeitern mit verkürzter Arbeitszeit. Energische Maßregeln müssen ergriffen werden für eine gesundere Entwicklung der Genossenschaftsbauten. Sie müssen den niedriger bezahlten Arbeitern zugängig gemacht werden. Den oberen Schichten der geistigen Arbeiter darf nicht erlaubt sein, sich die für Industriearbeiter bestimmten Wohnungen zu sichern. Der Wohnbauplan der Kommission für staatliche Unternehmungen sollte als unvereinbar mit jeder sozialistischen Politik verworfen werden. Geschäftliche Unternehmungen müssen gezwungen werden, ihre Ausgaben für den Wohnungsbau, ihre für diesen Zweck ausgesetzten Landparzellen und den zugehörigen Kredit so zu vergeben, daß in den nächsten fünf Jahren eine entschiedene Verbesserung der Arbeiterwohnungsverhältnisse zu sehen ist.

6 Kollektivverträge sollten nach wirklichen und nicht nach vorgetäuschten Besprechungen auf den Versammlungen der Arbeiter festgelegt werden. Der kommende Parteikongreß sollte die Entscheidung des vierzehnten Kongresses aufheben, der den Fabrikleitungen das Recht einer Zwangsentscheidung gab. Das Arbeitsgesetz muß als das Minimum, nicht als das Maximum der Rechte betrachtet werden, auf die Anspruch erhoben werden kann. Kollektivverträge müssen Garantien enthalten gegen das Herabsetzen der Zahl der Arbeiter und Angestellten während der Dauer des Vertrags (erlaubte Ausnahmen müssen ausdrücklich begründet werden). Die Höhe der Arbeitsleistung muß nach den Durchschnittsleistungen eines Arbeiters und für die Dauer des ganzen Arbeitsvertrags berechnet werden. In jedem Falle sollten alle Veränderungen in den Verträgen, die die Lohnstufe des Arbeiters im Verhältnis zu früheren Abmachungen heruntersetzen, verboten sein.

7 Das Bureau für Löhne und Lohnnormen muß mehr unter die wirksame Kontrolle der Arbeiter und der Gewerkschaften gebracht und die fortwährende Verschlechterung der Löhne und Lohnnormen muß verhindert werden.

8 Die Ausgaben für Sicherheitsvorrichtungen und bessere Fabrikzustände müssen vermehrt werden. Höhere Strafen müssen die Übertreter der Schutzvorschriften für die Arbeiter treffen.

9 Alle Auslegungen des Arbeitsgesetzbuches müssen überprüft und diejenigen, welche eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge haben, beseitigt werden.

10 Für die weiblichen Arbeiter soll die Vorschrift gelten: »Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.« Dementsprechend muß eine höhere Einschätzung der Frauenarbeit im allgemeinen stattfinden.

 

11 Unbezahlte Lehrlingsarbeit muß verboten werden; ebenso der Versuch, die Löhne der Jugendlichen herabzusetzen. Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.

12 Das Sparsystem darf in keinem Falle auf Kosten der Lebensinteressen der Arbeiter durchgeführt werden. Wir müssen den Arbeitern die »kleinen Vergünstigungen«, die wir ihnen genommen haben (Kinderheime, Freifahrtkarten, längere Ferien usw.), wieder zurückgeben.

13 Die Gewerkschaften müssen unausgesetzt ihre Aufmerksamkeit auf das Problem der Saisonbeschäftigung richten.

14 Die ärztliche Hilfe für Arbeiter muß in den Betrieben verbessert werden (Krankenwagen, Stationen für erste Hilfe, Krankenhäuser usw.).

15 Die Schulen für Kinder müssen in den Bezirken der Arbeiterklasse vermehrt werden.

16 Eine Reihe von staatlichen Maßnahmen muß getroffen werden, um die Arbeitergenossenschaften zu stärken.