Anna Karenina | Krieg und Frieden

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13

Kitty machte in der Zeit nach dem Mittagessen bis zum Abend ähnliche Empfindungen durch wie ein Jüngling vor einer Schlacht. Ihr Herz pochte stark, und sie konnte mit ihren Gedanken bei keinem Gegenstande verweilen.

Sie fühlte, daß der heutige Abend, an dem die beiden jungen Männer, die sich um ihre Gunst bemühten, zum ersten Male miteinander zusammentreffen sollten, ihr die Entscheidung ihres Schicksals bringen mußte. Und unaufhörlich stellte sie sich die beiden Nebenbuhler vor, bald einen jeden einzeln für sich, bald beide zusammen. Wenn sie an die Vergangenheit dachte, so verweilte sie mit Vergnügen und Rührung bei der Erinnerung an ihre Beziehungen zu Ljewin. Die Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an Ljewins Freundschaft mit ihrem verstorbenen Bruder verliehen ihrem Verhältnis zu ihm einen besonderen poetischen Reiz. Seine Liebe zu ihr, von der sie fest überzeugt war, schmeichelte ihr und bereitete ihr Freude. So konnte sie bei der Erinnerung an Ljewin leichten, freudigen Herzens sein. Dagegen mischte sich in die Erinnerung an Wronski immer eine Art von unbehaglichem Gefühl, obgleich er ein außerordentlich weltgewandtes, durchaus ruhiges Wesen hatte; als ob irgend etwas Unwahres nicht sowohl in ihm – denn er war überaus schlicht und herzlich – wie vielmehr in ihr selbst wäre, während sie sich Ljewin gegenüber völlig klar und unbefangen fühlte. Dafür aber trat ihr, sobald sie an die Zukunft an Wronskis Seite dachte, ein Bild voll Glanz und Glück vor Augen; an Ljewins Seite erschien ihr die Zukunft wie von einem Nebelschleier verhüllt.

Als sie sich in das obere Stockwerk begeben hatte, um sich umzukleiden, und dort in den Spiegel blickte, bemerkte sie mit Freude, daß sie einen ihrer guten Tage hatte und sich im Vollbesitz aller ihrer Kräfte befand, – und das war ja auch so nötig für alles, was ihr bevorstand. Sie fühlte sich imstande, die äußere Ruhe zu bewahren und sich mit freier Anmut zu bewegen.

Als sie um halb acht Uhr in den Salon trat, meldete der Diener: »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin.« Die Fürstin befand sich noch in ihrem Zimmer, auch der Fürst war noch nicht im Salon. ›Also jetzt kommt es!‹ dachte Kitty, und alles Blut strömte ihr zum Herzen. Sie erschrak über ihre Blässe, als sie in den Spiegel blickte.

Jetzt war sie sich ganz klar darüber, daß er nur deshalb so früh gekommen war, um sie allein zu treffen und ihr einen Antrag zu machen. Und jetzt zum ersten Male erschien ihr die ganze Sache auch von einer ganz anderen, neuen Seite. Erst jetzt begriff sie, daß die Frage nicht sie allein anginge – wen sie liebe und mit wem sie glücklich werden solle –, sondern daß sie im nächsten Augenblick genötigt sein werde, einen Menschen, den sie gern hatte, zu verletzen, und aufs grausamste zu verletzen. Und wofür? Dafür, daß dieser gute Mensch sie liebte, in sie verliebt war. Aber es war nicht zu vermeiden, es ging nicht anders, es mußte sein.

›Mein Gott, muß ich es ihm wirklich selbst sagen?‹ dachte sie. ›Soll ich ihm sagen, daß ich ihn nicht gern habe? Das wäre eine Unwahrheit. Was soll ich ihm denn nur sagen? Soll ich ihm sagen, daß ich einen anderen liebe? Nein, das kann ich unmöglich. Ich will weggehen, ja, ich will weggehen!‹

Sie war schon dicht an der Tür, als sie seine Schritte hörte. ›Nein, das wäre nicht ehrenhaft. Warum soll ich mich fürchten? Ich habe nichts Böses getan. Was sein muß, muß sein! Ich werde die Wahrheit sagen. Und ihm gegenüber kann mir das nicht peinlich sein. – Da ist er!‹ sagte sie zu sich selbst, als sie seine kräftige und dabei doch schüchterne Gestalt mit den glänzenden, auf sie gerichteten Augen erblickte. Sie sah ihm offen ins Gesicht, als wollte sie ihn um Schonung anflehen, und reichte ihm die Hand.

»Ich komme zu unrichtiger Zeit, es scheint noch zu früh zu sein«, sagte er, sich in dem leeren Salon um blickend. Als er sah, daß seine Erwartung eingetroffen war und ihn nichts hinderte, sich auszusprechen, wurde sein Gesicht tiefernst.

»Oh, nicht doch!« erwiderte Kitty und setzte sich an den Tisch.

»Gerade das hatte ich gewünscht, Sie allein zu treffen«, begann er, ohne sich zu setzen und ohne sie anzusehen, um nicht den Mut zu verlieren.

»Mama kommt sofort. Sie war gestern sehr müde. Gestern ...«

Sie sprach, ohne selbst zu wissen, was ihre Lippen redeten, und ohne ihren flehenden, traulich-freundlichen Blick von ihm abzuwenden.

Er sah sie an; sie errötete und verstummte.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht wüßte, ob ich für längere Zeit hierher nach Moskau gekommen sei und daß das von Ihnen abhängen werde ...«

Sie senkte den Kopf immer tiefer und tiefer hinab und wußte jetzt selbst nicht, was sie auf die herannahende Frage antworten werde.

»... daß das von Ihnen abhängen werde«, sagte er noch einmal. »Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ... Ich bin nach Moskau gekommen, um ... um ... Werden Sie mein Weib!« kam es auf einmal heraus, ohne daß er selbst gewußt hätte, was er sprach; aber da er fühlte, daß das Schrecklichste nun gesagt war, hielt er inne und blickte sie an.

Sie atmete schwer, ohne ihn anzusehen. Ein Wonnegefühl durchströmte sie; ihre ganze Seele war übervoll von Glücksempfindung. Sie hatte nie erwartet, daß ein Liebesgeständnis von einer Seite auf sie einen so gewaltigen Eindruck machen werde. Aber dies dauerte nur einen Augenblick. Dann tauchte bei ihr der Gedanke an Wronski auf. Sie hob ihre hellen, ehrlichen Augen zu Ljewin in die Höhe, und als sie die Verzweiflung in seinem Gesichte las, antwortete sie hastig:

»Es kann nicht sein. – Verzeihen Sie mir!«

Wie nahe hatte sie ihm noch einen Augenblick vorher gestanden, welche wichtige Stellung hatte sie in seinem Leben eingenommen! Und wie fremd, wie fern war sie ihm jetzt auf einmal!

»Es konnte nicht anders kommen«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Er verbeugte sich und wollte fortgehen.

14

Aber in diesem Augenblick trat die Fürstin ein. Ein Erschrecken malte sich auf ihrem Gesichte, als sie die beiden so allein und ihre erregten Mienen sah. Ljewin verbeugte sich vor ihr, ohne ein Wort zu sagen; Kitty schwieg und hob die Augen nicht empor. ›Gott sei Dank, sie hat ihm einen Korb gegeben‹, dachte die Mutter, und auf ihrem Gesichte strahlte das gewöhnliche Lächeln auf, mit dem sie an jedem Donnerstage ihre Gäste begrüßte. Sie setzte sich und begann Ljewin über sein Leben auf dem Lande auszufragen. Er hatte gleichfalls wieder Platz genommen und wartete nur auf die Ankunft anderer Gäste, um dann unbemerkt wegzugehen.

Fünf Minuten darauf trat eine Freundin Kittys ein, die sich im vorigen Winter verheiratet hatte, eine Gräfin Northstone.

Dies war eine trockene, gelbliche, kränkliche, nervöse Dame mit schwarzen, glänzenden Augen. Sie mochte Kitty sehr gern, und diese freundschaftliche Gesinnung gegen sie äußerte sich, wie das bei der Freundschaft verheirateter Frauen mit jungen Mädchen stets der Fall ist, in dem Wunsche, Kitty in einer ihrem eigenen Ideale von Glück entsprechenden Weise unter die Haube zu bringen. Sie strebte danach, daß Kitty den Grafen Wronski zum Manne bekäme. Ljewin, den sie zu Anfang des Winters häufig bei Schtscherbazkis getroffen hatte, war ihr immer unsympathisch gewesen. Eine stete Lieblingsbeschäftigung von ihr beim Zusammentreffen mit ihm war es, sich über ihn lustig zu machen.

›Ich habe es gern, wenn er von seinem erhabenen Gipfel auf mich herabblickt und entweder im Gespräch mit mir seine klugen Auseinandersetzungen abbricht, weil ich ihm doch zu dumm dafür bin, oder auch zu mir herabsteigt. Das habe ich ganz besonders gern, dieses Herabsteigen! Ich freue mich sehr darüber, daß er mich nicht leiden kann‹, so pflegte sie sich über ihn zu äußern.

Sie hatte recht, da Ljewin sie in der Tat nicht leiden konnte und sie gerade wegen derjenigen Eigenschaften geringschätzte, auf die sie stolz war und die sie sich als Vorzug anrechnete, nämlich wegen ihrer Nervosität und wegen ihrer blasierten Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber allem Unverfeinerten und Schlicht-Realistischen.

Zwischen der Gräfin Northstone und Ljewin hatte sich ein in den Kreisen der höheren Gesellschaft nicht selten zu findendes Verhältnis herausgebildet, daß nämlich zwei Menschen zwar äußerlich in freundlicher Form miteinander verkehren, dabei aber sich gegenseitig in dem Maße geringschätzen, daß sie einan der nicht einmal ernst nehmen können und sogar einer sich vom anderen nicht beleidigt fühlen kann.

Die Gräfin Northstone fiel sogleich über Ljewin her.

»Ah, Konstantin Dmitrijewitsch! Sind wir wieder einmal nach unserem sittenlosen Babel gekommen?« sagte sie und reichte ihm ihre winzig kleine, gelbe Hand; sie zitierte damit einen Ausdruck, den er zu Anfang des Winters einmal gebraucht hatte, daß Moskau ein Babel sei. »Nun, hat sich das Babel gebessert, oder haben Sie sich verschlechtert?« fügte sie hinzu und sah mit spöttischem Lächeln zur Seite nach Kitty hin.

»Es ist mir sehr schmeichelhaft, Gräfin, daß Sie meine Worte so gut im Gedächtnis haben«, entgegnete Ljewin, dem es nun schon einigermaßen gelungen war, seine Fassung wiederzugewinnen, und der nun sofort seine herkömmlichen scherzhaft-feindlichen Beziehungen zu der Gräfin Northstone wieder aufnahm. »Offenbar haben sie Ihnen einen starken Eindruck gemacht.«

»Das versteht sich! Ich schreibe mir alles auf. Nun, Kitty, bist du wieder Schlittschuh gelaufen?«

Sie begann eine Unterhaltung mit Kitty. So wenig es sich auch für Ljewin schicken mochte, jetzt wegzugehen, so fand er es doch leichter, diese Ungeschicklichkeit zu begehen, als den ganzen Abend dazubleiben und Kitty zu sehen, die bisweilen nach ihm hinschaute, aber seinem Blick auswich. Er wollte gerade aufstehen, da wandte die Fürstin, die bemerkt hatte, daß er schwieg, sich ihm zu.

 

»Sind Sie auf längere Zeit nach Moskau gekommen? Sie sind ja wohl bei der Kreisverwaltung tätig und können darum nicht lange fort?«

»Nein, Fürstin, bei der Kreisverwaltung bin ich nicht mehr tätig«, antwortete er. »Ich bin auf ein paar Tage hergekommen.«

›Es muß etwas Besonderes mit ihm los sein‹, dachte die Gräfin Northstone, der sein ernster, strenger Gesichtsausdruck auffiel. ›Er läßt sich heute gar nicht zu einer seiner gewohnten Auseinandersetzungen verleiten. Aber ich werde ihn schon herauslocken. Es macht mir das größte Vergnügen, ihn in Kittys Gegenwart zum Narren zu halten. Das will ich auch heute tun.‹

»Konstantin Dmitrijewitsch«, redete sie ihn wieder an, »bitte, erklären Sie mir doch einen wunderlichen Fall, der uns vorgekommen ist; Sie verstehen sich ja auf all diese Dinge: Auf unserem Gute im Gouvernement Kaluga haben die sämtlichen Bauern mit ihren Weibern alles, was sie besaßen, vertrunken und bezahlen uns jetzt nichts. Wie soll man das auffassen? Sie loben ja die Bauern immer so sehr.«

In diesem Augenblick trat noch eine Dame ins Zimmer, und Ljewin stand auf.

»Entschuldigen Sie mich, Gräfin, aber ich verstehe wirklich nichts davon und kann Ihnen nichts darüber sagen«, entgegnete er und blickte zu einem Offizier hin, der hinter der Dame eintrat.

›Das muß Wronski sein‹, dachte Ljewin und schaute, um Gewißheit zu haben, zu Kitty hin. Diese hatte den Eintretenden bereits erblickt und sah sich jetzt nach Ljewin um. Und aus diesem einen Blicke ihrer unwillkürlich aufleuchtenden Augen erkannte Ljewin, daß sie diesen Mann liebte, und erkannte es mit solcher Sicherheit, wie wenn sie es ihm mit Worten mitgeteilt hätte. Aber was für ein Mann war dieser Wronski?

Jetzt konnte Ljewin, mochte es nun wohlgetan sein oder nicht, sich nicht dazu entschließen, wegzugehen; er mußte feststellen, was für ein Mann das war, den sie lieben konnte.

Es gibt Leute, die, wenn sie mit jemandem zusammentreffen, der auf irgendeinem Gebiete ihr glücklicher Nebenbuhler ist, sofort geneigt sind, von allem, was Gutes an ihm ist, die Augen wegzuwenden und nur das Schlechte zu sehen. Und wiederum gibt es Leute, die in ganz entgegengesetztem Verfahren eifrig danach verlangen, an diesem glücklichen Nebenbuhler diejenigen Eigenschaften herauszufinden, durch die er ihnen den Rang abgelaufen hat, und die an ihm nur das Gute suchen, mag ihnen auch der Schmerz fast das Herz abdrücken. Ljewin gehörte zu dieser Art. Und es wurde ihm nicht schwer, bei Wronski das Gute und Anziehende herauszufinden. Es sprang ihm sofort in die Augen. Wronski war ein Mann von mäßiger Größe, kräftig gebaut, brünett, mit einem hübschen, gutmütigen Gesichte, das einen außerordentlich ruhigen, festen Ausdruck trug. In seinem Gesicht und an seiner ganzen Gestalt, von dem kurz geschorenen dunklen Haar und dem frisch rasierten Kinn bis zu der bequem sitzenden nagelneuen Uniform, war alles an ihm einfach und zugleich vornehm. Wronski ließ zunächst die mit ihm ziemlich gleichzeitig eingetretene Dame zur Fürstin hingehen und trat dann selbst zu dieser und darauf zu Kitty heran.

In dem Augenblicke, als er zu ihr trat, leuchtete in seinen Augen eine besondere Zärtlichkeit auf; mit einem ganz leisen, glücklichen, bescheiden triumphierenden Lächeln (so schien es Ljewin) beugte er sich in respektvoller, ruhiger Bewegung zu ihr hinab und streckte ihr seine kleine, aber breite Hand entgegen.

Nachdem er alle Anwesenden begrüßt und mit jedem ein paar Worte gesprochen hatte, setzte er sich hin, ohne Ljewin auch nur angesehen zu haben, der seinerseits kein Auge von ihm verwandte.

»Gestatten die Herren, daß ich Sie miteinander bekannt mache«, sagte die Fürstin, auf Ljewin weisend. »Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin, Graf Alexei Kirillowitsch Wronski.«

Wronski stand auf, blickte Ljewin freundlich in die Augen und drückte ihm die Hand.

»Ich sollte ja wohl in diesem Winter einmal mit Ihnen zusammen an einem Diner teilnehmen«, sagte er mit seinem offenen, ungekünstelten Lächeln. »Aber Sie waren ganz unerwartet wieder aufs Land gereist.«

»Konstantin Dmitrijewitsch verachtet und haßt die Stadt und uns Städter«, bemerkte die Gräfin Northstone.

»Meine Worte müssen auf Sie einen starken Eindruck gemacht haben, da Sie sie so gut im Gedächtnis bewahren«, erwiderte Ljewin, errötete aber sofort, da ihm einfiel, daß er dasselbe schon vorhin gesagt hatte.

Wronski blickte Ljewin und die Gräfin Northstone an und lächelte.

»Sie leben immer auf dem Lande?« fragte er. »Ich denke mir, im Winter ist es da recht langweilig.«

»Wenn man seine Tätigkeit hat, ist es nicht langweilig; auch langweile ich mich nie, wenn ich mit mir allein bin«, versetzte Ljewin in etwas scharfem Tone.

»Ich liebe das Landleben«, sagte Wronski, der Ljewins Ton wohl bemerkte, aber tat, als ob ihm nichts auffiele.

»Aber Sie würden sich hoffentlich nicht dazu verstehen, immer auf dem Lande zu leben, Graf?« fragte die Gräfin Northstone.

»Das weiß ich nicht. Auf längere Zeit habe ich es noch nicht versucht. Ich habe einmal eine seltsame Empfindung durchgemacht«, fuhr er fort. »Ich habe mich nach dem Landleben, nach einem russischen Dorfe mit seinen Bauern und Bastschuhen nirgends so gesehnt wie in Nizza, wo ich mit meiner Mutter einen Winter zubrachte. Nizza ist ja an und für sich langweilig, wie Sie wissen, auch Neapel und Sorrent; schön sind sie nur bei kurzem Aufenthalt. Und gerade dort kommt einem besonders lebhaft die Erinnerung an Rußland und besonders an unsere Dörfer. Sie sind gleichsam ...«

Während er sprach, wandte er sich sowohl an Kitty wie auch an Ljewin und ließ seinen ruhigen, freundlichen Blick von einem zum anderen gleiten; er redete offenbar, wie es ihm gerade in den Sinn kam.

Als er bemerkte, daß die Gräfin Northstone etwas sagen wollte, hielt er inne, ohne den begonnenen Satz zu Ende zu bringen, und hörte ihr aufmerksam zu.

Das Gespräch stockte keinen Augenblick, so daß die alte Fürstin, die für den Fall etwa eintretenden Stoffmangels immer zwei schwere Geschütze in Reserve hielt, den Vergleich der klassischen Bildung mit der Realbildung und die allgemeine Wehrpflicht, diese nicht ins Treffen zu bringen brauchte und die Gräfin Northstone keine Gelegenheit fand, Ljewin aufzuziehen.

Ljewin wünschte wohl, sich an dem allgemeinen Gespräche zu beteiligen, war aber nicht dazu imstande. Jeden Augenblick sagte er sich: ›Jetzt will ich gehen‹, ging aber doch nicht, als wenn er noch auf etwas wartete.

Es war auf Tischrücken und Geister die Rede gekommen, und die Gräfin Northstone, die an den Spiritismus glaubte, begann von wunderbaren Vorgängen zu erzählen, die sie mit angesehen habe.

»Ach, Gräfin, zu den Leuten müssen Sie mich jedenfalls einmal mit hinnehmen, ich bitte Sie um alles in der Welt, nehmen Sie mich mit hin! Ich habe noch nie etwas Übernatürliches gesehen, obgleich ich überall danach suche«, sagte Wronski lächelnd.

»Nun gut, also nächsten Sonnabend«, antwortete die Gräfin Northstone. »Wie steht es mit Ihnen, Konstantin Dmitrijewitsch, glauben Sie daran?« wandte sie sich an Ljewin.

»Warum fragen Sie mich? Sie wissen ja, was ich sagen werde.«

»Aber ich möchte gern Ihre Ansicht hören.«

»Meine Ansicht ist nur die«, antwortete Ljewin, »diese tanzenden Tische beweisen, daß die sogenannte gebildete Gesellschaft in geistiger Hinsicht nicht höher steht als die Bauern. Die Bauern glauben an den bösen Blick und an Behexung des Viehs und an Liebeszauber, und wir ...«

»Also Sie glauben nicht daran?«

»Ich kann nicht daran glauben, Gräfin.«

»Aber wenn ich es doch mit eigenen Augen gesehen habe?«

»Die Bauersfrauen erzählen auch, daß sie mit eigenen Augen Hauskobolde gesehen haben.«

»Sie meinen also, daß ich die Unwahrheit sage?«

Sie lachte ärgerlich und gereizt.

»Nicht doch, Mascha; Konstantin Dmitrijewitsch sagt doch nur, daß er nicht daran glauben kann«, suchte Kitty zu vermitteln. Sie errötete aus Teilnahme für Ljewin, und dieser, der das richtig verstand, wollte eben, nun noch mehr gereizt, eine Antwort geben, da kam Wronski mit seinem offenen, heiteren Lächeln dem Gespräche, das unerfreulich zu werden drohte, zu Hilfe.

»Sie stellen also die Möglichkeit völlig in Abrede?« fragte er. »Warum denn? Wir geben doch das Vorhandensein der Elektrizität zu, deren Wesen uns gleichfalls dunkel ist; warum könnte es nicht eine neue, uns noch unbekannte Kraft geben, die ...«

»Als die Elektrizität entdeckt wurde«, unterbrach ihn Ljewin erregt, »wurde zunächst nur ihre äußere Erscheinungsform entdeckt; welches der Ursprung der Elektrizität sei und welche Wirkungen sie hervorbringe, das blieb unbekannt, und Jahrhunderte vergingen, ehe man daran dachte, sie praktisch zu verwenden. Die Spiritisten dagegen begannen damit, daß sie die Tische schreiben und die Geister zu Besuch kommen ließen, und sagten dann erst, das sei eine unbekannte Kraft.«

Wronski hörte, wie er das immer tat, aufmerksam zu und interessierte sich augenscheinlich für das, was Ljewin sagte.

»Ja, aber die Spiritisten sagen: ›Jetzt wissen wir noch nicht, was für eine Kraft das ist; aber eine Kraft ist da, und man sieht, unter welchen Bedingungen sie wirkt. Mögen die Gelehrten erforschen, worin diese Kraft besteht.‹ Nein, ich kann nicht sagen, warum das nicht eine neue Kraft sein könnte, wenn sie ...«

»Darum nicht«, unterbrach ihn Ljewin wieder, »weil bei der Elektrizität jedesmal, wenn Sie ein Stück Harz an Wolle reiben, eine bestimmte Erscheinung eintritt, hier aber nicht jedesmal; folglich liegt keine Naturerscheinung vor.«

Wronski, der wohl das Gefühl hatte, daß das Gespräch einen für einen Salon zu ernsten Charakter annahm, erwiderte nichts weiter, sondern wandte sich in der Absicht, das Gesprächsthema zu wechseln, mit heiterem Lächeln den Damen zu.

»Lassen Sie uns doch gleich einmal einen Versuch anstellen, Gräfin!« fing er an; aber Ljewin wollte seinen Gedanken gern erst noch vollständig aussprechen.

»Ich bin der Meinung«, fuhr er fort, »daß dieser Versuch der Spiritisten, ihre Wunder durch irgendeine neue Kraft zu erklären, ganz erfolglos ist. Sie reden geradeheraus von einer unkörperlichen Kraft und suchen ihr doch durch das materielle Experiment beizukommen.«

Alle warteten darauf, daß er schlösse, und er fühlte das.

»Ich glaube, Sie würden ein vorzügliches Medium sein«, sagte die Gräfin Northstone. »Sie haben so etwas Schwärmerisches an sich.«

Ljewin öffnete den Mund und wollte etwas erwidern; aber er errötete und schwieg.

»Wollen wir es gleich einmal mit dem Tischrücken versuchen, Prinzessin?« sagte Wronski. »Sie erlauben es doch, Fürstin?«

Er stand auf und suchte mit den Augen nach einem Tischchen.

Kitty erhob sich, um ein Tischchen zu beschaffen, und als sie bei Ljewin vorbeiging, begegneten sich ihre Blicke. Er tat ihr in tiefster Seele leid, um so mehr, als sie selbst die Ursache des Unglücks war, um dessentwillen sie ihn bemitleidete. ›Wenn für mich Verzeihung möglich ist, so verzeihen Sie mir!‹ sagte ihr Blick. ›Ich bin so glücklich.‹

›Ich hasse alle Menschen, auch Sie und mich selbst‹, antwortete sein Blick, und er griff nach sei nem Hute. Es war ihm aber nicht beschieden, davonzukommen. Gerade als die anderen sich um ein Tischchen gruppierten und Ljewin fortgehen wollte, trat der alte Fürst ein und wandte sich, nachdem er die Damen begrüßt hatte, Ljewin zu.

»Ah!« rief er erfreut. »Sind Sie schon lange hier in Moskau? Ich wußte gar nicht, daß du hier bist. Sehr erfreut, Sie wiederzusehen!«

Der alte Fürst nannte Ljewin manchmal du, manchmal Sie. Er umarmte ihn und beachtete, während er mit ihm sprach, Wronski nicht, der aufgestanden war und ruhig wartete, bis sich der Fürst ihm zuwenden würde.

Kitty fühlte, wie drückend nach dem, was vorgefallen war, für Ljewin die Liebenswürdigkeit ihres Vaters sein müsse. Sie bemerkte auch, wie kühl ihr Vater endlich Wronskis Verbeugung erwiderte und wie Wronski mit freundlicher Verwunderung ihren Vater anblickte und sich vergebens bemühte, zu begreifen, was wohl der Grund einer unfreundlichen Stimmung gegen ihn sein könne, und sie errötete.

»Überlassen Sie uns Konstantin Dmitrijewitsch, Fürst!« sagte die Gräfin Northstone. »Wir möchten gern ein Experiment vornehmen.«

 

»Was für ein Experiment? Wohl Tischrücken? Na, nehmen Sie es mir nicht übel, meine Damen und Herren, aber meiner Ansicht nach ist das Ringspiel weit vergnüglicher«, sagte der alte Fürst und blickte dabei Wronski an, in dem er den Anstifter erriet. »Im Ringspiel liegt doch noch ein Sinn.«

Wronski sah mit einem festen Blick den Fürsten erstaunt an und begann dann sofort mit einem kaum merklichen Lächeln sich mit der Gräfin Northstone von dem großen Balle zu unterhalten, der in der nächsten Woche bevorstand.

»Ich hoffe, daß auch Sie dort sein werden«, wandte er sich an Kitty.

Sobald sich der Fürst von ihm weggewandt hatte, ging Ljewin unbemerkt hinaus, und der letzte Eindruck, den er von dieser Abendgesellschaft mit sich nahm, war Kittys lächelndes, glückliches Gesicht, mit dem sie Wronskis Frage nach dem Balle beantwortete.