Anna Karenina | Krieg und Frieden

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9

Der alte, verwahrloste Palazzo mit den hohen, stuckverzierten Zimmerdecken und den Fresken an den Wänden, mit den Mosaikfußböden, mit den schweren, gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern, mit den Vasen auf Konsolen und Kaminen, mit den geschnitzten Türen und den düsteren Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren – dieser Palazzo nährte, nachdem sie nun nach ihm übergesiedelt waren, bei Wronski die angenehme Täuschung, daß er nicht so sehr ein russischer Gutsbesitzer und Hofstallmeister z.D., vielmehr ein hochgebildeter Liebhaber und Beschützer der Künste sei und zugleich selbst ein bescheidener Künstler, der um eines geliebten Weibes willen auf seine Stellung in der Welt, auf alle seine guten Verbindungen und auf allen Ehrgeiz verzichtet habe.

Diese Rolle, die sich Wronski bei der Übersiedlung nach dem Palazzo zurechtgemacht hatte, gelang ihm vollkommen, und nachdem er durch Golenischtschews Vermittlung auch noch einige interessante Persönlichkeiten kennengelernt hatte, war ihm in der ersten Zeit ruhig und wohl zumute. Er malte unter der Anleitung eines italienischen Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem italienischen Leben im Mittelalter. Dieses mittelalterliche italienische Leben gewann zuletzt für Wronski einen solchen Reiz, daß er sich sogar einen Hut nach damaliger Art anschaffte und einen Überwurf nach damaliger Sitte über der Schulter trug, was ihm sehr gut stand.

»Da leben wir nun hier und wissen von nichts«, sagte Wronski einmal zu Golenischtschew, der am Vormittag zu ihm kam. »Hast du Michailows Bild gesehen?« fragte er ihn, indem er ihm eine soeben am Morgen eingetroffene russische Zeitung reichte und auf einen Aufsatz über einen russischen Maler zeigte, der in der gleichen Stadt lebte und ein Gemälde fast vollendet hatte, das schon lange allerlei umlaufende Gerüchte veranlaßt und schon im voraus einen Käufer gefunden hatte. Dieser Aufsatz enthielt Vorwürfe gegen die Regierung und gegen die Akademie, weil sie einen so hervorragenden Künstler ohne jede Aufmunterung und Unterstützung gelassen hätten.

»Ja, ich habe es gesehen«, antwortete Golenischtschew. »Versteht sich, es mangelt ihm nicht an Talent; aber seine Richtung ist völlig verkehrt. Immer die Iwanow-Strauß-Renansche Stellungnahme zur Christusgestalt und zur religiösen Malerei.«

»Was stellt denn das Bild dar?« fragte Anna.

»Christus vor Pilatus. Christus ist als Jude dargestellt, mit dem ganzen Realismus der neuen Schule.«

Und nun begann Golenischtschew, der durch die Frage nach dem Gegenstand des Gemäldes auf eines seiner Lieblingsgebiete gebracht war, seine Ansicht darzulegen.

»Ich begreife gar nicht, wie die Leute einen so groben Mißgriff begehen können. Christus hat doch bereits seine ein für allemal feststehende Verkörperung in den Kunstwerken der großen alten Meister gefunden. Folglich, wenn diese Leute nicht einen Gott, sondern einen Revolutionär oder einen Weisen darstellen wollen, so mögen sie sich doch aus der Geschichte Sokrates oder Franklin oder Charlotte Corday auswählen, aber nur nicht Christus. Sie wählen gerade die Persönlichkeit, die sie bei ihrer Richtung im Interesse der Kunst nicht wählen dürften, und dann ...«

»Ist denn das wahr, daß dieser Michailow in solcher Armut lebt?« fragte Wronski, der sich sagte, daß er als russischer Mäzen den Künstler unterstützen müsse, ob nun das Bild gut oder schlecht sei.

»Ich kann es mir kaum denken. Er ist ein vorzüglicher Bildnismaler. Haben Sie sein Bildnis der Frau Wasiltschikowa gesehen? Aber er mag, wie es scheint, keine Bildnisse mehr malen, und daher könnte es schon möglich sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich wollte also sagen ...«

»Könnte man ihn nicht bitten, Anna Arkadjewnas Bildnis zu malen?« fragte Wronski.

»Warum denn gerade mein Bildnis?« fragte Anna. »Nach dem, das du malst, mag ich kein anderes Bildnis mehr haben. Laß ihn doch lieber Anny malen« (so nannte sie ihr Töchterchen). »Da ist sie gerade«, fügte sie hinzu, als sie bei einem Blick durch das Fenster die schöne italienische Amme gewahr wurde, die das Kind in den Garten trug, und blickte sofort verstohlen auf Wronski. Diese schöne Amme, deren Kopf Wronski für ein Bild benutzte, an dem er malte, war der einzige geheime Kummer in Annas Dasein. Wronski betrachtete, während er sie malte, voll Bewunderung ihre Schönheit und ihre mittelalterliche Erscheinung, und Anna mochte sich nicht eingestehen, daß sie nahe daran war, auf diese Amme eifersüchtig zu werden; sie behandelte sie daher mit besonderer Freundlichkeit und verwöhnte sowohl sie wie deren Söhnchen.

Wronski warf gleichfalls einen Blick durch das Fenster und sah dann Anna in die Augen; sofort aber wandte er sich wieder zu Golenischtschew und sagte:

»Kennst du diesen Michailow?«

»Ich bin einige Male mit ihm zusammengetroffen. Aber er ist ein wunderlicher Kauz und ohne alle Erziehung. Weißt du, einer von diesen kulturlosen modernen Menschen, wie man ihnen jetzt häufig begegnet; weißt du, einer von jenen Freidenkern, die von klein auf in den Begriffen des Unglaubens, der Verneinung und des Materialismus erzogen sind. Die Freidenker der früheren Zeit«, redete Golenischtschew weiter, ohne zu bemerken oder ohne bemerken zu wollen, daß sowohl Anna wie auch Wronski etwas zu sagen wünschten, »das waren Leute, die in den Begriffen der Religion, des Gesetzes der Moral aufgewachsen und erst durch eigenes Ringen und eigene Arbeit zur Freidenkerei gelangt waren; heute aber erscheint ein neuer Typ von Freidenkern, solche, die es gleich von Geburt an sind, die aufwachsen, ohne auch nur jemals etwas davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral und Religion und so etwas wie Autorität gegeben hat, sondern ohne weiteres in der Idee von der Verneinung aller Ordnung heranwachsen, das heißt wie Wilde. Von der Sorte ist er. Ich glaube er ist der Sohn eines Moskauer Oberkellners und hat gar keine Erziehung genossen. Als er auf die Akademie gekommen war und sich schon einigen Ruf erworben hatte, wollte er, wie er denn kein dummer Mensch ist, sich auch eine gewisse Bildung aneignen. Und so wandte er sich denn zu dem, was er für den Quell der Bildung hielt, zu den Zeitschriften. Bitte zu beachten, in älterer Zeit hätte jemand, der etwas für seine Bildung tun wollte, sagen wir einmal ein Franzose, sich an das Studium der hervorragenden Schriftsteller gemacht: der Theologen, der Tragiker, der Historiker, der Philosophen, und, bitte zu beachten, er hätte dabei ein tüchtiges Maß geistiger Arbeit zu leisten gehabt. Aber jetzt bei uns in Rußland stürzte er sich ohne weiteres in die alles verneinende Literatur hinein, machte sich mit großer Leichtigkeit den Gesamtextrakt der alles verneinenden Wissenschaft zu eigen und war nun fertig. Und damit nicht genug: vor zwanzig Jahren hätte er in dieser Literatur die Anzeichen eines Kampfes mit den Autoritäten, mit den jahrhundertealten Anschauungen gefunden; er hätte aus diesem Kampfe ersehen, daß vorher etwas anderes vorhanden war, jetzt aber geriet er geradeswegs in eine Literatur hinein, in der die alten Anschauungen nicht einmal der Bekämpfung gewürdigt werden, sondern einfach erklärt wird: keine Voraussetzungen gelten; Evolution, Auslese, Kampf ums Dasein, damit fertig! Ich habe in meiner Abhandlung ...«

»Wissen Sie was?« sagte Anna, die schon lange verstohlen mit Wronski Blicke gewechselt hatte und wußte, daß er sich für den Bildungsgang dieses Künstlers gar nicht interessierte, sondern daß ihn nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen und ein Bildnis bei ihm zu bestellen. »Wissen Sie was?« unterbrach sie entschlossen den Schriftsteller, der in seinem Eifer kein Ende finden konnte. »Wir wollen ihm einen Besuch machen!«

Golenischtschew merkte, daß er zu eifrig geworden war, brach ab und erklärte sich gern einverstanden. Da der Künstler in einem entfernten Stadtteil wohnte, so entschieden sie sich dafür, einen Wagen zu nehmen.

Eine Stunde darauf fuhren sie, Anna neben Golenischtschew, Wronski auf dem Vordersitze des Wagens, bei einem neuen, unschönen Hause in jenem entlegenen Stadtteil vor. Von der Frau des Hauswartes, die herauskam, erfuhren sie, Michailow pflege den Besuch seines Ateliers zu gestatten, befinde sich aber augenblicklich gerade in seiner nur ein paar Schritte davon gelegenen Wohnung; sie schickten sie daher mit ihren Besuchskarten zu ihm und ließen um die Erlaubnis bitten, seine Bilder betrachten zu dürfen.

10

Der Maler Michailow war wie immer bei der Arbeit, als ihm die Karten des Grafen Wronski und Golenischtschews überbracht wurden. Den Vormittag über hatte er in seinem Atelier an seinem großen Gemälde gearbeitet. Nach Hause zurückgekehrt, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil sie nicht verstanden hatte, die Hauswirtin, die durchaus Geld hatte haben wollen, richtig zu behandeln.

»Zwanzigmal habe ich dir schon gesagt: laß dich auf keine Auseinandersetzungen ein. Du bist so schon dumm genug; aber wenn du nun gar anfängst, auf italienisch zu debattieren, so nimmst du dich noch dreimal dümmer aus«, sagte er nach einem längeren Gezänk zu ihr.

»Dann sorge du dafür, daß in unserer Kasse nicht immer Ebbe ist; ich bin nicht schuld. Wenn ich Geld hätte ...«

»Um Gottes willen, laß mich in Ruhe!« schrie Michailow; es war seiner Stimme anzuhören, daß ihm die Tränen ganz nahe waren. Sich die Ohren zuhaltend, lief er in sein Arbeitszimmer, das vom Wohnzimmer nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt war, und machte die Tür hinter sich zu. »So ein einfältiges Frauenzimmer!« murmelte er vor sich hin, setzte sich an den Tisch, schlug eine Mappe auf und begann sofort mit ganz besonderem Eifer an einer angefangenen Zeichnung weiterzuarbeiten.

 

Niemals arbeitete er mit größerem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm in materieller Hinsicht schlecht ging und namentlich, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte: ›Ach, man möchte am liebsten davonlaufen!‹ dachte er, während er weiterarbeitete. Er zeichnete eine Skizze für die Gestalt eines Mannes, der einen Wutanfall hat. Eine solche Skizze hatte er schon früher hergestellt gehabt, war aber mit ihr nicht zufrieden gewesen. ›Nein, die erste war doch besser ... Wo mag sie nur geblieben sein?‹ Er ging wieder in das Zimmer, in dem seine Frau war, und fragte, ohne sie anzusehen, mit finsterem Gesicht sein ältestes Töchterchen, wo das Blatt Papier sei, das er ihnen gegeben habe. Das Blatt mit der verworfenen Skizze fand sich wirklich noch vor, war aber beschmutzt und mit Stearin betröpfelt. Trotzdem nahm er die Skizze mit in sein Arbeitszimmer, legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete sie, indem er sich etwas davon entfernte und die Augen zusammenkniff. Auf einmal lächelte er und schwenkte vergnügt die Arme.

›So muß es sein, so ist es richtig!‹ sprach er vor sich hin, ergriff sofort einen Bleistift und begann hastig zu zeichnen. Der Stearinfleck hatte dem Mann eine neue Pose gegeben.

Er zeichnete diese neue Pose, und auf einmal fiel ihm das energische, durch das vorstehende Kinn besonders auffällige Gesicht des Händlers ein, von dem er seine Zigarren kaufte, und eben dieses Gesicht und Kinn gab er nun seinem Manne auf der Zeichnung. Er lachte vor Freude laut auf. Der Kopf war plötzlich von einem toten, gekünstelten zu einem lebendigen geworden, der so gut gelungen war, daß nichts mehr daran geändert zu werden brauchte. Dieser Kopf hatte Leben und war in klarer, zweifelloser Weise charakterisiert. Man konnte ja die übrige Figur noch den Anforderungen dieses Kopfes entsprechend verbessern; man konnte und mußte sogar die Beine anders auseinanderrücken, die Haltung des linken Armes völlig verändern, das Haar nach hinten zurückwerfen. Aber wenn er diese Verbesserungen vornahm, so änderte er dadurch die Gestalt nicht, sondern er beseitigte nur das, wodurch sie verborgen wurde. Er nahm gleichsam Hüllen von ihr herunter, die ihre volle Sichtbarkeit beeinträchtigt hatten. Jeder neue Bleistiftstrich ließ die ganze Gestalt nur noch mehr in ihrer vollen, energischen Kraft hervortreten, so, wie sie ihm plötzlich durch den Stearinfleck erschienen war. Er war eben dabei, die Zeichnung vorsichtig zu beenden, als ihm die Besuchskarten überbracht wurden. »Ich komme sofort!«

Er ging ins andere Zimmer zu seiner Frau.

»Nun, laß es gut sein, Sascha, sei nicht mehr böse!« sagte er zu ihr mit einem schüchternen, zärtlichen Lächeln. »Du hattest schuld, ich hatte schuld. Ich werde alles in Ordnung bringen.« Und nachdem er sich so mit seiner Frau versöhnt hatte, zog er seinen olivenfarbenen Überzieher mit dem Samtkragen an, setzte den Hut auf und ging nach seinem Atelier. Daß ihm die Zeichnung so gut gelungen war, hatte er schon wieder vergessen. Jetzt freute und erregte ihn nur der Besuch seines Ateliers durch diese vornehmen Russen, die in einem Wagen angefahren gekommen waren.

Über sein großes Gemälde, das auf seiner Staffelei stand, hatte er in der Tiefe seiner Seele sein bestimmtes Urteil fertig: daß ein solches Bild noch nie jemand gemalt habe. Er glaubte gerade nicht, daß sein Bild besser sei als alle Raffaelschen; aber er war überzeugt, daß das, was er in seinem Bilde hatte zum Ausdruck bringen wollen, noch nie von einem andern ausgedrückt worden war. Das war seine feste Überzeugung, und diese Überzeugung hatte er schon längst gehabt, schon seit der Zeit, wo er sein Bild angefangen hatte zu malen; aber die Urteile der Leute, von welcher Art auch immer diese Leute waren, hatten für ihn trotzdem eine gewaltige Wichtigkeit und erregten ihn bis auf den tiefsten Grund seiner Seele. Jede Bemerkung, selbst die unbedeutendste, die zeigte, daß die Beurteiler auch nur einen kleinen Teil von dem sahen, was er selbst in diesem Bilde sah, machte auf ihn den allerstärksten Eindruck. Er schrieb seinen Beurteilern immer ein weit tieferes Verständnis zu, als er es selbst besaß, und erwartete stets von ihnen etwas zu erfahren, was er selbst an seinem Bilde noch nicht gesehen hatte. Und oft meinte er wirklich in den Kritiken der Beschauer derartiges zu finden.

Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Hause, in dem sich sein Atelier befand, und war trotz seiner Aufregung überrascht von der weichen Beleuchtung der Gestalt Annas, die im Schatten an der Haustür stand, auf Golenischtschew hinhörte, der ihr eifrig etwas auseinandersetzte, und gleichzeitig offenbar wünschte, sich den herankommenden Maler anzusehen. Er wurde sich selbst dessen gar nicht bewußt, daß er bei der Annäherung an die Besucher diesen Eindruck erfaßte und gleichsam verschluckt hatte, ebenso wie den vom Kinn des Zigarrenhändlers, und ihn da irgendwo verborgen hatte, um ihn, sobald es nötig sein würde, wieder hervorzuholen. Die Besucher, die schon im voraus durch Golenischtschews Mitteilungen über den Maler enttäuscht worden waren, sahen sich durch sein Äußeres noch mehr enttäuscht. Von mittlerer Größe, stämmig, mit seinem gezierten Gang, in seinem braunen Hut, dem olivenfarbenen Überzieher und den engen Beinkleidern, während schon längst weite getragen wurden, namentlich aber durch sein sehr gewöhnliches, breites Gesicht, auf dem sich der Ausdruck von Schüchternheit mit dem gespreizter Würde verband, brachte bei Michailow einen unangenehmen Eindruck hervor.

»Bitte ergebenst«, sagte er, indem er sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, trat in den Hausflur, holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.

11

Beim Eintritt in das Atelier richtete Michailow noch einmal seinen Blick auf seine Gäste und notierte sich in seinem Gedächtnis noch den Ausdruck des Wronskischen Gesichtes, besonders den der Backenknochen. Obgleich sein Künstlersinn unablässig weiterarbeitete und neues Material sammelte und obgleich seine Aufregung sich immer mehr steigerte, je näher der Augenblick der Kritik über seine Arbeit heranrückte, bildete er sich dennoch aus kaum wahrnehmbaren Merkmalen schnell und scharfsinnig ein Urteil über diese drei Persönlichkeiten. Jener da, Golenischtschew, war ein hier ansässiger Russe. Michailow erinnerte sich nicht, wie der Mann hieß, auch nicht, wo er ihn schon getroffen und worüber er mit ihm gesprochen hatte. Er erinnerte sich nur seines Gesichtes, wie er sich aller Gesichter erinnerte, die er jemals gesehen hatte; aber er erinnerte sich auch, daß er dieses Gesicht in seinem Gedächtnis in die gewaltig große Abteilung der Gesichter gelegt hatte, die eine gewisse Bedeutung vortäuschen, in Wahrheit aber ausdrucksleer sind. Das lange Haar und die sehr offene Stirn verliehen äußerlich diesem Gesicht etwas Bedeutsames, und doch lag in ihm eigentlich weiter nichts als ein kleinlicher, kindhafter, unruhiger Ausdruck, der sich über dem schmalen Nasensattel verdichtete. Wronski und Frau Karenina mußten nach Michailows Schlußfolgerungen vornehme, reiche Russen sein, die, wie alle diese reichen Russen, von Kunst nichts verstanden, sich aber als Liebhaber und Kritiker aufspielten. ›Sicherlich haben sie sich schon alle alten Bilder angesehen und fahren jetzt bei den Ateliers der neuzeitlichen Maler umher, bei den großmäuligen Deutschen und den verrückten präraffaelitischen Engländern, und zu mir sind sie nur um der Vollständigkeit der Besichtigung willen gekommen‹, dachte er. Er kannte sehr genau jene Art der Kunstliebhaber (je klüger sie waren, um so schlimmer), die Ateliers zeitgenössischer Künstler nur deshalb zu besichtigen, um ein Recht zu haben zu der Behauptung, die Kunst sei heruntergekommen, und je mehr man die Leistungen der modernen Maler betrachte, um so mehr komme man zu der Erkenntnis, daß doch die alten großen Meister schlechterdings unerreicht geblieben seien. Auf alles dies war er auch bei diesen beiden Besuchern gefaßt; alles dies las er auf ihren Gesichtern, ersah es aus der geringschätzigen Gleichgültigkeit, mit der sie untereinander sprachen und die Gliederpuppen und Büsten beschauten und zwanglos umhergingen, während sie darauf warteten, daß er das Gemälde enthülle. Trotzdem empfand er, während er seine Studien umdrehte, die Vorhänge aufzog und das Laken abnahm, eine starke Erregung, um so mehr, da, obgleich nach seiner Vorstellung alle vornehmen, reichen Russen Esel und Dummköpfe sein mußten, doch Wronski und namentlich Anna ihm gefielen.

»Hier, ist es gefällig?« sagte er, indem er mit seinem gezierten Gang zur Seite trat und auf das Gemälde wies. »Es ist das Verhör durch Pilatus. Matthäus, Kapitel siebenundzwanzig«, bemerkte er erläuternd und fühlte, daß ihm die Lippen vor Aufregung zu zittern begannen. Er trat beiseite und stellte sich hinter die Beschauer.

Die kurze Zeit über, während die Besucher das Gemälde schweigend betrachteten, sah auch Michailow es an, und zwar mit gleichmütigem Blick, als ob er ein Fremder wäre. Während dieser wenigen Augenblicke war er im voraus des Glaubens, daß sie das maßgebendste, gerechteste Urteil abgeben würden, gerade sie, diese Besucher, die er noch eine Minute vorher so sehr verachtet hatte. Vergessen hatte er alles, was er früher über sein Bild gedacht hatte, die drei Jahre über, in denen er daran gemalt hatte, vergessen all seine Vorzüge, die ihm als ganz zweifellos erschienen waren: er betrachtete das Bild jetzt mit ebenso gleichgültigen, fremden Blicken wie seine Besucher und fand an ihm nichts Gutes mehr. Er sah im Vordergrund das ärgerliche Gesicht des Pilatus und das ruhige Antlitz Christi und im Hintergrund die Gestalten der Untergebenen des Pilatus und das Gesicht des Johannes, der aufmerksam verfolgte, was da vorging. Jede einzelne Gestalt, die nach so langem Suchen, nach so vielen Irrtümern und Verbesserungen sich mit ihrer besonderen Charakterisierung in seinem Geiste herausgebildet hatte, jede einzelne Gestalt, die ihm soviel Pein und soviel Freude bereitet hatte, und alle diese Gestalten zusammen, die er so oft um des Gesamteindrucks willen ihren Platz hatte wechseln lassen, alle mit so vieler Mühe erzielten Schattierungen der Farben und der Töne: alles dies zusammen erschien ihm jetzt, wo er es mit den Augen seiner Besucher sah, als eine schon tausendmal wiederholte Alltäglichkeit. Die Figur, die ihm die liebste und teuerste war, die Christusfigur, der Mittelpunkt des Gemäldes, über die er, als sie sich ihm einst offenbart hatte, in höchste Begeisterung geraten war, sie hatte für ihn allen Reiz verloren, nun er das Gemälde mit den Augen Fremder beschaute. Er sah eine gut gemalte (eigentlich nicht einmal gut gemalte, da er jetzt deutlich eine ganze Menge von Mängeln wahrnahm) Wiederholung jener zahllosen Christusse von Tizian, Raffael und Rubens, eine Wiederholung der nämlichen Kriegsknechte und des nämlichen Pilatus. All das war so alltäglich, armselig und veraltet, und es war sogar schlecht gemalt: bunt und schwächlich. ›Diese drei Besucher‹, sagte er sich, ›werden ganz recht haben, wenn sie in Gegenwart des Künstlers ein paar heuchlerisch höfliche Phrasen hinreden und, sobald sie unter sich allein sind, ihn bedauern und sich über ihn lustig machen.‹

Dieses Schweigen, obwohl es nicht länger als eine Minute gedauert hatte, wurde ihm gar zu drückend. Um es zu unterbrechen und zu zeigen, daß er nicht aufgeregt sei, tat er sich Gewalt an und wandte sich zu Golenischtschew:

»Ich habe wohl schon einmal das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zusammenzutreffen«, sagte er, blickte aber dabei unruhig bald zu Anna, bald zu Wronski hin, um sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes entgehen zu lassen.

»Gewiß! Wir haben uns bei Rossi getroffen; Sie besinnen sich: bei der Abendgesellschaft, wo dieses italienische Fräulein, die neue Rachel, vortrug«, antwortete Golenischtschew in munterem Ton; er wandte seine Augen ohne das geringste Bedauern von dem Gemälde weg und blickte den Maler an.

Als er jedoch bemerkte, daß Michailow ein Urteil über sein Bild erwartete, sagte er:

»Ihr Bild ist sehr fortgeschritten, seit ich es zum letzten Male gesehen habe. Und wie damals, so hat auch jetzt die Figur des Pilatus für mich etwas außerordentlich Überraschendes. So gewinnt man Verständnis für diesen Menschen, einen ganz braven, wackeren Gesellen, aber eingefleischten Beamten, der nicht weiß, was er tut. Aber mir scheint ...«

Michailows ganzes bewegliches Gesicht strahlte plötzlich auf; seine Augen leuchteten. Er wollte etwas sagen; aber er konnte vor Aufregung nicht reden und stellte sich, als ob er husten müsse. Wie gering er auch Golenischtschews Kunstverständnis einschätzte, wie unbedeutend auch dessen richtige Bemerkung über den wohlgetroffenen Beamtencharakter im Gesicht des Pilatus an sich war, wie verletzend es ihm auch sein konnte, daß jener zuerst eine so geringfügige Bemerkung aussprach und von wichtigeren Dingen nichts sagte: trotzdem war Michailow von dieser Bemerkung ganz entzückt. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus genau dasselbe, was Golenischtschew soeben gesagt hatte. Und der Umstand, daß diese Beobachtung nur eine einzige unter vielen anderen Beobachtungen war, die, wie Michailow fest überzeugt war, alle ebenso zutreffend sein würden, dieser Umstand verringerte in seinen Augen den Wert der Bemerkung Golenischtschews in keiner Weise. Er faßte um dieser Bemerkung willen eine Neigung für Golenischtschew und ging aus seinem Zustande der Niedergeschlagenheit unvermittelt in den der Glückseligkeit über. Sogleich gewann sein ganzes Bild in seinen Augen Leben und ließ die ganze, unsagbar kunstvolle Organisation erkennen, wie sie allem Lebendigen eigen ist. Michailow setzte wieder dazu an, zu sagen, daß er den Pilatus ganz ebenso aufgefaßt habe; aber seine zitternden Lippen versagten ihm den Dienst, und er vermochte es nicht auszusprechen. Wronski und Anna sagten ebenfalls etwas in jenem gedämpften Ton, in dem man gewöhnlich vor ausgestellten Bildern zu sprechen pflegt, teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die einem ja bei Gesprächen über Kunst so leicht über die Lippen kommen kann. Michailow hatte die Empfindung, daß sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht habe. Er trat zu ihnen.

 

»Wie wundervoll der Ausdruck des Christuskopfes ist!« sagte Anna. Von allem, was sie sah, gefiel ihr dieser Ausdruck am meisten; sie fühlte, daß dies der eigentliche Mittelpunkt des Gemäldes sei und dieses Lob daher dem Künstler besonders angenehm sein müsse. »Man sieht, daß ihm Pilatus leid tut.«

Dies war wieder eine von jenen unzähligen zutreffenden Beobachtungen, die man an seinem Gemälde und besonders an der Figur Christi machen konnte. Die Dame hatte gesagt, Pilatus tue Christus leid. In dem Gesichtsausdruck Christi muß ja auch der Ausdruck des Mitleids liegen, weil in ihm der Ausdruck der Liebe liegt und der Ausdruck einer himmlischen Ruhe und der Bereitschaft zum Tode und des Bewußtseins, daß weiteres Reden nutzlos ist. Natürlich muß in dem Gesicht des Pilatus der Ausdruck der Denkweise eines Beamten liegen und in dem Gesicht Christi der Ausdruck des Mitleides, da eben der eine die Verkörperung des fleischlichen Lebens ist, der andere die Verkörperung des geistigen Lebens. All diese und viele andere Gedanken huschten Michailow durch den Kopf. Und wieder erstrahlte sein Gesicht vor Entzücken.

»Ja, und wie diese Gestalt ausgeführt ist, wieviel Luft zwischen ihr und den anderen Figuren ist! Als könnte man um sie herumgehen«, sagte Golenischtschew, der durch diese Bemerkung offenbar zeigen wollte, daß er mit dem geistigen Gehalt und der Idee dieser Figur nicht sonderlich zufrieden sei.

»Ja, eine erstaunliche Meisterschaft!« bemerkte Wronski. »Wie sich diese Gestalten vom Hintergrunde abheben! Das nennt man Technik!« fügte er, zu Golenischtschew gewendet, hinzu und spielte damit auf ein früheres Gespräch zwischen ihnen beiden an, bei dem Wronski geäußert hatte, er verzweifle daran, sich eine gute Technik zu eigen zu machen.

»Ja gewiß, erstaunlich!« stimmten Golenischtschew und Anna bei.

Trotz der gehobenen Stimmung, in der sich Michailow befand, ließ diese Bemerkung über die Technik sein Herz schmerzlich zusammenzucken; ärgerlich blickte er Wronski an und machte plötzlich ein sehr finsteres Gesicht. Er hatte dieses Wort Technik oft gehört und schlechterdings nicht verstanden, was die Leute eigentlich damit sagen wollten. Er wußte, daß sie unter diesem Wort eine mechanische Fähigkeit zu malen und zu zeichnen verstanden, die von dem Gegenstand des Bildes ganz unabhängig ist. Oft hatte er, wie auch bei dem jetzigen Lob, gemerkt, daß die Leute die Technik dem inneren Wert gegenüberstellten, als ob es möglich wäre, etwas an sich Schlechtes gut zu malen. Er wußte, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht vonnöten war, um, wenn man von dem vorschwebenden Idealbilde die Hüllen abnahm, das Kunstwerk selbst nicht zu beschädigen, und um auch wirklich alle Hüllen herunterzubekommen; aber das war eben die Kunst des Malens – von Technik war dabei gar nicht die Rede. Wenn das, was er mit dem geistigen Auge sah, sich ebenso einem kleinen Kinde oder seiner Köchin offenbarte, so würden auch sie verstehen, was sie gesehen hatten, herauszuschälen. Aber anderseits würde der erfahrenste, geschickteste Techniker der Malerei durch die bloße mechanische Fähigkeit nicht imstande sein, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher der Inhalt in klarer Umgrenzung geoffenbart hätte. Außerdem war Michailow sich bewußt, daß, wenn man nun einmal von Technik reden wolle, man gerade ihn in dieser Hinsicht nicht loben könne. In allem, was er malte und gemalt hatte, erkannte er Mängel, die ihm in den Augen weh taten, Mängel, die von der Unachtsamkeit herrührten, mit der er die Hüllen abgenommen hatte, und die er jetzt nicht mehr verbessern konnte, ohne das ganze Kunstwerk zu verderben. Und auch bei diesem Bilde sah er an fast allen Gestalten und Gesichtern Reste nicht vollständig abgenommener Hüllen, die den Wert des Bildes minderten.

»In einem Punkte könnte man anderer Ansicht sein, wenn Sie mir eine solche Bemerkung gestatten wollen ...«, begann Golenischtschew.

»Aber es freut mich sehr, und ich bitte Sie herzlich«, erwiderte Michailow, gezwungen lächelnd.

»Ich meine: daß Christus bei Ihnen ein Menschgott ist, und nicht ein Gottmensch. Übrigens weiß ich recht wohl, daß Sie das gerade beabsichtigt haben.«

»Ich kann keinen Christus malen, der nicht in meiner Seele vorhanden ist«, versetzte Michailow mit finsterem Gesichte.

»Ja, aber in diesem Falle ... wenn Sie mir gestatten, meinen Gedanken auszusprechen ... Ihr Bild ist ja so vortrefflich, daß meine Bemerkung ihm keinen Abbruch tun kann, und dann ist das ja auch nur meine persönliche Meinung. Bei Ihnen ist der ganze Vorgang ein anderer geworden; das Motiv selbst ist ein anderes. Aber nehmen wir meinetwegen Iwanow als Beispiel. Ich meine, statt Christus auf die Stufe einer bloßen historischen Persönlichkeit zu stellen, hätte Iwanow besser getan, sich ein anderes historisches Thema, ein frisches, unangerührtes, auszusuchen.«

»Aber wenn dies doch das erhabenste Thema ist, das sich der Kunst darbietet?«

»Wenn man nur suchen will, finden sich schon noch andere. Aber die Sache ist die, daß ein Kunstwerk keinen Streit und keine Auseinandersetzungen vertragen kann. Und bei Iwanows Bild entsteht für den Gläubigen und für den Ungläubigen die Frage: ist das ein Gott oder kein Gott? Und dieser Zweifel zerstört die Einheitlichkeit der Wirkung.«

»Wieso?« erwiderte Michailow. »Mir scheint, daß für gebildete Leute darüber kein Streit mehr möglich ist.«

Golenischtschew stimmte diesem Satze nicht zu, und indem er an dem vorher von ihm ausgesprochenen Gedanken von der für ein Kunstwerk erforderlichen Einheitlichkeit der Wirkung festhielt, schlug er Michailow aus dem Felde.

Michailow geriet zwar in große Erregung, wußte aber zur Verteidigung seiner Anschauung nichts vorzubringen.