Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Anna saß in einem grauen Schlafrocke auf dem Liegestuhl; ihr schwarzes Haar, das nach der Krankheit stark ausging, war kurz geschoren und bildete nun um ihren runden Kopf eine dichte Bürste. Wie stets beim Anblicke ihres Mannes verschwand das lebendige Mienenspiel sofort aus ihrem Gesichte; sie ließ den Kopf sinken und blickte sich unruhig nach Betsy um. Betsy saß neben ihr, in sehr gerader Haltung ihrer flachen, hohen Figur; sie war nach der allerneuesten Mode gekleidet: der Hut schwebte über ihrem Kopfe wie eine Lampenglocke über der Lampe; das Kleid war taubengrau mit hellfarbigen, schrägen Streifen, die an der Hüfte in dieser, am Rocke nach jener Richtung liefen. Sie begrüßte Alexei Alexandrowitsch mit einer Neigung des Kopfes und einem spöttischen Lächeln.

»Ah!« machte sie, als ob sie sehr erstaunt wäre. »Ich freue mich sehr, daß Sie zu Hause sind. Sie lassen sich ja nirgends blicken, und ich habe Sie seit Annas Krankheit nicht mehr gesehen. Ich habe alles gehört – wieviel Sorge Sie gehabt haben. Ja, Sie sind ein bewunderungswürdiger Gatte!« sagte sie mit einer bedeutsamen, freundlichen Miene, als verleihe sie ihm den Orden der Großherzigkeit für sein Verhalten seiner Frau gegenüber.

Alexei Alexandrowitsch verbeugte sich kühl, küßte seiner Frau die Hand und fragte nach ihrem Befinden.

»Ich meine, es geht etwas besser«, antwortete sie, seinem Blicke ausweichend.

»Aber mir kommt es so vor, als hätten Sie eine fieberhafte Färbung im Gesicht«, erwiderte er und legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort »fieberhaft«.

»Ich habe mit ihr zuviel geplaudert«, bemerkte Betsy. »Ich fühle, daß das meinerseits zu selbstsüchtig war, und will nun auch aufbrechen.«

Sie stand auf; aber Anna ergriff, plötzlich errötend, schnell ihre Hand.

»Nein, bitte, bleiben Sie noch ein Weilchen! Ich muß Ihnen sagen ... nein, Ihnen«, wandte sie sich an Alexei Alexandrowitsch, während eine dunkle Röte sich über ihren Hals und ihre Stirn ausbreitete. »Ich will und kann vor Ihnen kein Geheimnis haben«, fügte sie hinzu.

Alexei Alexandrowitsch knackte mit den Fingern und senkte den Kopf.

»Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronski zu uns zu kommen wünscht, um uns vor seiner Abreise nach Taschkent Lebewohl zu sagen.« Sie sah ihren Mann nicht an und beeilte sich offenbar, alles herauszureden, wie schwer es ihr auch werden mochte. »Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn nicht empfangen kann.«

»Sie sagten, meine Liebe, das werde von Alexei Alexandrowitsch abhängen«, verbesserte Betsy sie.

»Nein, ich kann ihn nicht empfangen, und es hat ja auch keinen Zweck ...« Sie hielt plötzlich inne und richtete einen fragenden Blick auf ihren Mann; aber dieser sah sie nicht an. »Mit einem Worte, ich will nicht ...«

Alexei Alexandrowitsch trat näher an sie heran und wollte ihre Hand ergreifen.

Ihre erste unwillkürliche Bewegung war, ihre Hand von seiner feuchten, mit großen, hervortretenden Adern überzogenen Hand wegzuziehen, die nach der ihrigen suchte; aber dann bezwang sie sich offenbar mit Anstrengung und drückte ihm die Hand.

»Ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen sehr dankbar«, begann er. »Aber ...«, hier geriet er in Verwirrung und fühlte zu seinem Ärger, daß er eine Frage, die er still für sich mit größter Leichtigkeit und Klarheit hätte entscheiden können, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu erwägen imstande war. Denn diese Frau erschien ihm als eine Verkörperung jener gröberen Kraft, die nach der Anschauung der Welt seinem Leben die Richtung geben sollte und ihn hinderte, sich seinem Gefühle der Liebe und Verzeihung zu überlassen. Er hielt inne und blickte die Fürstin Twerskaja an.

»Nun, leben Sie wohl, liebes Herz!« sagte Betsy und stand auf. Sie küßte Anna und ging hinaus. Alexei Alexandrowitsch gab ihr das Geleit.

»Alexei Alexandrowitsch, ich kenne Sie als einen Mann von wahrhaft edler Gesinnung«, sagte Betsy, indem sie im kleinen Salon stehenblieb und ihm die Hand noch einmal besonders kräftig drückte. »Ich stehe Ihnen ja verhältnismäßig fern; aber ich liebe Anna so sehr und empfinde für Sie eine solche Hochachtung, daß ich mir erlauben möchte, einen Rat aus zusprechen. Empfangen Sie ihn! Alexei Wronski ist der Inbegriff der Ehrenhaftigkeit, und er ist im Begriff, nach Taschkent abzureisen.«

»Ich danke Ihnen, Fürstin, für Ihre Teilnahme und für Ihren Rat. Aber die Frage, ob meine Frau jemanden empfangen kann oder nicht, muß sie selbst entscheiden.«

Bei diesen Worten zog er, wie es seine Gewohnheit war, die Augenbrauen würdevoll in die Höhe, wurde sich aber im gleichen Augenblicke bewußt, daß, mochte er die Worte auch noch so kunstvoll wählen, von Würde in seiner Lage nicht die Rede sein konnte. Und daß Betsy dasselbe dachte, sah er an dem verhaltenen, boshaften, spöttischen Lächeln, mit dem sie ihn nach dieser Erwiderung anblickte.

20

Im Saale verbeugte sich Alexei Alexandrowitsch vor Betsy und ging zu seiner Frau zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit gelegen, nahm aber, als sie seine Schritte hörte, schnell wieder ihre frühere sitzende Stellung ein und blickte ihn erschrocken an. Er sah, daß sie geweint hatte.

»Ich bin dir für dein Vertrauen zu mir sehr dankbar«, wiederholte er in sanftem Tone auf russisch den Satz, den er kurz vorher in Betsys Gegenwart auf französisch gesagt hatte, und setzte sich neben sie. Sobald er russisch zu ihr sprach und du zu ihr sagte, geriet Anna über dieses Du jedesmal in einen so gereizten Zustand, daß sie sich nicht beherrschen konnte. »Und ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du die Frage in verneinendem Sinne entschieden hast. Ich bin gleichfalls der Ansicht, daß, wenn Graf Wronski abreist, es in keiner Weise erforderlich ist, daß er zu uns herkommt. Übrigens ...«

»Das habe ich ja schon gesagt; also wozu wiederholst du es noch einmal?« unterbrach ihn Anna plötzlich mit einer Gereiztheit, die sie nicht zu unterdrücken imstande war. ›Nein‹, dachte sie, ›es ist in keiner Weise erforderlich, daß ein Mann der Frau Lebewohl zu sagen kommt, die er liebt, um derentwillen er sich das Leben nehmen wollte und sich unglücklich gemacht hat und die ohne ihn nicht leben kann. Nein, das ist in keiner Weise erforderlich!‹ Sie preßte die Lippen zusammen und richtete ihre funkelnden Augen auf seine Hände mit den hervortretenden Adern; er rieb langsam eine Hand gegen die andere. »Wir wollen nie wieder davon sprechen«, fügte sie etwas ruhiger hinzu.

»Ich habe es dir überlassen, diese Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen ...«, begann Alexei Alexandrowitsch.

»Daß mein Wunsch mit dem Ihrigen zusammentrifft«, beendete sie schnell seinen Satz; daß er so langsam sprach, während sie alles, was er sagen wollte, im voraus wußte, machte sie nervös.

»Ja«, bestätigte er die Richtigkeit ihrer Ergänzung, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich ganz unangebrachterweise in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Gerade sie ...«

»Ich glaube nichts von dem, was über sie geredet wird«, fiel ihm Anna schnell ins Wort. »Ich weiß, daß sie mich aufrichtig lieb hat.«

Alexei Alexandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte erregt mit den Quasten ihres Schlafrockes und blickte ihren Mann mit jenem qualvollen Gefühle physischen Widerwillens an, weswegen sie sich oft schalt, das sie aber nicht zu überwinden vermochte. Sie wünschte jetzt nur eins: von seiner widerwärtigen Gegenwart befreit zu sein.

»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt«, sagte Alexei Alexandrowitsch.

»Ich bin gesund; wozu brauche ich den Arzt?«

»Du nicht; aber die Kleine schreit fortwährend, und es wird vermutet, daß die Amme zu wenig Nahrung hat.«

»Warum hast du mir nicht erlaubt, die Kleine selbst zu nähren, als ich dich darum bat? Es ist ja ganz gleichgültig« (Alexei Alexandrowitsch verstand, was dieses »ganz gleichgültig« bedeutete); »sie ist nur ein kleines Kind, und da läßt man sie umkommen.« Sie klingelte und befahl, ihr das Kind zu bringen. »Als ich bat, das Kind selbst nähren zu dürfen, wurde es mir nicht erlaubt, und jetzt bekomme ich die Vorwürfe.«

»Ich mache dir keine Vorwürfe ...«

»Doch, das tun Sie! Mein Gott, warum bin ich nicht gestorben!« Sie brach in Schluchzen aus. »Verzeih mir, ich bin so reizbar, ich bin ungerecht«, fügte sie kurz darauf, zur Besinnung kommend, hinzu. »Aber bitte, geh jetzt ...«

›Nein, das kann nicht so bleiben‹, sagte Alexei Alexandrowitsch mit aller Bestimmtheit zu sich selbst, während er hinausging.

Die Unzulässigkeit seiner Lage nach der Anschauung der Welt und der Haß seiner Frau gegen ihn und überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Gewalt, die im Gegensatze zu seiner Seelenstimmung sein Leben lenkte und die Erfüllung ihres Willens und die Änderung seines Verhältnisses zu seiner Frau forderte, dies alles war ihm noch nie mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten wie heute. Er sah klar, daß die ganze Welt und seine Frau etwas von ihm verlangten; aber was sie eigentlich verlangten, das vermochte er nicht zu erfassen. Er fühlte, daß infolgedessen in seiner Seele ein gewisser Ingrimm heranwuchs, der ihm seine Ruhe raubte und das ganze Verdienst seiner edlen Tat zunichte machte. Er war der Ansicht, daß es für Anna das beste sei, die Beziehungen zu Wronski abzubrechen; aber wenn die Leute alle fanden, daß dies unmöglich sei, nun, so war er auch bereit, diese Beziehungen von neuem zu dulden, um nur nicht Schande über die Kinder kommen zu lassen, ihrer nicht beraubt zu werden und seine Lage nicht ändern zu müssen. Wie übel dies auch war, so war es doch immer noch besser als ein Bruch, durch den Anna in eine schmähliche, rettungslose Lage geraten und er selbst alles verlieren würde, was er liebte. Aber er fühlte sich machtlos; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein und ihn nicht das tun lassen würden, was ihm jetzt so natürlich und gut erschien, sondern ihn zwingen würden, das zu tun, was zwar schlecht, aber nach ihrer Meinung erforderlich war.

 

21

Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr in der Tür Stepan Arkadjewitsch begegnete; er kam soeben von Jelisew, wo frische Austern eingetroffen waren.

»Ah! Sie, Fürstin! Das nenne ich eine angenehme Begegnung!« rief er. »Ich bin soeben bei Ihnen gewesen.«

»Die Begegnung kann aber nur einen Augenblick dauern; denn ich bin im Weggehen«, antwortete Betsy lächelnd und zog sich den Handschuh an.

»Warten Sie noch, Fürstin, ziehen Sie sich den Handschuh noch nicht an; lassen Sie mich Ihnen vorher noch die Hand küssen. Nichts hat bei dem Wiederaufkommen der alten Gebräuche so sehr meinen Beifall wie der Handkuß.« Er küßte Betsy die Hand. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Sie verdienen das gar nicht«, erwiderte Betsy lächelnd.

»Doch, doch! Ich verdiene es durchaus; denn ich bin der solideste Mensch von der Welt geworden. Ich bringe nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung«, versetzte er mit vielsagender Miene.

»Ach, das freut mich sehr!« antwortete Betsy, die sofort begriff, daß er von Anna sprach. Sie kehrten in den Saal zurück und traten dort in eine Ecke. »Er wird sie zu Tode martern«, sagte Betsy im Flüstertone, aber mit starkem Nachdruck. »Das kann unmöglich so weitergehen, ganz unmöglich ...«

»Ich freue mich sehr, daß Sie dieser Ansicht sind«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und wiegte mit dem Ausdrucke ernster, schmerzlicher Teilnahme den Kopf hin und her. »Ich bin deswegen nach Petersburg herübergekommen.«

»Die ganze Stadt spricht davon«, sagte sie. »Es ist ein ganz unmöglicher Zustand. Sie schwindet dabei rettungslos dahin. Er begreift nicht, daß sie eine von den Frauen ist, die nicht imstande sind, mit ihren Gefühlen zu scherzen. Eins von beiden muß geschehen: entweder muß der eine energisch vorgehen und sie entführen, oder der andere muß in die Scheidung willigen. Aber in der jetzigen Lage erstickt sie.«

»Ja, ja ... sehr richtig ...«, antwortete Oblonski seufzend. »Deswegen bin ich eben hergekommen. Das heißt, nicht ausschließlich deswegen ... Ich bin zum Kammerherrn ernannt worden; na, und da muß man sich doch bedanken. Aber die Hauptsache ist doch, daß ich diese Angelegenheit hier in Ordnung bringen muß.«

»Nun, Gott helfe Ihnen bei Ihrem Bemühen!« sagte Betsy.

Nachdem er die Fürstin Betsy bis auf den Flur begleitet, ihr noch einmal die Hand oberhalb des Handschuhs, da, wo der Puls klopft, geküßt und ihr noch eine solche Menge pikanten Unsinns hingeschwatzt hatte, daß sie nicht wußte, ob sie sich darüber ärgern oder darüber lachen sollte, begab sich Stepan Arkadjewitsch zu seiner Schwester. Er fand sie in Tränen.

Trotz der übersprudelnd heiteren Stimmung, in der sich Stepan Arkadjewitsch befand, ging er doch sofort zu einem teilnahmsvollen, poetisch angehauchten Tone über, der zu ihrem Gemütszustand paßte, und es gelang ihm, diesen Ton in einer durchaus natürlich anmutenden Weise zu treffen. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden und wie sie den Morgen verbracht habe.

»Schlecht, sehr schlecht. Den Morgen und alle vergangenen und zukünftigen Tage«, antwortete sie.

»Mir scheint, du überläßt dich zu sehr einer trüben Stimmung. Man muß sich aufraffen und das Leben mit festem Blick anschauen. Ich weiß, daß das manchmal schwer ist; aber ...«

»Ich habe gehört, daß manche Frau ihren Mann sogar wegen seiner Laster liebt«, begann Anna plötzlich; »ich aber hasse den meinigen wegen seiner Tugend. Ich kann nicht mit ihm leben. Glaube mir: sein bloßer Anblick wirkt physisch auf mich abstoßend; er macht mich geradezu wild. Ich kann nicht mit ihm leben, ich kann es nicht. Was soll ich nur anfangen? Ich war unglücklich und dachte, ein größeres Unglück könne es nicht geben; aber von dem furchtbaren Zustande, den ich jetzt durchmache, hatte ich keine Vorstellung. Kannst du das glauben: ich weiß, daß er ein guter, ein vortrefflicher Mensch ist, daß ich nicht soviel wert bin wie sein Fingernagel, und dennoch hasse ich ihn. Ich hasse ihn wegen seiner Großmut. Und es bleibt mir nichts weiter übrig als ...«

Sie wollte sagen: ›als der Tod‹; aber Stepan Arkadjewitsch ließ sie nicht ausreden.

»Du bist krank und reizbar«, sagte er. »Glaube mir, du übertreibst ungeheuer. So schrecklich ist die Lage ganz und gar nicht.«

Bei diesen Worten lächelte Stepan Arkadjewitsch. Kein anderer hätte an seiner Stelle, einer solchen Verzweiflung gegenüber, sich erlaubt zu lächeln; denn ein Lächeln wäre als Roheit erschienen; aber in seinem Lächeln lag eine solche Gutmütigkeit und eine solche fast frauenhafte Zärtlichkeit, daß sein Lächeln nichts Verletzendes, sondern vielmehr etwas Besänftigendes, Beruhigendes hatte. Die Art, wie er leise und beschwichtigend redete und lächelte, wirkte mildernd und beruhigend wie Mandelöl. Und Anna fühlte das in kurzem.

»Nein, Stiwa«, sagte sie. »Mit mir ist es aus, mit mir ist es aus! Ja, es steht noch schlimmer: es ist eben noch nicht aus; ich kann nicht sagen, daß alles zu Ende wäre; im Gegenteil, ich fühle, daß es noch nicht zu Ende ist. Ich bin wie eine zu straff gespannte Saite, die reißen muß. Aber es ist noch nicht zu Ende ..., und es wird ein furchtbares Ende nehmen.«

»Aber nicht doch! Man kann die Saite ganz sachte nachlassen. Es gibt keine Lage, aus der man nicht einen Ausweg finden könnte.«

»Ich habe gesonnen und gesonnen. Es gibt nur einen ...«

Wieder merkte er an ihrem verstörten Blicke, daß dieser einzige Ausweg nach ihrer Ansicht der Tod war, und ließ sie nicht ausreden.

»Keineswegs«, unterbrach er sie, »erlaube einmal! Du kannst deine Lage nicht so genau beurteilen wie ich. Erlaube, daß ich dir aufrichtig meine Meinung sage!« Wieder lächelte er behutsam mit seinem Mandelöl-Lächeln. »Ich fange von Anfang an: du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast ohne Liebe geheiratet oder ohne die Liebe zu kennen. Das war ein Fehler, wie nicht zu leugnen ist.«

»Ein furchtbarer Fehler!« sagte Anna.

»Aber ich stelle fest: es ist eine vollendete Tatsache. Dann hast du, sagen wir einmal, das Unglück gehabt, dich in einen andern Mann zu verlieben. Das war ein Unglück; aber es ist gleichfalls eine vollendete Tatsache. Und dein Mann hat diese Tatsache als solche anerkannt und verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, wie wenn er eine Erwiderung erwartete; aber sie antwortete nichts. »So steht es also. Jetzt ist nun die Frage: Kannst du weiter mit deinem Manne zusammen leben? Wünschst du das? Wünscht er es?«

»Ich weiß nichts; nichts weiß ich.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich widerrufe es. Ich weiß nichts und begreife nichts.«

»Ja, aber erlaube mal ...«

»Das kannst du nicht verstehen. Ich fühle, daß ich kopfüber in einen Abgrund hinabstürze, aber mich nicht retten darf. Und ich kann es auch nicht.«

»Nun, das ist nicht schlimm; wir halten ein Sprungtuch darunter und fangen dich darin auf. Ich verstehe dich; ich verstehe, daß du es nicht über dich gewinnen kannst, das, was du wünschst und empfindest, auszusprechen.«

»Ich wünsche nichts; nichts wünsche ich ..., nur daß alles bald zu Ende sein möchte.«

»Aber er sieht das und weiß das. Und meinst du etwa, daß er sich weniger dadurch bedrückt fühlt als du? Du marterst dich ab, und er martert sich ab; was kann dabei herauskommen? Und doch würde eine Scheidung alle Schwierigkeiten lösen«, schloß Stepan Arkadjewitsch; diesen Hauptgedanken brachte er nur mit einer gewissen Anstrengung heraus und blickte sie nun bedeutungsvoll an.

Sie antwortete nichts und schüttelte nur verneinend ihren kurzgeschorenen Kopf. Aber an dem Ausdruck ihres Gesichtes, das auf einmal wieder in seiner früheren Schönheit erglänzte, sah er, daß sie dies nur deshalb nicht zu wünschen gewagt hatte, weil es ihr als ein unerreichbares Glück erschienen war.

»Ihr tut mir furchtbar leid! Und wie glücklich würde ich sein, wenn es mir gelänge, diese Sache in Ordnung zu bringen!« sagte Stepan Arkadjewitsch und lächelte nun schon wesentlich kühner. »Sprich nicht, sage kein Wort! Möge mir Gott beistehen, damit ich alles so sagen kann, wie ich es empfinde. Ich will jetzt zu ihm gehen.«

Gedankenvoll und mit leuchtenden Augen blickte Anna ihn an; aber sie schwieg.

22

Stepan Arkadjewitsch trat in Alexei Alexandrowitschs Arbeitszimmer mit jener einigermaßen feierlichen Miene ein, mit der er im Sitzungssaale seines Amtes auf dem Stuhle des Vorsitzenden Platz zu nehmen pflegte. Alexei Alexandrowitsch ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, im Zimmer auf und ab und dachte über denselben Gegenstand nach, über den Stepan Arkadjewitsch soeben mit Anna gesprochen hatte.

»Ich störe dich doch nicht?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der beim Anblicke seines Schwagers ein ihm ungewohntes Gefühl der Verlegenheit verspürte. Um diese Verlegenheit zu verbergen, zog er ein eben erst gekauftes Zigarettenetui mit einem neuartigen Verschluß hervor, roch an dem Leder und nahm sich eine Zigarette heraus.

»Nein. Wünschst du etwas?« antwortete Alexei Alexandrowitsch wenig freundlich.

»Ja, ich möchte gern ... ich muß ... ja, ich muß ein paar Worte mit dir sprechen«, versetzte Stepan Arkadjewitsch, der sich zu seiner Verwunderung einer ihm sonst fremden Zaghaftigkeit bewußt wurde.

Dieses Gefühl war für ihn etwas so Unerwartetes und Sonderbares, daß ihm nicht der Gedanke kam, dies könne wohl die Stimme des Gewissens sein, die ihm sage, daß das, was er zu tun beabsichtige, schlecht sei. Stepan Arkadjewitsch nahm sich kräftig zusammen und überwand diesen Anfall von Schüchternheit.

»Ich darf wohl hoffen, daß du von meiner Liebe zu meiner Schwester und von meiner aufrichtigen Zuneigung und Verehrung dir gegenüber überzeugt bist«, sagte er errötend.

Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und antwortete nicht; aber zu seiner Überraschung nahm Stepan Arkadjewitsch wahr, daß das Gesicht seines Schwagers den Ausdruck eines ergebungsvollen Opfertieres trug.

»Ich hatte die Absicht ... ich wollte gern mit dir über meine Schwester und über eure beiderseitige Lage sprechen«, fuhr Stepan Arkadjewitsch fort; er hatte immer noch mit jener ihm ungewohnten Befangenheit zu kämpfen.

Alexei Alexandrowitsch lächelte trübe, blickte seinem Schwager forschend ins Gesicht, trat, ohne zu antworten, an seinen Schreibtisch, nahm einen dort liegenden angefangenen Brief und reichte ihn dem Schwager hin.

»Ich denke an diesen selben Gegenstand unaufhörlich«, sagte er. »Und hier ist der Anfang eines Schreibens, das ich für sie bestimmt hatte; denn ich glaube, daß ich es brieflich besser ausdrücken kann und daß meine Gegenwart sie nur aufregt.«

Stepan Arkadjewitsch nahm den Brief, blickte mit verständnisloser Verwunderung in die trüben Augen, die starr auf ihn gerichtet waren, und begann zu lesen:

»Ich sehe, daß meine Gegenwart Ihnen lästig ist. Wie schwer es mir auch geworden ist, dieser Überzeugung Raum zu gewähren, so sehe ich doch, daß es so ist und nicht anders sein kann. Ich messe Ihnen keine Schuld bei, und Gott ist mein Zeuge, daß ich, als ich Sie in Ihrer Krankheit wiedersah, von ganzer Seele den Entschluß faßte, alles, was zwischen uns getreten war, zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen. Ich bereue das, was ich infolge dieses Entschlusses getan habe, nicht und werde es nie bereuen; aber ich habe nur eins gewünscht: Ihr Wohl, das Heil Ihrer Seele, und ich sehe jetzt, daß ich dieses Ziel nicht erreicht habe. Sagen Sie mir selbst, was imstande ist, Ihnen wahres Glück zu verleihen und Ihrer Seele den Frieden wiederzugeben. Ich werde mich Ihrem Willen und Ihrem Gerechtigkeitssinne völlig fügen.«

Stepan Arkadjewitsch gab den Brief zurück und blickte dann seinen Schwager wieder ebenso verständnislos an wie vorher, ohne zu wissen, was er dazu sagen solle. Dieses Schweigen war für sie beide so peinlich, daß Stepan Arkadjewitschs Lippen, während er schwieg und kein Auge von Karenins Gesichte verwandte, fortwährend zuckten und zitterten.

 

»Das ist es, was ich ihr mitteilen wollte«, sagte Alexei Alexandrowitsch und wandte sich ab.

»Ja, ja ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, war aber nicht imstande weiterzureden, weil ihm die Tränen so nahe waren daß ihm die Stimme versagte. »Ja, ja. Ich verstehe euch beide«, brachte er endlich heraus.

»Ich möchte gern wissen, worauf ihr Wunsch gerichtet ist«, sagte Alexei Alexandrowitsch.

»Ich fürchte, daß sie selbst kein rechtes Verständnis für ihre Lage hat; sie ist dafür nicht der geeignete Richter«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch, der seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Sie fühlt sich erdrückt, tatsächlich erdrückt durch deine Großmut. Wenn sie diesen Brief liest, wird sie nicht imstande sein, etwas zu sagen; sie wird den Kopf nur noch tiefer sinken lassen.«

»Ja, aber was soll ich unter solchen Umständen tun? ... Wie kann ich darüber Klarheit erlangen? ... Wie kann ich erfahren, was sie wünscht?«

»Wenn du mir gestattest, meine Meinung auszusprechen, so möchte ich meinen, daß es bei dir steht, geradezu die Maßregeln zu bestimmen, die du für nötig hältst, um dieser Lage ein Ende zu machen.«

»Mithin findest du, daß ihr ein Ende gemacht werden muß?« unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch. »Aber wie?« fügte er hinzu und machte dabei eine ihm sonst nicht geläufige Bewegung mit den Händen vor den Augen. »Ich sehe keinen möglichen Ausweg.«

»Einen Ausweg gibt es in jeder Lage«, versetzte Stepan Arkadjewitsch, der jetzt lebhafter wurde, und stand auf. »Es hat eine Zeit gegeben, wo du die Trennung wünschtest ... Wenn du jetzt zu der Überzeugung gelangt bist, daß ihr einander nicht glücklich machen könnt ...«

»Es gibt verschiedene Begriffe von Glück. Aber nehmen wir an, daß ich mit allem einverstanden bin und auf jeden eigenen Willen verzichte. Welchen Ausweg gibt es dann aus unserer Lage?«

»Wenn du meine Ansicht wissen willst«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit demselben besänftigenden, zärtlichen Mandelöl-Lächeln, mit dem er zu Anna gesprochen hatte. Diesem gutmütigen Lächeln wohnte eine solche Überredungskraft inne, daß Alexei Alexandrowitsch, der seine Schwäche fühlte und sich ihr widerstandslos überließ, unwillkürlich bereit war, alles zu glauben, was Stepan Arkadjewitsch sagen würde. »Sie wird es niemals aussprechen«, fuhr dieser fort; »aber es gibt nur einen Ausweg, und sie kann auch nur diesen einen wünschen: das ist die Aufhebung eurer jetzigen Beziehungen und die Beseitigung aller damit verbundenen Erinnerungen. Meiner Ansicht nach ist in eurer Lage eine klare Festlegung eines neuen wechselseitigen Verhältnisses unumgänglich notwendig. Und dieses Verhältnis kann sich nur dann dauerhaft gestalten, wenn beide Teile frei sind.«

»Das ist die Scheidung«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch mit einer Miene des Widerwillens.

»Ja, ich bin der Ansicht, daß die Scheidung, ja, daß die Scheidung ...«, begann Stepan Arkadjewitsch stockend und errötend. »Das ist in jeder Hinsicht der vernünftigste Ausweg für Gatten, die in einem solchen Verhältnisse zueinander stehen wie ihr. Was sollen denn Gatten anfangen, wenn sie gefunden haben, daß sie nicht mehr miteinander leben können? Und so etwas kann immer und überall vorkommen.«

Alexei Alexandrowitsch stieß einen schweren Seufzer aus und schloß die Augen.

»Es bleibt nur ein Punkt noch zu erwägen: ob einer der Gatten eine neue Ehe einzugehen wünscht. Wenn nicht, dann ist die ganze Sache sehr einfach«, erklärte Stepan Arkadjewitsch, der sich jetzt immer mehr und mehr von seiner Befangenheit frei machte.

Alexei Alexandrowitsch runzelte vor Erregung die Stirn, murmelte etwas vor sich hin und antwortete nichts. Alles das, was Stepan Arkadjewitsch für so außerordentlich einfach hielt, hatte Alexei Alexandrowitsch schon hundertmal, tausendmal durchdacht. Ihm erschien das alles keineswegs außerordentlich einfach; ihm erschien es im Gegenteil völlig unmöglich. Da er schon die Einzelheiten des Scheidungsverfahrens kannte, erschien ihm jetzt eine Scheidung unmöglich, weil das Gefühl der eigenen Würde und die Achtung vor der Religion ihm nicht erlaubten, die Schuld eines vorgetäuschten Ehebruchs auf sich zu nehmen, und er noch weniger zugeben mochte, daß seine Frau, nachdem er ihr verziehen und ihr seine Liebe wieder zugewandt hatte, des Ehebruchs überführt und an den Pranger gestellt werde. Auch aus anderen, noch wichtigeren Gründen hielt er eine Scheidung für unmöglich.

Was sollte im Falle einer Scheidung aus seinem Sohne werden? Ihn bei der Mutter zu lassen, war unmöglich. Die geschiedene Mutter würde ihre eigene, unrechtmäßige Familie haben, in der die Stellung eines Stiefsohnes und seine Erziehung aller Wahrscheinlichkeit nach recht übel sein würden. Oder sollte er den Sohn bei sich behalten? Er wußte, daß das wie eine Rache von seiner Seite angesehen würde, und das wollte er nicht. Außerdem aber erschien ihm eine Scheidung ganz besonders deswegen unmöglich, weil er durch seine Einwilligung in die Scheidung Anna ins Verderben stürzen würde. Tief eingeprägt hatte sich ihm ein Gedanke, den Darja Alexandrowna ihm gegenüber in Moskau ausgesprochen hatte: daß er, wenn er sich zur Scheidung entschließe, dabei nur an sich denke und nicht daran, daß er Anna auf diese Weise unrettbar zugrunde richte. Und indem er nun mit diesem Gedanken noch den Umstand, daß er bereits verziehen hatte, sowie seine Zuneigung zu den Kindern in Verbindung brachte, faßte er das, was Darja Alexandrowna gesagt hatte, in seiner eigenen Weise folgendermaßen auf. In die Scheidung willigen, seiner Frau die Freiheit wiedergeben, das bedeutete nach seiner Anschauung: sich selbst des Letzten, was ihn noch an das Leben fesselte, der Kinder, die er liebte, berauben und ihr die letzte Stütze auf dem Wege des Guten entziehen und sie ins Verderben stoßen. Er wußte, daß sie als geschiedene Frau sich mit Wronski verbinden werde und daß diese Verbindung eine ungesetzliche und verbrecherische sein werde, weil nach dem Kirchengesetze eine neue Ehe für eine Frau unstatthaft ist, solange der erste Gatte noch lebt. ›Sie wird sich mit ihm verbinden, und in ein, zwei Jahren wird entweder er sie verlassen oder sie wieder ein neues Verhältnis eingehen‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch. ›Und ich, der ich zu dieser Scheidung mit ihren ungesetzlichen Folgen meine Zustimmung gegeben habe, werde an ihrem Verderben schuld sein.‹ Alles dies hatte er unzählige Male überlegt und war davon überzeugt, daß eine Scheidung keineswegs außerordentlich einfach sei, wie sein Schwager behauptete, sondern vielmehr vollständig unmöglich. Er hielt nichts von dem, was Stepan Arkadjewitsch sagte, für richtig; auf jeden Satz hatte er tausend Entgegnungen; aber er hörte ihm zu in dem Gefühl, daß in dessen Worten jene mächtige, rücksichtslose Kraft zum Ausdruck komme, die seinem Leben die Richtung gebe und der er sich werde fügen müssen.

»Die Frage ist nur, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen du dich mit der Scheidung einverstanden erklären willst. Sie verlangt nichts; sie wagt nicht, dich zu bitten; alles stellt sie deiner Großmut anheim.«

›Mein Gott! Mein Gott! Womit habe ich das verdient?‹ dachte Alexei Alexandrowitsch in Erinnerung an die Einzelheiten einer Ehescheidung, bei der der Ehemann die Schuld auf sich genommen hatte. Und er verbarg vor Scham sein Gesicht in den Händen mit der gleichen Gebärde wie seinerzeit Wronski.

»Du bist aufgeregt, und ich finde das sehr verständlich. Aber wenn du dir die Sache recht überlegst ...«

›Und wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die linke dar, und wer dir den Mantel nimmt, dem gib auch den Rock‹, dachte Alexei Alexandrowitsch.