Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Alexei Alexandrowitschs runzliges Gesicht hatte einen Ausdruck qualvollen Leides angenommen; er ergriff ihre Hand und wollte etwas sagen, vermochte aber keinen Laut herauszubringen. Seine Unterlippe zitterte; aber er suchte immer noch seine Erregung niederzukämpfen und blickte Anna nur von Zeit zu Zeit an. Und jedesmal, wenn er seinen Blick zu ihr hinwandte, sah er, daß ihre Augen ihn mit einer so innigen, zärtlichen Rührung anschauten, wie er sie an ihnen früher nie gesehen hatte.

»Warte doch, du weißt nicht ... Halt, halt ...«, sie hielt inne, als wollte sie ihre Gedanken sammeln. »Ja«, begann sie von neuem. »Ja, ja, ja. Das war's, was ich sagen wollte. Wundere dich nicht über mich! Ich bin noch immer dieselbe, die ich war ... Aber in mir ist noch eine andere; vor der fürchte ich mich; die verliebte sich in jenen Mann, und ich wollte dich hassen und konnte doch nicht vergessen, was für eine Frau ich früher gewesen war. Jene Frau bin ich nicht. Jetzt bin ich die richtige, ganz und gar. Ich sterbe jetzt; ich weiß, daß ich sterbe; frage nur den Arzt da! Ich fühle jetzt auch, da, da, die schweren, schweren Gewichte an meinen Händen, an meinen Füßen, an meinen Fingern. Die Finger ... sieh nur, wie furchtbar lang sie sind! Aber das hat alles bald ein Ende ... Nur eins möchte ich: verzeih du mir, verzeih mir völlig! Ich bin ein schlechtes, schlechtes Weib; aber mir hat einmal meine Kinderfrau gesagt, die heilige Märtyrerin – wie hieß sie doch? –, die ist noch schlechter gewesen. Und ich will nach Rom fahren; da sind stille, einsame Klöster, und da werde ich niemandem im Wege sein, und ich nehme nur Sergei mit und das kleine Mädchen ... Nein, du kannst mir nicht verzeihen! Ich weiß, das kann man nicht verzeihen! Nein, nein, geh weg, du bist zu gut!« Mit der einen ihrer glühend heißen Hände hielt sie seine Hand fest, mit der anderen stieß sie ihn von sich.

Alexei Alexandrowitschs seelische Verwirrung hatte sich immer mehr gesteigert und jetzt einen solchen Grad erreicht, daß er bereits aufgehört hatte, gegen sie anzukämpfen; aber plötzlich fühlte er, daß das, was er für eine seelische Verwirrung gehalten hatte, im Gegenteil ein wohliger Seelenzustand war, der ihm auf einmal eine neue Glücksempfindung bescherte, wie er sie vorher noch nie kennengelernt hatte. Er überlegte nicht erst, daß jenes christliche Gebot, das er sein ganzes Leben lang zu befolgen sich vorgenommen habe, ihm befehle, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben; aber ein freudiges Gefühl der Liebe und der Verzeihung für seine Feinde erfüllte seine Seele. Er fiel auf die Knie, legte seinen Kopf auf ihr Handgelenk, dessen glühende Hitze er durch den Jackenärmel hindurch fühlte, und schluchzte wie ein kleines Kind. Sie umfaßte sein kahles Haupt, rückte näher an ihn heran und richtete ihre Augen stolz und triumphierend nach oben.

»Da ist er, ich habe es ja gewußt! Jetzt lebt alle wohl, lebt wohl! ... Da sind sie wiedergekommen; warum gehen sie nicht fort? ... So nehmt doch diese Pelze von mir weg!«

Der Arzt nahm ihre Hände von dem Kopfe ihres Mannes weg, drückte die Kranke behutsam auf das Kissen zurück und deckte sie bis an die Schultern zu. Gehorsam ließ sie sich rücklings hinlegen und schaute mit strahlendem Blicke vor sich hin.

»Vergiß das eine nicht, daß ich weiter nichts wollte als deine Verzeihung; weiter will ich nichts ... Aber er, warum kommt er nicht?« fragte sie und wandte sich nach der Tür hin an Wronski. »Komm her, komm her! Gib ihm die Hand!«

Wronski trat an den Rand des Bettes und bedeckte, als er Anna erblickte, wieder sein Gesicht mit den Händen.

»Nimm die Hände vom Gesicht! Sieh ihn an! Er ist ein Heiliger!« sagte sie. »So nimm doch die Hände weg, nimm doch die Hände vom Gesicht!« rief sie heftig. »Alexei Alexandrowitsch, nimm ihm die Hände vom Gesicht! Ich will sein Gesicht sehen!«

Alexei Alexandrowitsch ergriff Wronskis Hände und zog sie ihm vom Gesicht fort, das von Schmerz und Scham furchtbar entstellt war.

»Gib ihm die Hand! Verzeihe ihm!«

Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, ohne die Tränen zurückhalten zu wollen, die ihm aus den Augen strömten.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« flüsterte sie. »Nun ist alles in Ordnung. Zieht mir nur noch die Beine ein wenig gerade! So, ja, so ist es schön. Wie geschmacklos diese Blumen gezeichnet sind; sie sehen gar nicht aus wie Veilchen«, sprach sie dann weiter, auf die Tapete weisend. »Mein Gott, mein Gott! Wann wird das ein Ende haben? Gebt mir doch Morphium! Doktor geben Sie mir doch Morphium! O mein Gott, mein Gott!«

Sie warf sich im Bette hin und her.

Der Hausarzt und die hinzugezogenen Ärzte hatten sich dahin ausgesprochen, es liege Kindbettfieber vor, das in neunundneunzig Fällen unter hundert tödlich verlaufe. Den ganzen Tag hielt die Fieberhitze, das Phantasieren und die Bewußtlosigkeit an. Um Mitternacht lag die Kranke gefühllos da, und der Puls hatte fast ganz aufgehört.

Jeden Augenblick erwartete man das Ende.

Wronski war nach Hause gefahren, kam aber am Morgen wieder, um nachzufragen, und Alexei Alexandrowitsch, der ihm im Vorzimmer entgegenkam, sagte zu ihm: »Bleiben Sie; sie wird vielleicht nach Ihnen fragen«, und führte ihn selbst in das Wohnzimmer seiner Frau. Am Morgen begann wieder die Aufgeregtheit und Lebhaftigkeit, das hastige Denken und Reden, und dieser Zustand endete dann wieder mit Bewußtlosigkeit. Am dritten Tage wiederholte sich derselbe Hergang, und die Ärzte erklärten, es sei jetzt etwas Hoffnung vorhanden. An diesem Tage trat Alexei Alexandrowitsch in Annas Wohnzimmer, in dem Wronski saß, machte die Tür zu und setzte sich ihm gegenüber.

»Alexei Alexandrowitsch«, begann Wronski, der fühlte, daß jetzt die Aussprache bevorstehe, »ich bin nicht imstande zu reden, nicht imstande zu denken. Schonen Sie mich! Wie schwer Ihnen auch ums Herz sein mag, glauben Sie mir, mein Zustand ist noch furchtbarer.«

Er wollte aufstehen. Aber Alexei Alexandrowitsch ergriff ihn bei der Hand und sagte:

»Ich bitte Sie, mich anzuhören; es ist unumgänglich notwendig. Ich muß Ihnen meine Gefühle darlegen, die, die mich bisher in meinem Handeln geleitet haben, und die, von denen ich mich in Zukunft werde leiten lassen, damit Sie sich über mich nicht im Irrtum befinden. Sie wissen, daß ich mich zur Scheidung entschlossen und diese ganze Angelegenheit sogar schon in die Wege geleitet hatte. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich anfänglich unentschlossen war und seelisch schwer litt; ich gestehe Ihnen, daß mich der Gedanke nicht losließ, mich an Ihnen und an ihr zu rächen. Als ich das Telegramm erhielt, fuhr ich noch mit denselben Gefühlen hierher, ja, ich muß noch mehr sagen: ich wünschte ihren Tod. Aber ...«, er schwieg ein Weilchen, unschlüssig, ob er ihm das, was er jetzt empfand, aufdecken solle oder nicht. »Aber da sah ich sie wieder und habe ihr verziehen. Und aus der seligen Empfindung beim Verzeihen habe ich gelernt, was meine Pflicht ist. Ich habe ihr völlig verziehen. Ich will auch die andere Backe hinhalten; ich will auch den Rock hingeben, wenn man mir den Mantel nimmt. Ich bitte Gott nur um das eine, daß er mir die Seligkeit des Verzeihens nicht nehmen möge!«

Die Tränen standen ihm in den Augen, und ihr heller, ruhiger Blick überraschte Wronski.

»Das ist jetzt meine Lage. Und nun können Sie mich in den Schmutz treten und mich zum Gespött der Welt machen: ich werde sie nicht verlassen und Ihnen nie ein Wort des Vorwurfs sagen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort: »Meine Pflicht ist mir klar vorgezeichnet: ich muß mit ihr zusammenbleiben, und ich werde es tun. Sollte sie wünschen, Sie zu sehen, so werde ich Sie es wissen lassen; aber jetzt, möchte ich meinen, wird es das beste sein, wenn Sie sich entfernen.«

Er stand auf; vor Schluchzen konnte er nicht weiterreden. Wronski erhob sich gleichfalls und blickte ihn, ohne sich gerade zu richten, in gebeugter Haltung von unten her an. Ein volles Verständnis hatte er für Alexei Alexandrowitschs Empfindungen nicht. Aber so viel fühlte er doch, daß in dieser Weltanschauung etwas Hohes, für ihn geradezu Unerreichbares lag.

18

Nach diesem Gespräche mit Alexei Alexandrowitsch trat Wronski vor das Tor des Kareninschen Hauses hinaus, blieb dort stehen und sammelte mit Mühe seine Gedanken, um zu wissen, wo er sei und wohin er nun gehen oder fahren solle. Er fühlte sich beschämt, erniedrigt, schuldig und der Möglichkeit beraubt, seine Demütigung abzuwaschen. Er fühlte sich aus dem Geleise herausgedrängt, in dem er sich bisher so stolz und leicht vorwärts bewegt hatte. Alle die Gewohnheiten und Grundsätze seines Lebens, die ihm so sicher und fest erschienen waren, hatten sich als falsch und unbrauchbar erwiesen. Der betrogene Gatte, den er sich bisher als ein klägliches Wesen, als ein zufälliges, einigermaßen lächerliches Hindernis seines Glückes vorgestellt hatte, war plötzlich von ihr selbst herbeigerufen und zu einer ehrfurchtgebietenden Höhe hinaufgehoben worden, und dieser Gatte erschien auf dieser Höhe nicht als ein schlechter, unwahrhaftiger, lächerlicher Mensch, sondern als ein guter, offener und edler. Dieser Erkenntnis konnte Wronski sich nicht verschließen. Die Rollen waren plötzlich vertauscht. Wronski fühlte seines Gegners sittliche Höhe und gerechtes Verhalten und seine eigene Niedrigkeit und Rechtsverletzung. Er fühlte, daß der Gatte sogar in seinem schweren Kummer sich großmütig, er selbst aber in seinem Betruge sich niedrig und erbärmlich gezeigt hatte. Aber dieses Bewußtsein seiner eigenen Niedrigkeit gegenüber dem Manne, den er ungerechterweise verachtet hatte, machte nur einen kleinen Teil seiner Seelenpein aus. Er fühlte sich jetzt deswegen unsäglich elend, weil seine Liebesleidenschaft, die seiner eigenen Empfindung nach in der letzten Zeit schon im Erkalten begriffen gewesen war, jetzt, wo er wußte, daß er Anna für immer verloren hatte, stärker geworden war als je zuvor. Er hatte während ihrer Krankheit auf den tiefsten Grund ihres Herzens gesehen, ihre ganze Seele kennengelernt, und es schien ihm, als habe er sie bisher noch nie wahrhaft geliebt. Und jetzt, wo er sie erkannt hatte und sie liebte, wie sie geliebt zu werden verdiente, jetzt stand er als ein Erniedrigter vor ihr da, hatte sie für immer verloren und war für sie in Zukunft nichts weiter als eine beschämende Erinnerung. Am allerschrecklichsten aber war seine lächerliche, schmähliche Lage gewesen, als er vor Scham hatte vergehen wollen und Alexei Alexandrowitsch ihm die Hände vom Gesichte weggezogen hatte. Er stand wie verwirrt vor dem Tor des Kareninschen Hauses und wußte nicht, was er tun sollte.

 

»Befehlen Sie eine Droschke?« fragte der Pförtner.

»Ja, eine Droschke.«

Nach Hause zurückgekehrt, streckte sich Wronski nach den drei schlaflos verbrachten Nächten, ohne sich auszukleiden, auf das Sofa, mit dem Gesicht nach unten, faltete die Hände zusammen und legte den Kopf darauf. Der Kopf war ihm schwer. Die seltsamsten Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken lösten mit wunderbarer Schnelligkeit und Klarheit einander ab: da war bald die Arznei, die er für die Kranke in der Erregung so eingoß, daß der Löffel überfloß, bald die weißen Arme der Hebamme, bald Alexei Alexandrowitschs sonderbare Körperhaltung auf dem Fußboden vor dem Bette.

›Schlafen! Vergessen!‹ sagte er zu sich mit der ruhigen Zuversicht eines gesunden Menschen, der bestimmt erwartet, daß, wenn er müde ist und schlafen will, er auch sofort einschlafen wird. Und wirklich begann es ihm in demselben Augenblicke im Kopfe wirr zu werden, und er fing an, in den Abgrund der Selbstvergessenheit zu versinken. Die Wogen der Bewußtlosigkeit schlugen bereits über seinem Haupte zusammen, als es ihm plötzlich war, wie wenn er einen sehr starken elektrischen Schlag erhielte. Er fuhr so zusammen, daß er mit dem ganzen Körper auf den Sprungfedern des Sofas aufschnellte und, auf die Hände gestützt, erschrocken auf die Knie sprang. Seine Augen waren weit geöffnet, als ob er an Schlaf nie gedacht hätte. Die Schwere im Kopfe und die Mattigkeit in den Gliedern, die er noch einen Augenblick vorher gefühlt hatte, waren auf einmal verschwunden.

›Nun können Sie mich in den Schmutz treten‹, hörte er Alexei Alexandrowitsch sagen und sah ihn vor sich und sah auch Annas Gesicht mit den fieberheißen Wangen und den glänzenden Augen, wie sie zärtlich und liebevoll nicht ihn, sondern Alexei Alexandrowitsch anblickte; er sah seine eigene, wie es ihm vorkam, alberne, lächerliche Gestalt, wie ihm Alexei Alexandrowitsch die Hände vom Gesicht nahm. Er streckte wieder die Beine gerade, warf sich in der früheren Haltung auf das Sofa und schloß die Augen. ›Schlafen, schlafen!‹ wiederholte er noch einmal bei sich. Aber mit geschlossenen Augen sah er noch deutlicher Annas Gesicht, wie es an jenem ihm unvergeßlichen Abend des Renntages ausgesehen hatte.

»Das ist alles vorbei und wird nie wiederkehren, und sie möchte es aus ihrer Erinnerung auslöschen. Ich aber kann ohne ihre Liebe nicht leben. Wie, ja wie können wir uns versöhnen, wie können wir uns versöhnen?« sagte er laut und begann unbewußt immer dieselben Worte zu wiederholen. Durch die stete Wiederholung dieser Worte wurde das Auftauchen neuer Bilder und Erinnerungen gehemmt, die, wie er fühlte, in seinem Kopfe wimmelten. Aber lange dauerte diese Hemmung seiner arbeitenden Einbildungskraft nicht. Wieder traten ihm mit seltsamer Schnelligkeit einer nach dem andern die schönsten Augenblicke in seinen Beziehungen zu Anna vor die Seele und zugleich damit auch die soeben erlittene Demütigung. ›Nimm ihm die Hände weg!‹ sagte Annas Stimme. Und da nahm ihm der Mann die Hände weg, und er selbst fühlte, was er für ein beschämtes, einfältiges Gesicht machte.

Er lag noch immer da und versuchte einzuschlafen, wiewohl er fühlte, daß dazu nicht die geringste Hoffnung vorhanden war, und immerzu wiederholte er flüsternd einzelne Worte aus irgendwelchem Gedankengange, um dadurch das Auftauchen neuer Bilder zu verhindern. Er horchte – und hörte sich selbst in dem sonderbaren Flüstertone eines Irrsinnigen immer die Worte wiederholen: ›Ich habe es nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden; ich habe es nicht zu schätzen, nicht zu benutzen verstanden.‹

›Was ist das? Werde ich wahnsinnig?‹ fragte er sich. ›Vielleicht, aus solchem Grunde wird man ja wahnsinnig, aus solchem Grunde erschießt man sich‹, antwortete er selbst auf seine Frage und erblickte, als er die Augen öffnete, mit Erstaunen neben seinem Kopfe ein Kissen, das ihm Warja, die Frau seines Bruders, früher einmal gestickt hatte. Er berührte ein paarmal leise eine Quaste des Kissens und versuchte sich an Warja zu erinnern, an das letztemal, wo er sie gesehen hatte. Aber es war ihm eine Pein, an etwas Fremdartiges zu denken. ›Nein, ich muß schlafen!‹ Er rückte sich das Kissen näher und drückte seinen Kopf dagegen; aber es bedurfte für ihn besonderer Anstrengung, um die Augen geschlossen zu halten. Er sprang auf und setzte sich hin. ›Diese Sache ist für mich zu Ende‹, sagte er zu sich. ›Nun muß ich überlegen, was ich weiter tun soll. Was ist mir denn noch übriggeblieben?‹ Er durchmusterte rasch in Gedanken das, was von seinem Leben nicht in Beziehung zu Anna stand.

›Der Ehrgeiz? Serpuchowskoi? Die Gesellschaft? Der Hof?‹ Bei nichts vermochte er seine Gedanken festzuhalten. All das hatte früher eine gewisse Bedeutung für ihn gehabt; aber jetzt war das alles null und nichts. Er stand vom Sofa auf, zog den Rock aus, lockerte sich den Leibriemen, entblößte seine haarige Brust, um freier atmen zu können, und ging im Zimmer auf und ab. ›So wird man wahnsinnig‹, sagte er noch einmal, ›und so erschießt man sich ... damit man sich nicht zu schämen braucht‹, fügte er langsam hinzu.

Er ging zur Tür und machte sie zu; dann trat er mit starrem Blick und fest zusammengepreßten Zähnen an den Tisch, nahm seinen Revolver heraus, betrachtete ihn, drehte ihn auf die geladene Kammer und versank in Gedanken. Etwa zwei Minuten lang stand er mit gesenktem Kopfe und dem Ausdruck angestrengten Denkens, den Revolver in der Hand, da und sann und sann. ›Selbstverständlich‹, sagte er zu sich selbst, wie wenn ein längerer, klarer, logischer Gedankengang ihn zu einer zweifellos richtigen Schlußfolgerung geführt hätte. In Wahrheit aber war dieses so überzeugt klingende ›Selbstverständlich‹ lediglich die Folge der Wiederholung genau desselben Kreises von Erinnerungen und Vorstellungen, den er in dieser Stunde schon ein dutzendmal durchlaufen hatte. Es waren immer dieselben Erinnerungen an ein für alle Zeit verlorenes Glück, dieselbe Vorstellung von der Wertlosigkeit alles dessen, was ihm das Leben noch bringen konnte, dasselbe Bewußtsein seiner Demütigung. Und auch die Reihenfolge dieser Vorstellungen und Gefühle war immer dieselbe.

›Selbstverständlich‹, sagte er noch einmal, als sein Denken sich wieder zum drittenmal in diesem verhexten Kreise von Erinnerungen und Gedanken herumbewegte; er setzte den Revolver an die linke Brustseite, und indem er mit der ganzen Hand einen starken Ruck machte, als ob er sie plötzlich zur Faust zusammenballen wollte, drückte er auf den Abzug. Er hörte keinen Knall von dem Schusse; aber ein heftiger Schlag gegen die Brust warf ihn zu Boden. Er wollte sich am Rande des Tisches festhalten, ließ dabei den Revolver fallen, wankte, setzte sich auf den Fußboden und blickte verwundert um sich. Er erkannte sein Zimmer nicht wieder, als er von unten her auf die geschweiften Beine des Tisches und den Papierkorb und das Tigerfell blickte. Die schnellen Schritte des Dieners, der mit knarrenden Stiefeln durch den Salon kam, brachten ihn wieder zur Besinnung. Mit Anstrengung sammelte er seine Gedanken und begriff nun, daß er am Boden lag, und als er das Blut auf dem Tigerfell und an seiner Hand sah, begriff er auch, daß er auf sich geschossen hatte.

›Dumm! Schlecht getroffen!‹ sagte er vor sich hin und tastete mit der Hand nach dem Revolver. Der Revolver lag nahe bei ihm; aber er suchte ihn weiter weg. Bei dem fortgesetzten Suchen reckte er sich nach der anderen Seite hin, und nicht imstande, das Gleichgewicht zu bewahren, sank er blutüberströmt nieder.

Der vornehme Diener mit dem Backenbarte, der schon öfters seinen Bekannten gegenüber über seine schwachen Nerven geklagt hatte, erschrak, als er seinen Herrn auf dem Fußboden liegen sah, dermaßen, daß er ihn weiterbluten ließ und davonlief, um Hilfe herbeizuholen. Nach einer Stunde kam Wronskis Schwägerin Warja angefahren, legte mit Hilfe dreier Ärzte, zu denen sie nach allen Seiten Boten geschickt hatte und die nun gleichzeitig eintrafen, den Verwundeten auf sein Bett und blieb bei ihm, um ihn zu pflegen.

19

Der Fehler, den Alexei Alexandrowitsch dadurch begangen hatte, daß er damals, als er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau vorbereitete, nicht auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß ihre Reue aufrichtig sein könne und er ihr verzeihen und sie nicht sterben werde, dieser Fehler wurde ihm als ein solcher zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem ganzen Umfange kenntlich. Aber dieser von ihm begangene Fehler war nicht nur daraus entsprungen, daß er diese Möglichkeit nicht mit erwogen hatte, sondern auch daher, daß er bis zu diesem Wiedersehen mit seiner todkranken Frau sein eigenes Herz nicht gekannt hatte. Am Krankenbette seiner Frau hatte er sich zum ersten Male in seinem Leben willig jenem Gefühle mitleidiger Rührung überlassen, das die Leiden anderer Menschen bei ihm hervorriefen und dessen er sich bisher als einer nachteiligen Schwäche geschämt hatte; und das Mitleid mit ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und klargeworden.

Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten, sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung bedurft hätte.

Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb war, nicht lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.

 

Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen Schritt von seiner Seite erwartete.

Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von amerikanischem Hundefell.

»Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.

»Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit einem leisen Lächeln.

In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich lebhaftes Inte resse für ihn und für seine Frau an den Tag legten. Er hatte bei all diesen Bekannten eine nur mühsam verhehlte Freude über irgend etwas bemerkt, ebendieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwaltes wahrgenommen hatte und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen so vergnügt zu sein, wie wenn sie an einer Hochzeitsfeier teilnähmen. Sobald die Leute ihn sahen, erkundigten sie sich mit kaum unterdrückter Freude nach Annas Befinden.

Durch die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja fühlte Alexei Alexandrowitsch sich unangenehm berührt, sowohl wegen der Erinnerungen, die sich für ihn an ihre Person knüpften, wie auch weil er sie überhaupt nicht leiden konnte; daher begab er sich geradeswegs nach den Zimmern der Kinder. Im ersten Kinderzimmer kniete Sergei auf einem Stuhle, hatte sich mit der Brust über den Tisch gelegt und zeichnete etwas, wobei er vergnügt redete. Die Engländerin, die während Annas Krankheit an die Stelle der Französin getreten war, saß mit einer zierlichen Häkelei neben dem Knaben; sie stand eilig auf, knickste und zupfte Sergei, daß er seinen Vater begrüßen sollte.

Alexei Alexandrowitsch strich seinem Sohne freundlich mit der Hand über das Haar, beantwortete die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Frau und erkundigte sich dann, was der Arzt über das Baby gesagt habe.

»Der Doktor hat gesagt, es sei nichts Gefährliches, und hat Wannenbäder verordnet, gnädiger Herr.«

»Aber sie hat doch immer Schmerzen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er nach dem Schreien des Kindes im Nachbarzimmer hinhorchte.

»Ich glaube, die Amme taugt nichts, gnädiger Herr«, erklärte die Engländerin in entschiedenem Tone.

»Warum glauben Sie das?« fragte er, stehen bleibend.

»Bei der Gräfin Pohl war es genau ebenso, gnädiger Herr. Es wurde an dem Kinde herumgedoktert, und schließlich stellte sich heraus, daß es einfach hungerte: die Amme hatte nicht genug Nahrung, gnädiger Herr.«

Alexei Alexandrowitsch wurde nachdenklich; er blieb noch ein paar Sekunden lang stehen und ging dann durch die andere Tür in das zweite Zimmer. Die Kleine lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich krümmend, in den Armen der Amme und wollte weder die ihr angebotene üppige Brust annehmen noch zu schreien aufhören, obgleich sowohl die Amme wie auch die Kinderfrau, die sich gleichfalls über sie beugte, sie durch Zischen zu beruhigen suchten.

»Immer noch nicht besser?« fragte Alexei Alexandrowitsch.

»Sie ist sehr unruhig«, antwortete die Kinderfrau flüsternd.

»Miß Edward meint, die Amme habe vielleicht nicht genug Nahrung«, sagte er.

»Das glaube ich auch, Alexei Alexandrowitsch.«

»Aber warum sagen Sie es denn dann nicht?«

»Wem soll ich es denn sagen? Anna Arkadjewna ist doch immer noch krank«, erwiderte die Kinderfrau in mißvergnügtem Tone.

Die Kinderfrau war eine alte Dienerin des Hauses. Auch in ihren so natürlich klingenden Worten meinte Alexei Alexandrowitsch eine Anspielung auf seine Lage zu finden.

Das Kind schrie noch lauter; es wurde heiser, und die Stimme blieb zeitweilig ganz weg. Die Kinderfrau machte eine Handbewegung, als sei sie dagegen ratlos, trat zu der Kleinen hin, nahm sie der Amme aus den Armen und begann, auf und ab gehend, sie hin und her zu wiegen.

»Wir müssen den Arzt bitten, die Amme zu untersuchen«, sagte Alexei Alexandrowitsch.

Die gesund aussehende, schön geputzte Amme bekam einen Schreck, daß man sie womöglich entlassen werde; sie murmelte etwas vor sich hin, verhüllte ihre große Brust wieder und lächelte verächtlich über einen solchen Zweifel an ihrer Nahrungsfülle. Auch in diesem Lächeln fand Alexei Alexandrowitsch wieder einen Spott über seine Lage.

»Du armes Würmchen!« sagte die Kinderfrau, während sie immer noch umherging und zur Beruhigung zischte.

Alexei Alexandrowitsch setzte sich auf einen Stuhl und verfolgte mit schmerzlicher, trüber Miene die auf und ab gehende Kinderfrau.

Als das Kind endlich still geworden war, die Kinderfrau es in sein tiefes Bettchen gelegt, das Kissen zurechtgemacht hatte und zurückgetreten war, da stand Alexei Alexandrowitsch auf und ging, mühsam nur mit den Fußspitzen auftretend, zu dem Kinde hin. Etwa eine Minute betrachtete er es schweigend und mit demselben trüben Gesichtsausdrucke; aber plötzlich trat ein Lächeln, bei dem sich sein Kopfhaar und die Stirnhaut verschob, auf sein Gesicht, und er verließ ebenso leise das Zimmer.

Im Eßzimmer klingelte er und befahl dem eintretenden Diener, es solle noch einmal zum Arzt geschickt werden. Er war ärgerlich auf seine Frau, daß sie sich um dieses reizende Kindchen so wenig kümmerte, und so wollte er infolge dieser Mißstimmung eigentlich nicht zu ihr gehen, hatte auch keine Lust, die Fürstin Betsy zu sehen. Aber seine Frau hätte sich wundern können, weshalb er seiner Gewohnheit entgegen nicht zu ihr käme, und deshalb überwand er sich und ging zum Schlafzimmer hin. Als er sich auf dem weichen Teppich der Tür näherte, hörte er unwillkürlich ein Gespräch, das er nicht hatte hören wollen.

»Wenn er nicht wegführe, so würde ich sowohl Ihre Weigerung wie auch die Ihres Mannes, ihn zu empfangen, begreifen können. So aber muß Ihr Mann darüber erhaben sein«, sagte Betsy.

»Nicht meines Mannes wegen, sondern um meiner selbst willen lehne ich es ab. Bitte, reden Sie nicht so!« erwiderte Anna erregt.

»Aber Sie müssen doch wünschen, einem Manne Lebewohl zu sagen, der sich um Ihretwillen hat erschießen wollen ...«

»Eben deswegen mag ich es nicht.«

Alexei Alexandrowitsch blieb mit erschrockener, schuldbewußter Miene stehen und wollte unbemerkt wieder zurückgehen. Aber dann besann er sich, daß das ein seiner nicht würdiges Verhalten sein würde; er kehrte wieder um und näherte sich, nachdem er vorher gehustet hatte, dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten, und er trat ein.