Anna Karenina | Krieg und Frieden

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15

Auf den Straßen war es noch sehr still und einsam. Ljewin ging zu dem Schtscherbazkischen Hause. Der Eingang für Herrschaften war noch geschlossen, und alles schlief. Er kehrte in sein Hotel zurück, ging wieder auf sein Zimmer und bestellte sich Kaffee. Ein Kellner, aber nun ein anderer als Jegor, brachte ihn ihm. Ljewin wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen; aber es wurde nach dem Kellner geklingelt, und dieser ging hinaus. Ljewin versuchte Kaffee zu trinken und steckte ein Stück Semmel in den Mund; aber sein Mund wußte schlechterdings nicht, was er mit der Semmel anfangen sollte. Ljewin spie sie wieder aus, zog seinen Überzieher wieder an und ging nochmals auf die Straße. Es war zwischen neun und zehn Uhr, als er zum zweiten Male an das Tor des Schtscherbazkischen Hauses kam. Im Hause war man eben erst aufgestanden, und der Koch ging aus, um einzukaufen. Er mußte sich noch mindestens zwei Stunden gedulden.

Diese ganze Nacht und den Morgen hatte Ljewin verlebt, ohne überhaupt an sein eigenes Dasein zu denken, und er fühlte sich von allen äußeren Erfordernissen des Lebens völlig losgelöst. Er hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen, zwei Nächte nicht geschlafen, hatte mehrere Stunden entkleidet in der Kälte zugebracht, und doch fühlte er sich nicht nur so frisch und gesund wie nur je zuvor, sondern auch geradezu unabhängig von seinem Körper: er bewegte sich, ohne die Muskeln anzustrengen, und hatte die Empfindung, daß er schlechthin alles könne. Er war überzeugt, daß er in die Höhe fliegen oder die Ecke eines Hauses fortschieben könne, wenn das erforderlich sein sollte. Während der noch übrigen Zeit wanderte er auf der Straße umher, wobei er unaufhörlich nach der Uhr sah und sich nach allen Seiten umblickte.

Und so interessante Dinge wie damals bekam er in seinem ganzen späteren Leben nicht wieder auf der Straße zu sehen. Besonderen Eindruck machten ihm die Kinder, die zur Schule gingen, die blaugrauen Tauben, die von einem Dache auf den Fußsteig heruntergeflogen kamen, und die mit Mehl überstäubten Semmeln, die eine unsichtbare Hand in einem Schaufenster auslegte. Diese Semmeln, diese Tauben sowie zwei kleine Knaben erschienen ihm wie Dinge, die nicht von dieser Welt waren. Folgendes begab sich alles in ein und demselben Augenblick: einer der beiden Knaben lief auf eine Taube zu und blickte lächelnd nach Ljewin hin; die Taube schlug klatschend mit den Flügeln und flog davon, wobei ihr Gefieder im Sonnenlichte zwischen den in der Luft zitternden Schneestäubchen hell leuchtete; und aus einem Fenster duftete es nach frisch gebackenem Brote, und es wurden dort die Semmeln ausgelegt. Alles dies zusammen war so außerordentlich hübsch, daß Ljewin vor Freude zugleich lachte und weinte. Nachdem er einen großen Rundgang durch die Gasetnü-Gasse und die Kislowka gemacht hatte, kehrte er in sein Hotel zurück, legte die Uhr vor sich auf den Tisch, setzte sich hin und wartete, bis es zwölf sein würde. Im Nachbarzimmer wurde von Maschinen und von einer Betrügerei gesprochen, und es war ein energisches Husten zu hören, wie es sich morgens nach dem Aufwachen einzustellen pflegt. Die Leute dort hatten offenbar gar kein Verständnis dafür, daß der Uhrzeiger sich schon der Zwölf näherte. Endlich hatte der Zeiger die Zwölf erreicht, und Ljewin trat vor das Tor. Die Droschkenkutscher wußten augenscheinlich alles. Sie umringten Ljewin mit glückseligen Gesichtern und boten, sich untereinander streitend, ihre Dienste an. Ljewin wählte sich einen Kutscher aus, versprach den übrigen, damit sie sich nicht gekränkt fühlen möchten, bei späteren Gelegenheiten auch mit ihnen zu fahren, und gab dem seinigen als Ziel das Schtscherbazkische Haus an. Der Kutscher sah allerliebst aus mit seinem weißen Hemdkragen, der aus dem Rocke hervorschaute und den vollen, roten, kräftigen Hals straff umschloß. Und was den Schlitten dieses Kutschers anlangte, so war er hoch und außerordentlich bequem, ein Schlitten, wie er Ljewin in späteren Zeiten nie wieder vorkam; und auch das Pferd war gut und gab sich alle Mühe, schnell zu laufen, kam aber allerdings nicht vom Fleck. Der Kutscher kannte das Schtscherbazkische Haus, hob am Ziele, zum Zeichen besonderer Ehrerbietung gegen seinen Fahrgast, die Arme in einer schönen runden Geste, sagte: »Brr!« und hielt am Eingang. Der Schtscherbazkische Pförtner wußte bestimmt alles. Das konnte man aus seinem Lächeln abnehmen und aus der Art, wie er sagte:

»Ah, Sie sind ja lange nicht hier gewesen, Konstantin Dmitrijewitsch!«

Er wußte nicht nur alles, sondern war auch offenbar entzückt darüber und machte die größten Anstrengungen, um seine Freude zu verbergen. Ljewin blickte dem alten Manne in die guten, freundlichen Augen und fand dabei noch wieder einen neuen Anlaß, sich glücklich zu fühlen.

»Sind die Herrschaften schon aufgestanden?«

»Bitte, näher zu treten! Oh, lassen Sie sie nur hier!« sagte er lächelnd, als Ljewin umkehren und seine Mütze mit hereinnehmen wollte. Das hatte sicherlich etwas zu bedeuten.

»Wem darf ich Sie melden?« fragte der Diener.

»Der Fürstin ... dem Fürsten ... der Prinzessin ...«, antwortete Ljewin.

Die erste Person, die er traf, war Mademoiselle Linon. Sie ging durch den Saal, und ihre Löckchen und ihr Gesicht strahlten nur so. Kaum hatte er mit ihr ein paar Worte gewechselt, als sich im Nebenzimmer hinter der Tür das Rascheln eines Kleides vernehmen ließ und Mademoiselle Linon ihm auf einmal aus den Augen verschwunden war. Ein freudiger Schreck über die Nähe seines Glückes überkam ihn. Mademoiselle Linon hatte es jetzt sehr eilig, ihn zu verlassen, und ging nach einer andern Tür hin. Kaum war sie hinausgegangen, als rasche, ganz rasche, leichte Schritte auf dem Parkett ertönten und sein Glück, sein Leben, sein wahres Selbst, sein besseres Ich, das, was er so lange gesucht und ersehnt hatte, sich ihm schnell, ganz schnell näherte. Sie ging nicht, sondern wurde durch eine Art von unsichtbarer Kraft zu ihm hingetragen.

Er sah nur ihre klaren, ehrlichen Augen und in ihnen das leise Erschrecken über ebendieselbe Liebesempfindung, von der sein eigenes Herz erfüllt war. Diese leuchtenden Augen kamen ihm immer näher und näher und blendeten ihn mit ihrem Liebesglanze. Sie blieb dicht vor ihm stehen, so daß ihr Kleid ihn berührte. Ihre Arme hoben sich in die Höhe und senkten sich auf seine Schultern herab.

Sie hatte alles getan, was sie nur konnte: sie war auf ihn zugeeilt und hatte sich, schüchtern und freudig zugleich, ihm ganz zu eigen gegeben. Er umarmte sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund, der seinen Kuß suchte.

Auch sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und den ganzen Vormittag auf ihn gewartet.

Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich widerspruchslos einverstanden erklärt und waren glücklich über das Glück ihres Kindes. Sie hatte auf ihn gewartet. Sie hatte die erste sein wollen, die ihm ihr und sein Glück mitteilte. Sie hatte sich vorgenommen, ihn allein zu empfangen, und sich über diesen Gedanken gefreut, war aber doch zaghaft gewesen und hatte sich geschämt und selbst nicht gewußt, was sie bei der Begegnung tun sollte. Da hatte sie seine Schritte und seine Stimme gehört und hinter der Tür gewartet, bis Mademoiselle Linon weggehen würde. Mademoiselle Linon war gegangen. Und nun war sie, ohne einen Augenblick zu überlegen und ohne sich zu fragen, was sie tun sollte und wie sie es tun sollte, zu ihm hingeeilt und hatte getan, was oben erzählt ist.

»Wir wollen zu Mama gehen!« sagte sie nun und faßte ihn bei der Hand. Er war längere Zeit nicht imstande, etwas zu sagen, nicht weil er fürchtete, der Erhabenheit seiner Empfindung durch ein gesprochenes Wort Eintrag zu tun, sondern weil er jedesmal, wenn er etwas sagen wollte, fühlte, daß ihm statt der Worte Tränen des Glückes kommen würden. Er ergriff ihre Hand und küßte sie.

»Ist es denn wirklich wahr?« sagte er endlich mit tonloser Stimme. »Ich kann es gar nicht glauben, daß du mich liebst!«

Sie lächelte über dieses Du und über die Zaghaftigkeit, mit der er sie anblickte.

»Ja!« erwiderte sie langsam und mit ruhigem Ernste. »Ich bin so glücklich!«

Sie ließ seine Hand nicht los, als sie beide in den Salon traten. Sobald die Fürstin das Paar erblickte, ging ihr Atem schneller, und sie brach sogleich in Tränen aus, lachte dann aber unmittelbar darauf, eilte mit so energischen Schritten, wie es Ljewin von ihr gar nicht erwartet hätte, auf die beiden zu, umfaßte Ljewins Kopf, küßte ihn und benetzte seine Wangen mit ihren Tränen.

»So ist denn alles zum guten Ende gelangt. Ich bin so froh. Habe sie nur lieb! Ich bin so froh ... Kitty!«

»Das habt ihr ja schnell in Ordnung gebracht!« sagte der alte Fürst, der sich Mühe gab, gleichmütig zu erscheinen; aber Ljewin bemerkte, als er sich zu ihm wandte, daß ihm die Augen feucht waren. »Das habe ich schon lange gewünscht, immer gewünscht!« fuhr er fort, ergriff Ljewins Hand und zog ihn an sich. »Schon damals, als dieses flatterhafte Persönchen hier den Einfall hatte ...«

»Papa!« rief Kitty und hielt ihm die Hände vor den Mund.

»Na, ich bin ja schon stille!« sagte er. »Ich freue mich sehr, sehr ... Ach, wie töricht bin ich ...«

Er umarmte Kitty, küßte ihr Gesicht und ihre Hand und wieder ihr Gesicht und bekreuzte sie.

Und in Ljewin erwachte ein neues Gefühl der Liebe zu diesem ihm bisher so fremden Manne, dem alten Fürsten, als er sah, wie Kitty seine fleischige Hand lange und zärtlich küßte.

16

Die Fürstin saß schweigend und lächelnd in einem Lehnsessel; der Fürst setzte sich neben sie. Kitty stand bei dem Sessel ihres Vaters und ließ noch immer seine Hand nicht aus der ihrigen. Alle schwiegen.

 

Die Fürstin war die erste, die die Dinge einfach mit ihren Namen nannte und alle Gedanken und Gefühle zu den Fragen des wirklichen Lebens hinüberleitete. Im ersten Augenblicke fühlten sich dadurch alle in gleicher Weise seltsam und sogar geradezu schmerzlich berührt.

»Nun also, wann denn? Wir müssen die Verlobung feiern und veröffentlichen. Und wann soll denn die Hochzeit sein? Wie denkst du darüber, Alexander?«

»Hier, der da«, erwiderte der alte Fürst, auf Ljewin zeigend, »der ist dabei die Hauptperson.«

»Wann?« fragte Ljewin errötend. »Morgen. Wenn Sie mich fragen: meiner Ansicht nach sollte heute die Verlobungsfeier sein und morgen die Hochzeit.«

»Nun, so mußt du nicht reden, mon cher, das ist Unsinn.«

»Nun, dann in einer Woche.«

»Er ist ganz von Sinnen.«

»Ja, aber warum denn nicht?«

»Aber ich bitte dich um alles in der Welt«, versetzte die Mutter, über seine Eile vergnügt lächelnd. »Und die Aussteuer?«

›Wird denn wirklich eine Aussteuer und all so etwas auch dabei sein?‹ dachte Ljewin mit Entsetzen. ›Indessen, kann denn etwa eine Aussteuer und eine Verlobungsfeier und all dergleichen, kann denn das etwa mein Glück stören? Durch nichts kann es gestört werden!‹ Er blickte Kitty an und sah, daß der Gedanke an eine Aussteuer für sie gar nichts, durchaus gar nichts Verletzendes hatte. ›Also wird das wohl so sein müssen‹, sagte er sich.

»Ich verstehe ja nichts davon; ich habe nur gesagt, was ich wünschen würde«, entschuldigte er sich.

»Dann wollen wir also einmal überlegen. Die Verlobung können wir gleich jetzt feiern und veröffentlichen; das ist in der Ordnung.«

Die Fürstin trat zu ihrem Manne, küßte ihn und wollte hinausgehen; aber er hielt sie zurück und küßte sie lächelnd mehrmals, so zärtlich wie ein verliebter junger Mann. Die beiden alten Leute waren offenbar für einen Augenblick ganz irre geworden und wußten nicht recht, ob sie selbst wieder verliebt seien oder nur ihre Tochter. Als der Fürst und die Fürstin hinausgegangen waren, trat Ljewin auf seine Braut zu und faßte sie an der Hand. Er hatte jetzt die Herrschaft über sich zurückgewonnen und war wieder im stande zu reden, und er hatte ihr vieles zu sagen. Aber was er sagte, war ganz und gar nicht das, was er eigentlich sagen wollte.

»Ich habe sicher gewußt, daß es so kommen würde! Zu hoffen habe ich es nie gewagt, aber im Grunde meines Herzens war ich doch immer davon überzeugt«, sagte er. »Ich glaube, daß es so vorherbestimmt war.«

»Ist es mir nicht ebenso gegangen?« versetzte sie. »Selbst damals ...«, sie stockte, fuhr dann aber fort, indem sie ihn mit ihren ehrlichen Augen entschlossen anblickte, »selbst damals, als ich mein Glück von mir stieß. Ich habe immer nur Sie allein geliebt, aber ich war verblendet. Das muß ich jetzt bekennen ... Können Sie das vergessen?«

»Vielleicht ist das gerade zu meinem Besten. Denn Sie werden mir vieles verzeihen müssen. Ich muß Ihnen bekennen ...«

Dies war eins von den Dingen, die er ihr zu sagen beschlossen hatte. Er hatte beschlossen, ihr gleich in den ersten Tagen zweierlei mitzuteilen: erstens, daß er nicht so rein sei wie sie, und zweitens, daß er ungläubig sei. Das war eine qualvolle Aufgabe; aber er erachtete es für seine Pflicht, ihr das eine wie das andere zu sagen.

»Nein, nicht jetzt, später!« fügte er hinzu.

»Gut, später; aber sagen müssen Sie es mir unbedingt. Ich fürchte nichts. Ich muß alles wissen. Zwischen uns ist jetzt alles abgemacht.«

Er suchte den Sinn ihrer letzten Wendung genauer festzustellen:

»Ist es also abgemacht, daß Sie mich nehmen, wie auch immer ich sein mag, und mich nicht doch noch zurückweisen? Ja?«

»Ja, ja.«

Ihr Gespräch wurde durch Mademoiselle Linon unterbrochen, die mit einem zwar gekünstelten, aber doch wahrhaft zärtlichen Lächeln kam, um ihrem lieben Zöglinge Kitty Glück zu wünschen. Sie war noch nicht hinausgegangen, als die Dienerschaft mit ihren Glückwünschen erschien. Dann kamen die Verwandten, und nun begann jener glückselige Trubel, aus dem Ljewin bis zum Tage nach seiner Hochzeit nicht mehr herauskam. Es war ihm davon beständig unbehaglich und öde zumute; aber die starke Glücksempfindung hielt an und steigerte sich noch immer mehr. Er hatte beständig das Gefühl, daß von ihm vieles verlangt wurde, worauf er sich nicht verstand; aber er tat alles, was man ihm sagte, und all dies machte ihn nur noch glücklicher. Er meinte, daß sein Bräutigamsstand keine Ähnlichkeit mit dem anderer Leute habe und daß ein Bräutigamsstand von der gewöhnlichen Art sein ganz eigenartiges Glück stören würde; aber es kam schließlich so heraus, daß er genau dasselbe tat wie andere Bräutigame; und sein Glück wuchs dadurch nur noch mehr und gestaltete sich seiner Ansicht nach immer mehr zu einem ganz besonderen und eigenartigen, das seinesgleichen weder in der Vergangenheit gehabt habe, noch in Zukunft jemals haben werde.

»Jetzt werden wir aber einmal Konfekt zu essen bekommen!« äußerte Mademoiselle Linon, und Ljewin fuhr hin, um Konfekt zu kaufen.

»Na, das freut mich recht«, sagte Swijaschski. »Ich empfehle Ihnen, die Blumen von Fomin zu entnehmen.«

»Also Blumen sind nötig?« Und er fuhr zu Fomin.

Sein Bruder meinte, er werde wohl etwas Geld aufnehmen müssen, da er doch viele Ausgaben haben werde, für Geschenke ...

»Ah, also Geschenke sind erforderlich?« Und er hatte es eilig, zum Bankier Fulde hinzukommen.

Und sowohl beim Konditor wie auch bei Fomin und bei Fulde sah er, daß die Leute ihn erwartet hatten und sich über sein Kommen freuten und an seinem Glücke teilnahmen, ganz so wie alle, mit denen er in dieser Zeit zu tun hatte. Es erschien ihm merkwürdig, daß ihn nicht nur alle Leute gern hatten, sondern sogar alle die Menschen, die ihm früher unleidlich gewesen waren und sich gegen ihn kühl und gleichgültig benommen hatten, nun von ihm entzückt waren, sich ihm in allen Dingen gefällig zeigten, seinem Gefühle gegenüber ein zartes, taktvolles Benehmen beobachteten und seine Überzeugung teilten, daß er der glücklichste Mensch der Welt sei, da seine Braut den Gipfel aller Vollkommenheit darstelle. Ganz dieselbe Empfindung hatte auch Kitty. Als die Gräfin Northstone sich erlaubte, eine Andeutung zu machen, daß sie eigentlich doch für Kitty noch etwas Besseres gewünscht habe, da wurde Kitty so heftig und bewies mit so überzeugenden Gründen, daß es einen besseren Gatten als Ljewin überhaupt auf der ganzen Welt nicht geben könne, daß die Gräfin Northstone dies zugeben mußte und von da an, sobald Kitty zugegen war, für Ljewin immer ein Lächeln des Entzückens bereit hatte.

Das Geständnis, das er seiner Braut versprochen hatte, war das einzige schmerzliche Ereignis in dieser ganzen Zeit. Er fragte darüber den alten Fürsten um Rat und übergab mit dessen Genehmigung Kitty sein Tagebuch, in dem das, was ihn so quälte, geschrieben stand. Auch hatte er dieses Tagebuch bereits damals, als er es anlegte, im Hinblick auf seine zukünftige Braut geschrieben. Ihn peinigten zwei Dinge: seine Unreinheit und sein Unglaube. Das Geständnis seines Unglaubens nahm Kitty ohne Erregung hin. Sie war religiös gesinnt und hatte nie an der Wahrheit der Religion gezweifelt; aber sein äußerlicher Unglaube machte überhaupt keinen Eindruck auf sie. Vermöge ihrer Liebe kannte sie seine ganze Seele, und was sie in seiner Seele sah, das schien ihr gut; daß aber ein solcher Seelenzustand als Unglaube bezeichnet wird, das war ihr völlig gleichgültig. Über das andere Geständnis hingegen vergoß sie bittere Tränen.

Ljewin hatte ihr sein Tagebuch nicht ohne inneren Kampf übergeben. Er wußte, daß es zwischen ihm und ihr keine Geheimnisse geben könne und dürfe, und war daher zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß es seine Pflicht sei, dies zu tun; aber er war sich nicht darüber klargeworden, wie dies wirken könne, und hatte sich nicht in ihre Seele hineinversetzt. Erst als er an dem betreffenden Abend vor der Theatervorstellung zu Schtscherbazkis kam, in Kittys Zimmer trat und ihr verweintes, trauriges, liebes Gesichtchen erblickte, das infolge des von ihm verschuldeten, nie wiedergutzumachenden Kummers so tief unglücklich aussah: erst da begriff er ganz, durch welch eine Kluft seine schmähliche Vergangenheit von ihrer Taubenreinheit getrennt war, und erschrak tief über das, was er getan hatte.

»Nehmen Sie diese schrecklichen Bücher weg, nehmen Sie sie weg!« rief sie und stieß die Hefte, die vor ihr auf dem Tische lagen, von sich. »Warum haben Sie sie mir gegeben? ... Aber nein, es war doch besser so«, fügte sie, von Mitleid über seine verzweifelte Miene ergriffen, hinzu. »Aber es ist entsetzlich, entsetzlich!«

Er ließ den Kopf sinken und schwieg. Er war nicht imstande, etwas zu sagen.

»Sie werden es mir nicht verzeihen«, flüsterte er.

»Verziehen habe ich es, ja. Aber es ist entsetzlich!«

Aber sein Glück war so groß, daß selbst dieses Geständnis es nicht störte, sondern ihm nur eine neue Schattierung verlieh. Sie hatte ihm verziehen. Aber seitdem achtete er sich ihrer noch weniger für würdig, beugte sich moralisch noch tiefer vor ihr und schätzte sein unverdientes Glück noch höher.

17

Während Alexei Alexandrowitsch nach dem Hotel zurückfuhr, wo sein einsames Zimmer ihn erwartete, ließ er unwillkürlich in seinem Gedächtnisse die Eindrücke der bei und nach dem Essen geführten Gespräche noch einmal an sich vorüberziehen. Was Darja Alexandrowna vom Verzeihen gesagt, hatte ihn lediglich geärgert. Die Frage der Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der christlichen Vorschrift auf seinen besonderen Fall war denn doch zu schwierig, als daß sie sich so obenhin erledigen ließe; auch hatte Alexei Alexandrowitsch diese Frage schon längst in verneinendem Sinne entschieden. Von allem, was heute bei Oblonskis gesagt worden war, hatten ihm die Worte des braven, einfältigen Turowzün den stärksten Eindruck gemacht: ›Er hat sich wacker und schneidig benommen; er hat ihn gefordert und erschossen.‹ Offenbar hatten alle dieses Verhalten gebilligt, wenn sie das auch aus Höflichkeit nicht ausgesprochen hatten.

›Übrigens ist diese Angelegenheit endgültig abgeschlossen, so daß es zwecklos wäre, noch weiter darüber nachzudenken‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch und war, als er sein Hotelzimmer betrat, mit seinen Gedanken nur noch bei seiner bevorstehenden Abreise und bei seiner Revisionsangelegenheit. Er fragte den Pförtner, der ihn nach seinem Zimmer begleitet hatte, wo sein Diener sei; der Pförtner erwiderte, der Diener sei diesen Augenblick weggegangen. Alexei Alexandrowitsch bestellte sich Tee, setzte sich an den Tisch, nahm das Kursbuch zur Hand und legte sich seine Bahnfahrt zurecht.

»Zwei Telegramme«, sagte der Diener, der zurückgekehrt war und ins Zimmer trat. »Verzeihen Euer Exzellenz, ich war den Augenblick vorher weggegangen.«

Alexei Alexandrowitsch nahm die Telegramme und öffnete das eine. Dieses meldete ihm die Ernennung Stremows für eben den Posten, den er, Karenin, für sich selbst gewünscht hatte. Alexei Alexandrowitsch warf das Telegramm auf den Tisch; er war ganz rot geworden, stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Quos deus perdere vult, dementat«, sagte er, wobei er unter quos die Persönlichkeiten verstand, die bei dieser Ernennung mitgewirkt hatten. Er ärgerte sich nicht darüber, daß er nicht diese Stelle erhalten und man ihn offensichtlich übergangen hatte; aber es war ihm erstaunlich und unbegreiflich, daß man höheren Ortes hatte dafür blind sein können, daß dieser Schwätzer und Phrasenheld Stremow weniger als jeder andere für diese Stelle taugte. Wie hatte es den Leuten entgehen können, daß sie mit dieser Ernennung sich selbst und ihr eigenes Ansehen auf das schwerste schädigten!

›Gewiß noch etwas von derselben Sorte‹, sagte er ingrimmig bei sich, während er das zweite Telegramm öffnete. Es war von seiner Frau. Die mit Blaustift geschriebene Unterschrift »Anna« war das erste, was ihm in die Augen fiel. »Ich sterbe; ich bitte, ich flehe Sie an herzukommen. Mit Ihrer Verzeihung werde ich ruhiger sterben«, las er. Er lächelte verächtlich und warf das Telegramm hin. Daß dies nur ein schlauer Täuschungsversuch war, daran konnte, wie es ihm im ersten Augenblicke schien, kein Zweifel sein.

›Es gibt keinen Betrug, vor dem sie zurückschräke. Sie sieht ihrer Entbindung entgegen. Möglicherweise besteht die Krankheit nur in der Entbindung. Aber was haben sie dabei für einen Zweck? Das Kind ehelich zu machen, mich bloßzustellen und die Scheidung zu verhindern?‹ überlegte er. »Aber hier heißt es doch: ›Ich sterbe ...‹« Er las das Telegramm noch einmal durch, und plötzlich fühlte er sich davon überrascht, wie echt und natürlich diese Worte klangen. ›Aber wenn es nun die Wahrheit ist?‹ fragte er sich. ›Wenn sie wirklich unter der Einwirkung schwerer Schmerzen und angesichts des nahen Todes aufrichtig bereut und ich das als Täuschungsversuch auffasse und mich weigere hinzukommen? Das würde nicht nur grausam sein und allgemein verurteilt werden, sondern es wäre auch von meiner Seite eine Dummheit.‹

 

»Peter, besorge mir einen Wagen! Ich reise nach Petersburg«, sagte er zu seinem Diener.

Alexei Alexandrowitsch hatte beschlossen, nach Petersburg zu fahren und seine Frau wiederzusehen. Er nahm sich dabei folgendes vor: sollte ihre Krankheit erdichtet sein, so würde er schweigen und wieder wegfahren; sollte sie aber wirklich todkrank sein und ihn vor ihrem Ende noch einmal sehen wollen, so würde er, wenn er sie noch am Leben träfe, ihr verzeihen und, wenn er zu spät käme, ihr die letzte Ehre erweisen.

Während der ganzen Reise dachte er nicht mehr an das, was er dort werde zu tun haben.

Mit jenem Gefühle von Müdigkeit und Unsauberkeit, das die Folge einer Nacht im Eisenbahnwagen zu sein pflegt, fuhr Alexei Alexandrowitsch durch den Petersburger Morgennebel den noch menschenleeren Newski-Prospekt entlang und blickte vor sich hin, ohne an das zu denken, was ihn zu Hause erwartete. Es widerstrebte ihm, daran zu denken; denn sobald er sich die bevorstehenden Möglichkeiten vergegenwärtigte, vermochte er den Gedanken nicht zu verscheuchen, daß ihr Tod mit einem Schlage alle Schwierigkeiten seiner Lage lösen würde. Die Brotverkäufer, die geschlossenen Läden, die Nachtdroschken, die Hausknechte, die den Fußsteig fegten: alle diese Bilder huschten vor seinen Augen vorüber, und er beobachtete dies alles mit der Absicht, in seinem Kopfe den Gedanken an das, was ihn erwartete und was er nicht zu wünschen wagte und doch wünschte, zu übertäuben. Er fuhr bei seinem Hause vor. Eine Droschke und ein Geschirr mit einem schlafenden Kutscher hielten vor der Tür. Als Alexei Alexandrowitsch in die Vorhalle trat, holte er gleichsam aus einem entlegenen Winkel seines Gehirnes den vorher gefaßten Entschluß heraus und machte ihn sich wieder geläufig. Der Inhalt dieses Entschlusses war: wenn es ein Täuschungsversuch ist, ruhige Verachtung und Abreise; wenn es Wahrheit ist, Wahrung des äußeren Anstandes.

Der Pförtner öffnete die Tür, noch ehe Alexei Alexandrowitsch klingelte. Der Pförtner Petrow, alias Kapitonütsch, sah in seinem alten Rocke, ohne Halsbinde und in Pantoffeln recht sonderbar aus.

»Was macht die gnädige Frau?«

»Die gnädige Frau ist gestern glücklich entbunden worden.«

Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und wurde ganz blaß. Jetzt kam es ihm deutlich zum Bewußtsein, wie stark er ihren Tod gewünscht hatte.

»Und wie ist ihr Befinden?«

Kornei, mit der Morgenschürze, kam die Treppe heruntergelaufen.

»Es steht sehr schlimm«, antwortete er. »Gestern hat eine Beratung mehrerer Ärzte stattgefunden, und der Hausarzt ist auch jetzt da.«

»Nimm das Gepäck«, sagte Alexei Alexandrowitsch. Er empfand ein gewisses Gefühl der Erleichterung infolge der Nachricht, daß doch noch Hoffnung auf ihren Tod bestand; so ging er in das Vorzimmer.

Am Kleiderständer hing ein Militärmantel. Alexei Alexandrowitsch bemerkte ihn und fragte:

»Wer ist da?«

»Der Arzt, die Hebamme und Graf Wronski.«

Alexei Alexandrowitsch ging weiter in die inneren Zimmer.

Im Salon war niemand; aus Annas Wohnzimmer kam auf das Geräusch seiner Schritte die Hebamme in einer Haube mit lila Bändern heraus.

Sie trat auf Alexei Alexandrowitsch zu, ergriff ihn mit der Vertraulichkeit, die die Nähe des Todes mit sich bringt, bei der Hand und wollte ihn nach dem Schlafzimmer führen.

»Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind! Nur von Ihnen spricht sie, immer nur von Ihnen«, sagte sie.

»Geben Sie schnell Eis her, schnell!« ertönte aus dem Schlafzimmer die Stimme des Arztes in befehlendem Tone.

Alexei Alexandrowitsch trat in Annas Wohnzimmer. An ihrem Tische saß auf einem niedrigen Stuhle, seitwärts zur Lehne, Wronski; er hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und weinte. Als er die Stimme des Arztes hörte, sprang er auf, nahm die Hände vom Gesicht und erblickte Alexei Alexandrowitsch. Beim Anblick des Ehemannes wurde er so verwirrt, daß er sich wieder hinsetzte und den Kopf in die Schultern zog, als wenn er irgendwohin zu verschwinden wünschte; aber dann nahm er sich gewaltsam zusammen, stand auf und sagte:

»Sie liegt im Sterben. Die Ärzte haben gesagt, es sei keine Hoffnung mehr. Ich füge mich durchaus Ihrer Entscheidung; aber ich bitte Sie, mir zu gestatten, daß ich hierbleibe ... Indessen, ganz wie Sie darüber bestimmen; ich ...«

Als Alexei Alexandrowitsch sah, daß Wronski weinte, merkte er, daß ihn wieder jene seelische Verwirrung überkam, die der Anblick des Leidens anderer bei ihm regelmäßig hervorrief; er wandte das Gesicht ab und ging, ohne das, was jener sagte, zu Ende zu hören, rasch auf die Tür zu. Aus dem Schlafzimmer war Annas Stimme zu vernehmen, die irgend etwas sagte. Ihre Stimme klang heiter, lebhaft und außerordentlich fein abgetönt. Alexei Alexandrowitsch trat in das Schlafzimmer und näherte sich dem Bette. Sie lag so, daß sie ihm das Gesicht zuwandte. Ihre Wangen brannten dunkelrot; die Augen blitzten; die kleinen weißen Hände, die aus den Manschetten der Nachtjacke hervorschauten, spielten mit einem Zipfel der Bettdecke, den sie bald zusammenwickelten, bald wieder aufrollten. Anscheinend war sie nicht nur gesund und frisch, sondern auch in der allerbesten Gemütsstimmung. Sie sprach schnell, mit klangreicher Stimme und sehr richtigem, gefühlvollem Tonfall.

»Weil Alexei, ich meine Alexei Alexandrowitsch (welch ein sonderbares, schreckliches Zusammentreffen, daß sie beide Alexei heißen, nicht wahr?), weil Alexei es mir nicht abschlagen würde. Ich würde es vergessen, und er würde mir verzeihen ... Aber warum kommt er denn nicht? Er ist ein guter Mensch; er weiß selbst nicht, wie gut er ist. Ach, mein Gott, wie beklommen mir ist! Gebt mir schnell Wasser! Ach, das wird ihr, meinem kleinen Mädchen, schaden! Nun gut, dann beschafft für sie eine Amme. Nun, ich habe ja nichts dagegen; es ist sogar besser so. Wenn er kommt, würde es ihm peinlich sein, die Kleine zu sehen. Bringt sie weg!«

»Anna Arkadjewna, er ist gekommen; da ist er!« sagte die Hebamme, in dem Bemühen, ihre Aufmerksamkeit auf Alexei Alexandrowitsch zu lenken.

»Ach, was für Unsinn!« fuhr Anna fort, ohne ihren Mann zu sehen. »Gebt sie mir doch, gebt mir doch mein Töchterchen! Er ist noch nicht gekommen. Ihr sagt, er wird mir nicht verzeihen; aber ihr kennt ihn eben nicht. Niemand hat ihn gekannt. Nur ich, und auch mir ist es schwer geworden, ihn kennenzulernen. Das liegt nämlich an seinen Augen: Sergei hat ganz ebensolche, und darum mag ich sie gar nicht ansehen. Habt ihr auch Sergei sein Mittagbrot gegeben? Ich weiß ja, das werden alle vergessen. Er würde es nicht vergessen. Ihr müßt Sergei in dem Eckzimmer unterbringen und Mariette bitten, bei ihm zu schlafen.«

Plötzlich krümmte sie sich zusammen, verstummte und hob erschrocken, wie wenn sie einen Schlag erwartete und sich davor schützen wollte, die Hände vor das Gesicht. Sie hatte ihren Mann erkannt.

»Nein, nein!« fing sie wieder an zu reden. »Ich fürchte ihn nicht, ich fürchte den Tod. Alexei, komm hierher! Ich habe Eile, denn ich habe keine Zeit mehr; ich habe nicht mehr lange zu leben; gleich wird das Fieber wieder beginnen, und dann verstehe ich nichts mehr. Jetzt verstehe ich noch; ich verstehe alles und sehe alles.«