Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Peszow liebte es, eine Erörterung bis zur Erschöpfung des Gegenstandes fortzusetzen, und fühlte sich von dem, was Sergei Iwanowitsch vor Tisch gesagt hatte, nicht befriedigt, um so weniger, da er die Unrichtigkeit seiner eigenen Ansicht fühlte.



»Ich hatte«, sagte er während der Suppe, zu Alexei Alexandrowitsch gewendet, »nicht ausschließlich die Dichtigkeit der Bevölkerung gemeint, sondern diese in Verbindung mit der geistigen Grundrichtung des Volkes; von den Verwaltungsgrundsätzen würde ich mir allerdings keine besondere Wirkung versprechen.«



»Mir scheint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch langsam und in mattem Tone, »daß das ein und dasselbe ist. Meiner Ansicht nach kann auf ein anderes Volk nur ein solches einwirken, das auf einer höheren Stufe der Entwicklung steht und das ...«



»Aber das ist gerade die Frage«, unterbrach ihn mit seiner tiefen Stimme Peszow, der es immer sehr eilig hatte zu Worte zu kommen und anscheinend immer mit ganzer Seele bei dem Gegenstande eines Gespräches war, »worin haben wir die höhere Entwicklung zu finden? Die Engländer, die Franzosen, die Deutschen, welches von diesen Völkern steht auf der höchsten Stufe der Entwicklung? Welches von ihnen wird eins der anderen zu seiner eigenen Nationalität hinüberführen können? Wir sehen, daß die Rheingegend gallisiert worden ist, und doch stehen die Deutschen nicht auf einer niedrigeren Stufe!« rief er. »Da liegt noch ein anderes Gesetz vor!«



»Mir scheint, daß das Übergewicht immer auf seiten der wahren Bildung ist«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Brauen ein wenig in die Höhe zog.



»Aber woran sollen wir denn die Merkmale der wahren Bildung erkennen?« fragte Peszow.



»Ich meine, diese Merkmale sind bekannt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch.



»Sind sie wirklich so genau bekannt?« mischte sich Sergei Iwanowitsch mit einem feinen Lächeln ein. »Heutzutage gilt den meisten die rein klassische Bildung als die einzig wahre; aber wir sehen, daß die beiden Parteien einen erbitterten Kampf miteinander führen, und es ist nicht in Abrede zu stellen, daß auch die Gegner starke Beweise für sich ins Treffen zu führen haben.«



»Nun, Sie sind ja ein echter Vertreter der klassischen Bildung, Sergei Iwanowitsch. Befehlen Sie Rotwein?« sagte Stepan Arkadjewitsch.



»Ich spreche jetzt nicht mein Urteil über die eine und die andere Art der Bildung aus«, versetzte Sergei Iwanowitsch mit einem herablassenden Lächeln, wie wenn er zu einem Kinde spräche, und hielt sein Glas hin. »Ich sage nur, daß beide Parteien starke Gründe für sich haben«, fuhr er, sich wieder zu Alexei Alexandrowitsch wendend, fort. »Ich persönlich habe eine klassische Bildung genossen; aber bei diesem Streite weiß ich nicht, auf welche Seite ich mich stellen soll. Ich sehe keine klaren Gründe, weshalb man den klassischen Wissenschaften vor den realen den Vorzug gegeben hat.«





»Die Naturwissenschaften haben den gleichen pädagogischen Wert für die geistige Entwicklung«, fiel Peszow ein. »Nehmen Sie nur zum Beispiel die Astronomie, nehmen Sie die Botanik, die Zoologie mit ihrem strengen System allgemeingültiger Gesetze!«



»Ich kann da nicht völlig zustimmen«, entgegnete Alexei Alexandrowitsch. »Mir scheint, es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß schon die eigenartige Verstandestätigkeit bei der Erlernung fremder Sprachen besonders günstig auf die geistige Entwicklung einwirkt. Außerdem ist auch nicht zu leugnen, daß die klassischen Schriftsteller einen im höchsten Grade moralischen Einfluß ausüben, während leider mit dem naturwissenschaftlichen Unterrichte jene schädlichen Irrlehren eng verbunden sind, die eine Seuche unserer Zeit bilden.«



Sergei Iwanowitsch wollte etwas erwidern; aber Peszow mit seiner tiefen Baßstimme kam ihm zuvor. Er machte sich hitzig daran, die Unrichtigkeit dieser Ansicht nachzuweisen. Sergei Iwanowitsch wartete ruhig, bis die Reihe zu reden an ihn kommen werde; offenbar hatte er eine schlagende Erwiderung in Bereitschaft.



»Aber«, begann er endlich mit feinem Lächeln, indem er sich an Karenin wandte, »man wird zugeben müssen, daß es eine schwere Aufgabe ist, alle Vorteile und Nachteile der einen und der anderen Gattung von Wissenschaften vollständig gegeneinander abzuwägen, und daß man nicht so rasch zu einer endgültigen Entscheidung der Frage, welche Gattung vorzuziehen sei, gelangt wäre, wenn nicht auf seiten der klassischen Bildung eben jener Vorzug vorhanden wäre, den Sie soeben hervorhoben: die moralische – disons le mot – die antinihilistische Wirkung.«



»Unzweifelhaft.«



»Wäre nicht auf seiten der klassischen Wissenschaften dieser Vorzug der antinihilistischen Wirkung vorhanden, so würden wir die Sache doch länger in Erwägung ziehen, die Gründe beider Parteien sorgfältiger gegeneinander abwägen«, sagte Sergei Iwanowitsch mit feinem Lächeln, »und der einen wie der anderen Richtung freie Bahn lassen. So aber wissen wir, daß diesen Pillen der klassischen Bildung eine antinihilistische Heilkraft beiwohnt, und daher verordnen wir sie unbedenklich unseren Patienten ... Aber wenn es nun mit dieser Heilkraft nichts ist?« schloß er wieder damit, daß er eine Prise attischen Salzes in das Gespräch streute.



Bei dem Vergleiche mit den Pillen fingen alle an zu lachen, besonders laut und lustig Turowzün, der als Zuhörer des Gespräches immer schon darauf gelauert hatte, daß einmal etwas Komisches vorkäme, und nun endlich auf seine Rechnung gekommen war.





Stepan Arkadjewitsch hatte keinen Fehlgriff damit getan, daß er Peszow eingeladen hatte. Wo Peszow dabei war, konnte ein ernstes, verständiges Gespräch auch nicht einen Augenblick lang abreißen. Kaum hatte Sergei Iwanowitsch das bisherige Gespräch mit einer scherzhaften Wendung zum Abschluß gebracht, als Peszow auch schon einen neuen Gegenstand zur Sprache brachte.



»Selbst das kann man nicht zugeben«, sagte er, »daß die Regierung dieses Ziel dabei im Auge hätte. Die Regierung läßt sich offenbar nur von Erwägungen ganz allgemeiner Art leiten und kümmert sich herzlich wenig darum, welche Wirkungen die von ihr ergriffenen Maßregeln haben mögen. So müßte zum Beispiel das Anwachsen der Frauenbildung von jenem Standpunkte aus als schädlich erachtet werden; aber die Regierung richtet Ausbildungskurse für Frauen ein und läßt die Frauen zum Universitätsstudium zu.«



Die Unterhaltung sprang nun sofort auf das neue Thema der Frauenbildung über.



Alexei Alexandrowitsch sprach den Gedanken aus, daß die Frage der Frauenbildung gewöhnlich mit der Frage der Frauengleichberechtigung zusammengeworfen werde und daß man die Frauenbildung nur deshalb für schädlich erachte.



»Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß diese beiden Fragen unlösbar miteinander verknüpft sind«, sagte Peszow. »Es liegt da ein irreführender Zirkelschluß vor. Der Frau werden die Rechte versagt wegen des Mangels an Bildung, und der Mangel an Bildung ist eine Folge des Fehlens von Rechten. Man darf nicht vergessen, daß die Knechtung der Frauen so allgemein und so alt ist, daß wir oft eine Abneigung dagegen haben, uns über die Kluft, die uns von ihnen trennt, klarzuwerden.«



»Sie sagten ›Rechte‹«, begann nun Sergei Iwanowitsch, der abgewartet hatte, bis Peszow schwieg, »und meinten wohl damit das Recht, die Tätigkeiten eines Geschworenen, eines Stadtverordneten, eines Gerichtspräsidenten, eines Verwaltungsbeamten, eines Parlamentsmitgliedes auszuüben ...«



»Gewiß.«



»Aber selbst wenn die Frauen, was immer eine seltene Ausnahme sein wird, imstande sein sollten, solche Stellen auszufüllen, so scheint mir doch, daß Sie dabei den Ausdruck ›Rechte‹ falsch angewandt haben. Es wäre richtiger, ›Pflichten‹ zu sagen. Jeder wird mir zugeben, daß wir bei der Ausübung irgendwelcher amtlichen Tätigkeit, der Tätigkeit eines Geschworenen, eines Stadtverordneten, eines Telegrafenbeamten, das Gefühl haben, daß wir damit eine Pflicht erfüllen. Und daher würde man sich richtiger ausdrücken, wenn man sagte: die Frauen streben nach Pflichten, und zwar in einer durchaus rechtmäßigen, gesetzmäßigen Weise. Und diesem ihrem Wunsche, bei der gemeinsamen Arbeit der Männer mitzuhelfen, kann man nur beifällig gegenüberstehen.«





»Vollkommen richtig«, stimmte Alexei Alexandrowitsch zu. »Meiner Ansicht nach ist nur die Frage, ob die Frauen zur Erfüllung dieser Pflichten auch befähigt sind.«



»Wahrscheinlich werden sie sich als in hohem Grade befähigt herausstellen«, warf Stepan Arkadjewitsch dazwischen, »sobald die Bildung unter ihnen eine weitere Verbreitung gefunden haben wird. Wir sehen das ja ...«



»Aber was sagt das Sprichwort?« unterbrach ihn Fürst Schtscherbazki, dessen kleine Augen schon lange spöttisch gefunkelt hatten, während er dem Gespräche zuhörte. »Da von Damen nur meine Töchter da sind, kann ich's ja sagen: ›Langes Haar und kurzer Verstand.‹«



»Genau ebenso urteilte man über die Neger vor der Aufhebung der Sklaverei!« erwiderte Peszow ärgerlich.



»Ich finde es nur sonderbar, daß die Frauen nach neuen Pflichten suchen«, sagte Sergei Iwanowitsch, »während wir bedauerlicherweise sehen, daß die Männer sich ihren Pflichten gern entziehen.«



»Pflichten sind mit Rechten verbunden, und nach denen streben die Frauen, nach Macht, Geld, Ehre«, bemerkte Peszow.



»Das wäre dieselbe Geschichte, wie wenn ich nach dem Rechte, Amme zu sein, streben und mich gekränkt fühlen wollte, weil man Frauen für diesen Dienst bezahlt und mich nicht haben will«, meinte der alte Fürst.



Turowzün brach in ein lautes Gelächter aus, und Sergei Iwanowitsch fühlte ein gewisses Bedauern, daß er das nicht selbst gesagt hatte. Selbst Alexei Alexandrowitsch lächelte.

 



»Ja, aber ein Mann kann nicht nähren«, wendete Peszow ein, »hingegen kann eine Frau ...«



»Nun, ein Engländer hat doch einmal auf dem Schiffe seinen Säugling selbst genährt«, erwiderte der alte Fürst, der sich durch die Anwesenheit seiner Töchter nicht davon abhalten ließ, sich im Gespräche ein bißchen gehenzulassen.



»Es wird wohl so herauskommen, daß es ebensoviel weibliche Beamte gibt wie solche Engländer«, sagte Sergei Iwanowitsch.



»Ja, aber was soll ein Mädchen tun, das keine Familie hat?« wandte Stepan Arkadjewitsch ein und dachte dabei an Fräulein Tschibisowa, die er die ganze Zeit über im Sinne gehabt hatte, wo er mit Peszow übereingestimmt und ihm seinen Beifall bekundet hatte.



»Wenn man sich aber den Lebenslauf dieses Mädchens etwas genauer ansieht, so wird man finden, daß dieses Mädchen sich von ihrer eigenen Familie oder von der Familie ihrer Schwester losgesagt hat, wo sie eine für ein weibliches Wesen passende Stellung hätte einnehmen können«, mischte sich unerwarteterweise Darja Alexandrowna in gereiztem Tone in das Gespräch; sie mochte wohl erraten haben, welches Mädchen Stepan Arkadjewitsch im Sinne hatte.



»Aber wir treten für den Grundsatz ein, für den Grundgedanken!« erwiderte Peszow mit seiner volltönenden Baßstimme. »Die Frau will das Recht haben, selbständig und gebildet zu sein. Das Gefühl, dies nicht erreichen zu können, beengt sie und drückt sie nieder.«



»Und ich fühle mich dadurch beengt und niedergedrückt, daß man mich im Findelhause nicht als Amme annehmen will«, sagte der alte Fürst wieder zum größten Vergnügen Turowzüns, der vor Lachen den Spargel mit dem dicken Ende in die Sauce fallen ließ.





11



Alle hatten sich an diesem allgemeinen Gespräche beteiligt außer Kitty und Ljewin. Zu Anfang, als von der Einwirkung gesprochen wurde, die ein Volk auf das andere ausüben könne, fiel Ljewin unwillkürlich manches ein, was er selbst über diesen Gegenstand sagen konnte; aber diese Gedanken, die früher für ihn eine so große Wichtigkeit gehabt hatten, huschten ihm jetzt nur ganz flüchtig wie im Traume durch den Kopf und interessierten ihn nicht im geringsten mehr. Es kam ihm sogar sonderbar vor, weshalb doch diese Menschen mit solchem Eifer über Dinge redeten, die keinen von ihnen persönlich angingen. Ganz ebenso hätte wohl Kitty sich für das interessieren sollen, was da über Frauenrechte und Frauenbildung gesprochen wurde. Wie oft hatte sie über diesen Gegenstand nachgedacht, wenn sie sich an Warjenka, ihre Freundin von dem deutschen Badeorte her, und an deren schwere, abhängige Lebensstellung erinnerte; wie oft hatte sie auch an sich selbst gedacht, was aus ihr werden würde, wenn sie sich nicht verheiratete; und wie oft hatte sie mit ihrer Schwester hierüber gestritten! Aber jetzt interessierte sie das gar nicht. Zwischen ihr und Ljewin war ein besonderes Gespräch im Gange oder eigentlich nicht ein Gespräch, sondern eine Art von geheimnisvoller seelischer Verbindung, die sie von Minute zu Minute immer enger miteinander verknüpfte und in beiden ein Gefühl froher Bangigkeit vor jenem unbekannten Gebiete erweckte, in das sie sich jetzt anschickten einzutreten.



Zuerst hatte Ljewin auf Kittys Frage, wie es denn zugegangen sei, daß er sie im vorigen Jahre im Wagen gesehen habe, ihr erzählt, wie er nach der Heuernte auf der Landstraße gewandert sei und sie dabei getroffen habe.



»Es war ganz früh am Morgen. Sie waren wahrscheinlich eben erst aufgewacht. Ihre maman schlief in ihrem Eckchen. Es war ein wunderschöner Morgen. Ich wanderte so dahin und dachte: ›Wer kommt denn da mit einem Viergespann angefahren?‹ Es war ein vorzügliches Viergespann mit Schellen; und in einem Augenblick rollten Sie an mir vorbei, und ich warf einen Blick ins Fenster, da saßen Sie so da – sehen Sie, so: Sie hielten mit beiden Händen die Bänder Ihres Häubchens fest und waren ganz tief in Gedanken versunken«, erzählte er lächelnd. »Ich hätte gar zu gern gewußt, woran Sie damals dachten. Wohl an etwas sehr Wichtiges?«



›Ob wohl auch mein Haar nicht unordentlich ausgesehen hat?‹ dachte sie; aber als sie das entzückte Lächeln sah, das durch die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinem Gesichte hervorgerufen wurde, da sagte sie sich, daß im Gegenteil der Eindruck, den sie gemacht habe, gut gewesen sein müsse. Sie errötete und lachte fröhlich.



»Ich erinnere mich wirklich nicht mehr.«





»Wie herzlich dieser Turowzün lacht!« bemerkte Ljewin und betrachtete mit Vergnügen dessen feuchtschimmernde Augen und schütternden Körper.



»Kennen Sie ihn schon lange?« fragte Kitty.



»Wer sollte den nicht kennen!«



»Ich merke, daß Sie ihn für einen schlechten Menschen halten?«



»Nicht für schlecht, aber für unbedeutend.«



»Da beurteilen Sie ihn falsch. Lassen Sie nur diese Ansicht recht schnell fallen!« versetzte Kitty. »Ich hatte auch eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er ist ein sehr lieber und außerordentlich guter Mensch. Er hat ein goldenes Herz.«



»Wo haben Sie denn die Möglichkeit gehabt, sein Herz kennenzulernen?«



»Er und ich, wir sind gute Freunde. Ich kenne ihn sehr gut. Im vorigen Winter, bald nachdem ... nachdem Sie bei uns gewesen waren«, sagte sie mit einem schuldbewußten und zugleich doch vertrauensvollen Lächeln, »bekamen Dollys Kinder sämtlich Scharlach, und er machte zufällig einen Besuch bei ihr. Und können Sie sich das vorstellen«, fuhr sie flüsternd fort, »sie tat ihm so leid, daß er dablieb und ihr die Kinder pflegen half. Ja, und drei Wochen lang hat er bei ihnen im Hause gewohnt und die Kinder gepflegt wie eine Wärterin.«



»Ich erzähle eben Konstantin Dmitrijewitsch von Turowzün beim Scharlach«, sagte sie, indem sie sich zu ihrer Schwester hinüberbeugte.



»Ja, das war eine bewundernswerte Aufopferung, ein prächtiger Mensch!« erwiderte Dolly; sie blickte Turowzün an, der gemerkt hatte, daß von ihm gesprochen wurde, und lächelte ihm sanft zu. Ljewin sah noch einmal zu Turowzün hin und wunderte sich, wie es möglich gewesen war, daß er die Vortrefflichkeit dieses Mannes nicht schon früher in ihrem ganzen Umfange erkannt hatte.



»Verzeihung, Verzeihung, ich will nie wieder von andern Leuten schlecht denken!« sagte er fröhlich, und was er sagte, war in diesem Augenblick wirklich seine aufrichtige Empfindung.






12



In dem begonnenen Gespräche über die Rechte der Frauen kamen auch heikle, in Gegenwart der Damen nicht wohl zu erörternde Fragen vor: über die Ungleichheit der Rechte in der Ehe. Peszow berührte bei Tische diese Fragen einige Male; aber Sergei Iwanowitsch und Stepan Arkadjewitsch lenkten ihn jedesmal behutsam wieder davon ab.



Als man von Tische aufgestanden war und die Damen das Zimmer verließen, folgte Peszow ihnen nicht, sondern wandte sich zu Alexei Alexandrowitsch und unternahm es, die Hauptursache dieser Ungleichheit darzulegen. Die Ungleichheit in der Stellung der Ehegatten hing seiner Ansicht nach damit zusammen, daß Untreue der Frau und Untreue des Mannes sowohl vom Gesetze wie auch von der öffentlichen Meinung nicht mit gleicher Schärfe verurteilt würden.



Stepan Arkadjewitsch trat schnell zu Alexei Alexandrowitsch heran und bot ihm zu rauchen an.



»Nein, danke, ich rauche nicht«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch ruhig, und als wollte er geflissentlich zeigen, daß er dieses Thema nicht scheue, wandte er sich wieder mit kaltem Lächeln zu Peszow.



»Ich meine, die Gründe einer derartigen Anschauung liegen in der Natur der Dinge selbst«, sagte er und wollte nach dem Salon gehen; aber nun ergriff plötzlich und unerwartet Turowzün das Wort und wandte sich dabei unmittelbar an Alexei Alexandrowitsch.



»Haben Sie schon von Prjatschnikow gehört?« fragte Turowzün. Er hatte längere Zeit nichts gesagt und nun, durch den genossenen Champagner belebt, schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, das ihn bedrückende Schweigen aufzugeben. »Wasili Prjatschnikow«, fuhr er mit dem ihm eigenen gutmütigen Lächeln um die feuchten, roten Lippen fort, indem er sich vorzugsweise an die bedeutendste Persönlichkeit unter den Gästen, an Alexei Alexandrowitsch, wandte, »Wasili Prjatschnikow hat sich, wie mir heute erzählt wurde, in Twer mit Kwitski duelliert und ihn erschossen.«



Wie es einem immer so vorkommt, als stoße man sich wie ausgesucht stets gerade an die schmerzhafte Stelle, so hatte jetzt Stepan Arkadjewitsch die Empfindung, daß das Gespräch heute unglücklicherweise jeden Augenblick Alexei Alexandrowitschs wunden Punkt berührte. Er wollte wieder seinen Schwager beiseite führen; aber Alexei Alexandrowitsch fragte selbst neugierig:



»Weshalb hat sich Prjatschnikow denn duelliert?«



»Wegen seiner Frau. Er hat sich wacker und schneidig benommen. Er hat ihn gefordert und erschossen!«



»Ah!« machte Alexei Alexandrowitsch gleichmütig und verließ, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, den Speisesaal, um nach dem Salon zu gehen. Im Zwischenzimmer traf er Dolly.





»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, redete sie ihn mit einem furchtsamen Lächeln an. »Ich habe dringend mit Ihnen zu reden. Wir können ja hier Platz nehmen.«



Alexei Alexandrowitsch setzte sich mit einem Ausdruck von Gleichgültigkeit, den die hinaufgezogenen Augenbrauen seinem Gesichte verliehen, neben Darja Alexandrowna und lächelte gezwungen.



»Es ist mir dies um so erwünschter«, versetzte er, »da ich Sie um Entschuldigung bitten und mich sogleich empfehlen wollte. Ich muß morgen abreisen.«



Darja Alexandrowna war von Annas Unschuld fest überzeugt und fühlte, wie sie blaß wurde und ihr die Lippen zitterten vor Zorn über diesen kalten, gefühllosen Menschen, der sich mit solcher Ruhe daranmachte, ihre unglückliche Freundin zugrunde zu richten.



»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie und blickte ihm mit der Entschlossenheit der Verzweiflung in die Augen, »ich habe Sie gestern nach Anna gefragt, und Sie haben mir nicht geantwortet. Wie geht es ihr?«



»Ich glaube, sie ist gesund, Darja Alexandrowna«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, ohne sie anzusehen.



»Alexei Alexandrowitsch, verzeihen Sie mir, ich habe ja eigentlich kein Recht ... aber ich liebe und achte Anna wie eine Schwester; ich bitte, ich flehe Sie an, sagen Sie mir, was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Was werfen Sie ihr vor?«



Alexei Alexandrowitsch runzelte die Stirn, schloß die Augen fast ganz und ließ den Kopf hängen.



»Ich setze voraus, daß Ihr Gatte Ihnen die Gründe mitgeteilt hat, die es mir notwendig erscheinen lassen, mein bisheriges Verhältnis zu Anna Arkadjewna zu ändern«, antwortete er, ohne ihr in die Augen zu sehen; unzufrieden blickte er sich nach dem jungen Schtscherbazki um, der durch das Zimmer ging.



»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht, ich kann es nicht glauben!« versetzte Dolly und preßte mit einer energischen Gebärde ihre knochigen Hände vor ihrer Brust zusammen. Sie stand rasch auf und legte ihre Hand auf Alexei Alexandrowitschs Arm: »Wir werden hier gestört; bitte, kommen Sie dorthin.«



Dollys Aufregung machte Alexei Alexandrowitsch nachgiebig. Er stand auf und folgte ihr gehorsam in das Unterrichtszimmer der Kinder. Sie nahmen an einem Tische Platz, dessen Wachstuchüberzug vielfach von Federmessern zerschnitten war.



»Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht!« sagte Dolly noch einmal und gab sich Mühe, seinen Blick, der den ihrigen vermied, zu fangen.



»Den vorliegenden Tatsachen kann man nicht umhin Glauben zu schenken«, versetzte er und legte dabei einen besonderen Nachdruck auf das Wort »Tatsachen«.





»Aber was hat sie denn getan?« fragte Darja Alexandrowna. »Was ist es denn eigentlich, was sie getan hat?«



»Sie hat ihre Pflicht verletzt und ihren Mann betrogen. Das ist's, was sie getan hat«, antwortete er.



»Nein, nein, das ist nicht möglich! Nein, ich beschwöre Sie, Sie haben sich geirrt!« rief Dolly; sie griff sich mit den Händen an die Schläfen und schloß die Augen.



Alexei Alexandrowitsch lächelte kalt, nur mit den Lippen, in der Absicht, ihr und sich selbst die Festigkeit seiner Überzeugung zu zeigen; diese eifrige Verteidigung konnte ihn zwar nicht wankend machen, hatte aber die Wirkung, seine Wunde wieder aufzureißen. Er erwiderte mit größerer Lebhaftigkeit:



»Ein Irrtum ist wohl so gut wie ausgeschlossen, wenn die Frau selbst dem Manne die betreffende Mitteilung macht, ihm mitteilt, daß acht Jahre gemeinsamen Lebens und das Kind, daß das alles ein Irrtum war und daß sie noch einmal ganz von vorn zu leben anfangen will«, sagte er zornig, indem er hörbar den Atem durch die Nase einzog und ausstieß.

 



»Anna und die Sünde – das kann ich nicht vereinigen, das kann ich nicht glauben.«



»Darja Alexandrowna!« begann er; er blickte ihr jetzt gerade in das herzensgute, aufgeregte Gesicht und fühlte, daß seine Zunge sich unwillkürlich freier bewegte. »Ich würde viel darum geben, wenn noch ein Zweifel möglich wäre. Damals, als ich noch zweifelte, war mir schwer ums Herz, aber doch immerhin leichter als jetzt. Damals, als ich noch zweifelte, war doch noch nicht alle Hoffnung geschwunden; aber jetzt ist keine Hoffnung mehr, und doch zweifle ich an allem. Ich zweifle derart an allem, daß ich meinen Sohn hasse und zuweilen nicht glaube, daß er mein Sohn ist. Ich bin sehr unglücklich.«



Er hätte das nicht zu sagen brauchen. Darja Alexandrowna hatte das erkannt, sobald er ihr ins Gesicht geblickt hatte; Mitleid mit ihm ergriff sie, und der Glaube an die Schuldlosigkeit ihrer Freundin geriet in ihrem Herzen ins Wanken.



»Ach, das ist furchtbar, furchtbar! Aber ist es denn wirklich wahr, daß Sie sich zur Scheidung entschlossen haben?«



»Ich habe mich zu dieser äußersten Maßregel entschlossen. Es blieb mir nichts anderes übrig.«



»Nichts anderes übrig, nichts anderes übrig ...«, wiederholte sie mit Tränen in den Augen. »Nein, sagen Sie nicht, daß Ihnen nichts anderes übrigbliebe!« rief sie.



»Das ist eben das Furchtbare bei einem Leide dieser Art, daß man nicht wie bei jedem andern Leide, bei einem Verluste, bei einem Todesfalle, sich darauf beschränken kann, sein Kreuz zu tragen, sondern daß man hier selbst handeln muß«, sagte er, wie wenn er ihre Gedanken erraten hätte. »Man muß aus der demütigenden Lage, in die man hineingeraten ist, herauszukommen suchen; zu dreien kann man nicht leben.«





»Ich begreife das, ich begreife das vollkommen«, erwiderte Dolly und ließ den Kopf sinken. Sie schwieg ein Weilchen und dachte an sich und ihren eigenen Kummer im Familienleben; plötzlich hob sie mit einer energischen Bewegung den Kopf in die Höhe und faltete flehend die Hände. »Tun Sie das nicht! Sie sind ein Christ. Denken Sie an das Schicksal des armen Weibes! Was soll aus ihr werden, wenn Sie sie verstoßen?«



»Ich habe darüber nachgedacht, Darja Alexandrowna, viel darüber nachgedacht«, versetzte Alexei Alexandrowitsch; auf seinem Gesichte traten rote Flecke hervor, und die trüben Augen blickten ihr gerade ins Gesicht. Darja Alexandrowna bemitleidete ihn jetzt von ganzer Seele. »Ich habe das erwogen, nachdem sie mir mitgeteilt hatte, welche Schande über mich gekommen war; ich ließ alles beim alten. Ich gewährte ihr die Möglichkeit, sich zu bessern, und versuchte, sie zu retten. Und der Erfolg? Nicht einmal die leichteste Forderung, die Wahrung des äußeren Anstandes, hat sie erfüllt«, sagte er, heftiger werdend. »Retten kann man jemand, der nicht untergehen will; wenn aber jemand in seinem ganzen Wesen so verdorben und entsittlicht ist, daß ihm der Untergang selbst als Rettung erscheint, was soll man dann tun?«



»Alles, nur keine Scheidung!« antwortete Darja Alexandrowna.



»Was meinen Sie damit: ›alles‹?«



»Nein, das ist entsetzlich. Dann wird sie niemandes Gattin sein, sie wird untergehen!«



»Was kann ich dabei tun?« erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Schultern und die Augenbrauen in die Höhe zog. Die Erinnerung an den letzten Verstoß seiner Frau versetzte ihn in solche Empörung, daß er wieder so eisig wurde, wie er beim Beginne des Gespräches gewesen war. »Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme sehr dankbar; aber ich muß jetzt aufbrechen«, sagte er und erhob sich.



»Nein, bleiben Sie noch! Sie dürfen sie nicht ins Verderben stoßen. Bleiben Sie noch, ich will Ihnen etwas von mir selbst erzählen. Ich habe geheiratet, und mein Mann hat mich betrogen; vor Zorn und Eifersucht wollte ich alles im Stich lassen und wollte sogar ... Aber ich kam zur Besinnung, und wer war's, der mich rettete? Anna! Und sehen Sie, ich lebe noch. Die Kinder wachsen auf; mein Mann kehrt zu seiner Familie zurück und ist sich seines Unrechtes bewußt; er wird reiner und besser, und ich lebe ... Ich habe verziehen, und Sie müssen auch verzeihen!«



Alexei Alexandrowitsch hörte zu; aber ihre Worte machten auf ihn keinen Eindruck mehr. In seiner Seele war wieder der gan