Anna Karenina | Krieg und Frieden

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9

Um vier Uhr stieg Ljewin, der sein Herz heftig klopfen fühlte, am Zoologischen Garten aus der Droschke und ging auf einem Fußweg zur Rodelbahn und zur Eisbahn; er wußte zuverlässig, daß er Kitty dort finden werde, da er den Schtscherbazkischen Wagen beim Eingangstor gesehen hatte.

Es war ein heller Frosttag. Am Eingangstor standen in langen Reihen Wagen, vornehme Schlitten und einfache Schlittendroschken; Polizisten führten die Aufsicht. Von gutgekleideten Menschen, deren Hüte im hellen Sonnenscheine glänzten, wimmelte es am Eingange und auf den gesäuberten Fußwegen zwischen den russischen Häuschen mit den geschnitzten Firstbalken; die alten krausen Birken des Gartens ließen, vom Schnee beschwert, alle Zweige herabhängen und sahen aus, als ob sie in neue Festgewänder gekleidet seien.

Während er auf dem Fußwege zur Eisbahn ging, sagte er zu sich selbst: ›Ich darf mich nicht aufregen; ich muß ruhig sein. Warum klopfst du so?‹ redete er sein Herz an. ›Was hast du? Sei still, du dummes Ding!‹ Aber je mehr er sich bemühte, ruhig zu werden, um so schwerer wurde ihm das Atmen. Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an; aber Ljewin erkannte nicht einmal, wer es war. Er näherte sich der Rodelbahn, wo die Ketten der auf und ab fahrenden Schlitten klirrten, die hinabsausenden Schlitten laut auf dem Eise knirschten und fröhliche Stimmen erklangen. Nun ging er noch einige Schritte weiter, und vor ihm breitete sich die Eisbahn aus, und sofort erkannte er unter all den Schlittschuhläufern Kitty.

Er erkannte, daß sie da war, an dem Gefühle der Freude und zugleich der Angst, von dem sein Herz ergriffen wurde. Sie stand, im Gespräch mit einer Dame begriffen, am entgegengesetzten Ende der Eisbahn. Anscheinend war weder an ihrer Kleidung noch an ihrer Haltung etwas Auffallendes; aber für Ljewin war es ebenso leicht, sie aus diesem Menschenschwarm herauszufinden wie einen Rosenstrauch aus Nesseln. Alles wurde von ihr erleuchtet; sie war das Lächeln, das alles umher in heiterem Glanze erstrahlen ließ. ›Kann ich mich wirklich aufs Eis hinunter begeben und zu ihr hingehen?‹ überlegte er. Die Stelle, wo sie stand, erschien ihm als ein unnahbares Heiligtum, und einen Augenblick war er nahe daran, wieder wegzugehen; so bange war ihm zumute. Er mußte sich erst gewaltsam zusammennehmen und sich sagen, daß sich ja dort in ihrer Nähe allerlei Leute bewegten und auch er selbst ja hergekommen sein konnte, um Schlittschuh zu laufen. So stieg er auf das Eis hinunter, vermied es aber, wie man das bei der Sonne tut, Kitty lange anzusehen; aber er sah sie, wie die Sonne, auch ohne hinzublicken.

Auf dem Eise pflegten an diesem Wochentage und zu dieser Tageszeit Angehörige eines bestimmten Gesellschaftskreises zusammenzukommen, die alle untereinander bekannt waren. Da waren Meister im Schlittschuhlaufen, die mit ihrer Kunst glänzten, Anfänger hinter Stuhlschlitten, mit ängstlichen, ungeschickten Bewegungen, neben ganz jungem Volke auch alte Leute, die ihrer Gesundheit wegen liefen; sie alle betrachtete Ljewin als auserwählte Günstlinge des Glückes, weil ihnen vergönnt war, hier in Kittys Nähe zu sein. Aber alle diese Schlittschuhläufer, schien es, waren dabei von der größten Seelenruhe, holten sie ein, überholten sie, redeten sogar mit ihr und vergnügten sich ganz ohne Rücksicht auf sie, indem sie sich das vorzügliche Eis und das schöne Wetter mit Lust zunutze machten.

Nikolai Schtscherbazki, ein Vetter Kittys, saß in kurzer Jacke und engen Hosen, die Schlittschuhe an den Füßen, auf einer Bank und rief, sobald er Ljewin erblickte, ihm zu:

»Sieh da, der erste Schlittschuhläufer Rußlands! Sind Sie schon lange hier? Prächtiges Eis! Schnallen Sie doch die Schlittschuhe an!«

»Ich habe gar keine mit«, antwortete Ljewin und wunderte sich selbst, daß er sich in ihrer Gegenwart so dreist und ungezwungen zu benehmen vermochte; er verlor sie keine Sekunde aus den Augen, obwohl er nicht zu ihr hinblickte. Er fühlte, daß seine Sonne sich ihm näherte. Kitty hatte in einer Ecke gestanden und kam nun, die schmalen Füßchen in den hohen Stiefelchen in stumpfem Winkel aufsetzend, mit augenscheinlicher Zaghaftigkeit auf ihn zugelaufen. Ein Knabe in russischer Tracht, der wie ein Verzweifelter die Arme umherwarf und sich tief vornüber bückte, überholte sie. Sie lief nicht sehr sicher; daher hatte sie die Hände aus dem kleinen, an einer Schnur hängenden Muff herausgezogen und hielt sie in Bereitschaft; sie blickte Ljewin, den sie erkannt hatte, an und lächelte ihm freundlich zu, wobei sie zugleich ihr eigene Ängstlichkeit belächelte. Als sie die erforderliche Schwenkung glücklich ausgeführt hatte, gab sie sich mit dem federnden Füßchen einen kleinen Stoß und glitt gerade auf Schtscherbazki zu; sie ergriff ihn am Arme und nickte Ljewin lächelnd zu. Sie war noch schöner als das Bild, das ihm vorgeschwebt hatte.

Wenn er an sie gedacht hatte, hatte er sich ihr ganzes Persönchen lebhaft vorstellen können, namentlich den stillen Reiz dieses kleinen, blonden Köpfchens mit dem Ausdruck kindlicher Unschuld und Herzensgüte, das so frei auf den wohlgeformten, jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Gesichtsausdruckes im Verein mit der schlanken Schönheit ihrer Gestalt bildete an ihr einen besonderen Reiz, für den Ljewin durchaus Verständnis hatte; aber was ihn an ihr immer wie etwas Unerwartetes überraschte, das war der Ausdruck ihrer Augen, dieser sanften, ruhigen, ehrlichen Augen, und ganz besonders ihr Lächeln, das ihn immer in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich so gerührt und so weich gestimmt fühlte, wie er es nach seiner Erinnerung nur an einigen wenigen Tagen seiner frühesten Kindheit gewesen war.

»Sind Sie schon lange hier?« fragte sie, ihm die Hand reichend. »Danke schön!« fügte sie hinzu, als er das Taschentuch aufhob, das ihr aus dem Muff gefallen war.

»Ich? Ich bin eben erst ... gestern ... das heißt, heute bin ich angekommen«, antwortete Ljewin, der vor Aufregung ihre Frage nicht sogleich verstanden hatte. »Ich wollte bei Ihnen einen Besuch machen«, fuhr er fort, und da ihm in demselben Augenblick einfiel, welche Absicht ihn zu ihr führte, wurde er verlegen und errötete. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie auch Schlittschuh laufen; und Sie laufen sehr gut.«

Sie blickte ihn aufmerksam an, als wollte sie die Ursache seiner Verlegenheit erforschen.

»Ihr Lob ist mir sehr wertvoll. Es hat sich hier eine Überlieferung erhalten, daß Sie der beste Schlittschuhläufer sind«, antwortete sie und klopfte mit ihrer kleinen, in einem schwarzen Handschuh steckenden Hand die Reifnadeln ab, die auf ihren Muff gefallen waren.

»Ja, ich lief früher mit Leidenschaft; ich wollte es zur Meisterschaft bringen.«

»Es scheint, Sie tun alles mit Leidenschaft«, versetzte sie lächelnd. »Ich würde Sie sehr gern einmal laufen sehen. Schnallen Sie sich doch Schlittschuhe an; dann können wir ja zusammen laufen.«

›Zusammen laufen! Ist das denn wirklich möglich?‹ dachte Ljewin, indem er sie anblickte.

»Ich will mir sofort welche anschnallen«, sagte er.

Und er ging hin, um Schlittschuhe anzuschnallen.

»Sie sind ja lange nicht bei uns gewesen, gnädiger Herr«, sagte der Eisbahnpächter, während er seinen Fuß hielt und den Schlittschuh festschraubte. »Nach Ihnen haben wir keinen so guten Läufer hier gehabt. Wird es so gut sein?« fragte er beim Festziehen des Riemens.

»Ja, es ist ganz gut; nur schnell, nur schnell!« antwortete Ljewin und unterdrückte nur mit Mühe ein glückseliges Lächeln, das unwillkürlich auf sein Gesicht trat. ›Ja‹, dachte er, ›das ist Leben, das ist Glück! »Zusammen« hat sie gesagt; »wir können zusammen laufen.« Ob ich es ihr gleich jetzt sage? Aber ich scheue mich gerade deswegen, es ihr zu sagen, weil ich jetzt so glücklich bin, glücklich wenigstens in der Hoffnung. Und später? Aber ich muß es tun, ich muß, ich muß! Weg mit der Schwäche!‹

Ljewin stellte sich auf die Füße, legte den Überzieher ab, nahm auf dem rauhen Boden beim Häuschen einen Anlauf und lief dann auf das glatte Eis hinaus; dort glitt er ohne Anstrengung dahin, wie wenn er durch den bloßen Willen seinen Lauf beschleunigte, verlangsamte und lenkte. Zaghaft näherte er sich ihr; aber wieder beruhigte ihn ihr Lächeln.

Sie reichte ihm die Hand, und nun liefen sie mit gesteigerter Geschwindigkeit nebeneinander her, und je schneller sie liefen, um so fester drückte sie seine Hand.

»Mit Ihnen würde ich es rasch lernen«, sagte sie zu ihm. »Ich habe ein so großes Vertrauen zu Ihnen.«

»Und ich gewinne gleich an Selbstvertrauen, wenn Sie sich auf mich stützen«, erwiderte er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte, und wurde rot. Und wirklich: kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da verlor auch schon ihr Gesicht, wie wenn die Sonne sich hinter dunklem Gewölk verbirgt, all seine Freundlichkeit, und Ljewin bemerkte an ihr das ihm wohlbekannte Mienenspiel, das stets ein Zeichen ernsten Nachdenkens war: auf ihrer glatten Stirn trat ein kleines Fältchen hervor.

»Ist Ihnen etwas unangenehm?« sagte er schnell. »Ich habe allerdings kein Recht, danach zu fragen ...«

»Wieso! Aber nein, es ist mir nichts unangenehm«, antwortete sie kühl und fügte sogleich hinzu: »Haben Sie Mademoiselle Linon nicht begrüßt?«

»Nein, noch nicht.«

»Laufen Sie doch zu ihr hin; sie hat Sie so sehr gern.«

›Was ist das? Ich habe sie erzürnt. Herrgott, steh mir bei!‹ dachte Ljewin und lief zu der alten Französin mit den grauen Löckchen hin, die auf einer Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn wie einen alten Freund.

»Ja, ja, so wachsen wir und werden älter«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf Kitty deutend. »Tiny bear ist schon hübsch groß geworden«, fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an einen Scherz, den er einstmals über die drei Fräulein gemacht hatte: er hatte sie nach den drei Bären in dem englischen Märchen benannt. »Erinnern Sie sich wohl, daß Sie sie früher einmal so genannt haben?«

 

Er stellte entschieden in Abrede, sich dessen zu entsinnen; aber die Französin lachte schon zehn Jahre über diesen Scherz und fand ihn hübsch.

»Nun, gehen Sie, und laufen Sie weiter! Aber unsere Kitty hat ganz gut laufen gelernt, nicht wahr?«

Als Ljewin wieder zu Kitty hingelaufen kam, war ihre Miene nicht mehr so streng, und auch die Augen blickten offen und freundlich. Aber es schien ihm, als liege in ihrer Freundlichkeit ein besonderer, geflissentlich ruhiger Ton. Und es wurde ihm schwer ums Herz. Nachdem sie ein Weilchen über ihre alte Erzieherin und deren Absonderlichkeiten gesprochen hatte, fragte sie ihn nach seiner Lebensweise.

»Langweilen Sie sich denn im Winter auf dem Lande gar nicht?« fragte sie.

»Nein, ich langweile mich nicht, ich habe viel zu tun«, erwiderte er und fühlte dabei, daß sie ihn durch ihren ruhigen Ton in Schranken hielt und daß er jetzt ebensowenig imstande sein werde, diese Schranken zu durchbrechen, wie er es zu Anfang des Winters gekonnt hatte.

»Sind Sie zu längerem Aufenthalte nach Moskau gekommen?« fragte ihn Kitty.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne zu überlegen, was er sagte. Es kam ihm der Gedanke, wenn er sich wieder diesem ruhig-freundschaftlichen Tone fügte, so werde er auch diesmal abreisen müssen, ohne eine Entscheidung erreicht zu haben; daher beschloß er, sich dagegen aufzulehnen.

»Aber das müssen Sie doch wissen!«

»Nein, ich weiß es nicht. Das wird von Ihnen abhängen«, versetzte er und erschrak sogleich über diese Antwort.

Ob sie nun seine Worte nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – sie schien zu straucheln, stampfte zweimal mit dem Füßchen auf und lief eilig von ihm fort. Sie lief zu Mademoiselle Linon hin, sagte ihr etwas und schlug dann die Richtung nach dem Häuschen ein, wo die Damen sich die Schlittschuhe an- und abschnallen ließen.

›Mein Gott, was habe ich getan! Herr, mein Gott! Steh mir bei; gib mir ein, was ich tun soll!‹ betete Ljewin im stillen. Und da er gleichzeitig ein Bedürfnis nach starker Bewegung empfand, so nahm er einen Anlauf und beschrieb Spiralen nach außen und nach innen zu.

In diesem Augenblick trat ein junger Mann, der beste der neueren Schlittschuhläufer, mit einer Zigarette im Munde und Schlittschuhen an den Füßen aus dem Kaffeehäuschen heraus, nahm einen Anlauf und sprang auf den Schlittschuhen mit Gepolter die Treppenstufen hinab. Unten angelangt, glitt er, ohne auch nur die ungezwungene Haltung der Arme zu verändern, auf dem Eise dahin.

»Aha, das ist ein neues Kunststück«, sagte Ljewin und lief sofort nach oben, um es gleichfalls auszuführen.

»Brechen Sie sich nicht den Hals! Das muß man geübt haben!« rief ihm Nikolai Schtscherbazki zu.

Ljewin stieg die Stufen hinan, nahm oben einen möglichst großen Anlauf und sprang hinunter, wobei er sich bei der ungewohnten Bewegung mit den Armen im Gleichgewicht hielt. Bei der letzten Stufe strauchelte er; jedoch berührte er das Eis dabei kaum mit der Hand; durch eine kräftige Bewegung brachte er sich wieder in die Höhe und lief lachend auf den Schlittschuhen über die Eisfläche weiter.

›Ein lieber, prächtiger Mensch‹, dachte Kitty, die in diesem Augenblicke mit Mademoiselle Linon aus dem Häuschen heraustrat und mit einem stillen, freundlichen Lächeln nach ihm wie nach einem lieben Bruder hinblickte. ›Bin ich wirklich schuld? Habe ich denn etwas Schlimmes getan? Die Leute reden immer von Gefallsucht. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe; aber doch macht mir das Zusammensein mit ihm soviel Vergnügen, und er ist ein so prächtiger Mensch. Aber warum hat er das nur gesagt?‹ dachte sie.

Als Ljewin sah, daß Kitty und ihre Mutter, die auf den Stufen mit ihr zusammengetroffen war, von der Eisbahn weggingen, blieb er, ganz rot von der schnellen Bewegung, stehen und überlegte. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.

»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte die Fürstin. »Unser Empfangstag ist immer noch der Donnerstag.«

»Also heute?«

»Wir werden sehr erfreut sein, Sie bei uns zu sehen«, erwiderte die Fürstin in trockenem Tone.

Diesen trockenen Ton empfand Kitty peinlich, und sie konnte sich des Verlangens nicht erwehren, das kühle Wesen der Mutter wiedergutzumachen. Daher wandte sie den Kopf zu Ljewin zurück und sagte lächelnd:

»Auf Wiedersehen!«

Zu derselben Zeit war Stepan Arkadjewitsch, den Hut schief auf dem Kopfe, mit strahlendem Gesichte und blitzenden Augen, wie ein froher Sieger, im Garten erschienen. Aber als er seiner Schwiegermutter begegnete, beantwortete er mit trauriger, bedrückter Miene deren Fragen nach Dollys Gesundheit. Er führte dieses Gespräch mit leiser Stimme und in niedergeschlagener Haltung; aber sobald die Damen weggefahren waren, richtete er sich wieder selbstbewußt auf und faßte Ljewin unter den Arm.

»Nun, wie ist's? Wollen wir fahren?« fragte er. »Ich habe fortwährend an dich gedacht und bin sehr froh, daß du hierher nach der Eisbahn gekommen bist«, sagte er und blickte ihm bedeutsam in die Augen.

»Schön, schön, fahren wir!« antwortete der glückliche Ljewin, dem immer noch so war, als höre er den Ton der Stimme, die zu ihm ›Auf Wiedersehen!‹ gesagt hatte, und als sähe er das Lächeln, mit dem diese Worte gesprochen worden waren.

»Nach dem Hotel d'Angleterre oder nach der Eremitage?«

»Mir ganz gleich.«

»Na, dann nach dem Hotel d'Angleterre«, entschied Stepan Arkadjewitsch.

Er wählte dieses Restaurant deswegen, weil er da mehr schuldig war als in der Eremitage. Aus diesem Grunde hielt er es für unpassend, dieses Hotel zu meiden. »Hast du eine Droschke? Das ist ja vortrefflich; ich habe nämlich meinen Wagen wieder nach Hause geschickt.«

Während der ganzen Fahrt schwiegen die beiden Freunde. Ljewin dachte darüber nach, was jener Wechsel des Ausdrucks auf Kittys Gesicht wohl zu bedeuten gehabt habe, und gab sich bald dem Glauben hin, daß er hoffen dürfe, bald geriet er in Verzweiflung und sah klar ein, daß seine Hoffnung sinnlos sei, fühlte sich aber trotzdem als ein ganz anderer Mensch, völlig unähnlich dem, der er vor ihrem Lächeln und vor den Worten »Auf Wiedersehen!« gewesen war.

Stepan Arkadjewitsch stellte unterwegs in Gedanken die Speisenfolge des Mittagsmahles zusammen.

»Du ißt doch wohl gern Steinbutt?« fragte er Ljewin, als sie an dem Restaurant vorfuhren.

»Was?« erwiderte Ljewin. »Steinbutt? Ja, Steinbutt esse ich leidenschaftlich gern.«

10

Als Ljewin mit Oblonski in das Hotel trat, drängte sich jenem die Wahrnehmung auf, daß Oblonskis Gesicht und gesamte Gestalt einen ganz besonderen Eindruck machten, gleichsam den Eindruck eines verhaltenen strahlenden Leuchtens. Oblonski legte den Überzieher ab und ging, den Hut schief auf einem Ohr, in den Speisesaal. Während des Gehens erteilte er den tatarischen Kellnern, die im Frack, das Tellertuch unter dem Arm, ihn umdrängten und begleiteten, seine Befehle. Indem er sich nach rechts und links gegen Bekannte verbeugte, die er auch hier in Menge fand und die ihn wie überall freudig begrüßten, ging er an den Schanktisch, trank einen Schnaps, aß ein Stückchen Fisch dazu und machte zu der geschminkten, mit Bändern, Spitzen und Haarwickeln aufgeputzten Französin, die als Kassiererin dasaß, eine Bemerkung, worüber diese laut lachen mußte. Ljewin hingegen verzichtete nur deswegen auf einen Schnaps, weil ihm diese Französin, die ganz aus falschem Haar, poudre de riz und vinaigre de toilette zusammengesetzt zu sein schien, gar zu widerwärtig war. Wie von einem unsauberen Orte trat er schnell von ihr weg. Seine ganze Seele war von der Erinnerung an Kitty erfüllt, und in seinen Augen leuchtete ein Lächeln des Triumphes und des Glückes.

»Bitte, hierher, Euer Durchlaucht; hier werden Euer Durchlaucht ungestört sein«, sagte ein mit besonderer Beflissenheit sich an sie herandrängender alter Tatar mit blassem Gesichte und breiten Hüften, über denen die Frackschöße auseinanderklafften. »Bitte, Euer Durchlaucht«, sagte er auch zu Ljewin; denn zum Zeichen besonderer Verehrung für Stepan Arkadjewitsch wollte er auch dessen Gast achtungsvoll behandeln.

Im Nu hatte er ein frisches Tuch über einen bereits gedeckten runden Tisch unter einem bronzenen Wandleuchter gebreitet und die Samtsessel herangerückt; dann stellte er sich, das Tellertuch und die Speisekarte in den Händen, vor Stepan Arkadjewitsch hin und erwartete seine Bestellungen.

»Wenn Euer Durchlaucht ein besonderes Kabinett befehlen, es wird sofort eines frei werden: Fürst Golizün mit einer Dame. Wir haben frische Austern bekommen.«

»Ah, Austern!«

Stepan Arkadjewitsch überlegte.

»Sollen wir den Kriegsplan ändern, Ljewin?« fragte er. Er hatte den Finger auf die Speisekarte gesetzt, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck ernsten Zweifels. »Sind die Austern auch gut? Nimm dich in acht!«

»Flensburger, Euer Durchlaucht; Ostender haben wir nicht.«

»Ob Flensburger oder andere, darauf kommt es nicht an; aber sind sie auch frisch?«

»Wir haben sie gestern bekommen.«

»Nun also, wie wär's? Wollen wir mit Austern anfangen und demgemäß dann den ganzen Plan umändern? Wie?«

»Mir ganz gleich. Ich äße am liebsten Kohlsuppe und Grütze; aber so etwas gibt es hier ja nicht.«

»Befehlen Sie Grütze à la russe?« fragte der Tatar und beugte sich über Ljewin wie eine Wärterin über ein kleines Kind.

»Nein, ohne Scherz, was du auswählst, wird mir recht sein. Ich bin Schlittschuh gelaufen und habe tüchtigen Appetit. Und du brauchst nicht zu glauben«, fügte er hinzu, als er auf Oblonskis Gesicht eine gewisse Unzufriedenheit bemerkte, »daß ich deine Auswahl nicht werde nach Gebühr zu würdigen wissen. Es wird mir großes Vergnügen bereiten, gut zu speisen.«

»Es wäre auch schlimm, wenn's nicht der Fall wäre!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Man mag sagen, was man will, das ist einer der schönsten Lebensgenüsse. Nun also, Freundchen, dann gib uns Austern, zwei, oder nein, das ist ein bißchen wenig, drei Dutzend; Suppe mit allerlei Grünzeug darin ...«

»Printanière«, schaltete der Tatar ein. Aber Stepan Arkadjewitsch wollte ihm offenbar nicht den Gefallen tun, die Gerichte französisch zu benennen.

»Mit allerlei Grünzeug darin, verstehst du wohl? Dann Steinbutt mit einer so dicken Tunke, dann – Roastbeef; und sorge dafür, daß es gut ist. Dann Kapaun, nicht wahr? Na, und natürlich Kompott.«

Der Tatar, der sich inzwischen erinnert hatte, daß es eine Eigenheit Stepan Arkadjewitschs war, die Gerichte nicht mit den auf der französischen Speisekarte angegebenen Namen zu bezeichnen, hatte ihm nicht mehr die einzelnen Namen französisch nachgesprochen, machte sich aber nun zum Schluß das Vergnügen, die ganze Bestellung nach der Speisekarte zu wiederholen: »Soupe printanière, turbot sauce Beaumarchais, rosbif à l'anglaise, poularde à l'estragon, macédoine de fruits.« Unmittelbar darauf legte er, als ob seine Bewegungen durch innerlich angebrachte Federn geregelt würden, die eine buchförmig eingebundene Karte, die Speisekarte, hin, ergriff die andere, die Weinkarte, und reichte diese Stepan Arkadjewitsch.

»Was wollen wir trinken?«

»Ich trinke, was du willst, nur nicht zuviel; meinetwegen Champagner«, erwiderte Ljewin.

»Was, gleich von Anfang an? Aber du hast recht; meinetwegen! Trinkst du gern weißgesiegelten?«

»Cachet blanc«, schaltete der Tatar ein.

»Na, dann bring uns zu den Austern diese Marke; nachher wollen wir weiter sehen.«

»Zu Befehl. Und welchen Tischwein befehlen Sie?«

»Bring uns Nuits! Oder nein, lieber einen recht guten Chablis!«

»Zu Befehl. Und den Käse, den Euer Durchlaucht auch sonst immer nehmen?«

»Na ja, Parmesan. Oder bevorzugst du einen anderen?«

»Nein, mir ist es ganz gleich«, erwiderte Ljewin, ohne ein Lächeln unterdrücken zu können.

Der Tatar lief mit flatternden Frackschößen hinaus und kam nach fünf Minuten mit einer Schüssel voll geöffneter Austern in ihren perlmutterglänzenden Schalen und mit einer Flasche zwischen den Fingern wieder hereingeflogen.

 

Stepan Arkadjewitsch zerknitterte das gestärkte Mundtuch, steckte es mit einem Zipfel unter die Weste, legte in aller Ruhe die Arme auf den Tisch und machte sich an die Austern.

»Nicht übel«, sagte er, während er die Austern mit dem silbernen Gäbelchen aus der schillernden Schale löste und eine nach der anderen verschluckte. »Nicht übel«, wiederholte er und richtete seine feucht schimmernden, glänzenden Augen bald auf Ljewin, bald auf den Tataren.

Ljewin aß gleichfalls von den Austern, obwohl ihm Weißbrot mit Käse mehr zugesagt hätte; aber es machte ihm Vergnügen, seinem Tischgenossen zuzusehen. Sogar der Tatar, der den Pfropfen aus der Flasche gezogen und den schäumenden Wein in die schlankfüßigen, weitschaligen Gläser gegossen hatte, blickte mit merkbarem Lächeln auf Stepan Arkadjewitsch, während er seine weiße Krawatte wieder zurechtschob.

»Du bist wohl kein besonderer Freund von Austern?« sagte Stepan Arkadjewitsch und trank sein Glas aus. »Oder hast du Sorgen, wie?«

Er hätte Ljewin gern fröhlich gesehen. Aber dieser war nicht eigentlich trübe gestimmt, sondern fühlte sich vielmehr in Verlegenheit. Mit dem, was er auf dem Herzen hatte, war ihm sonderbar und unbehaglich zumute in einem solchen Restaurant, zwischen Kabinetten, wo mit Damen gespeist wurde, mitten in diesem Gelaufe und Getreibe; diese ganze Einrichtung mit Bronzefiguren, Spiegeln, Gaskronen und tatarischen Kellnern, all dies war ihm geradezu widerwärtig. Er fürchtete, das zu beflecken, was seine ganze Seele erfüllte.

»Ich? Ja, Sorgen habe ich; aber außerdem macht mich hier die ganze Umgebung verlegen«, antwortete er. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie fremdartig jemandem, der immer auf dem Lande lebt, das alles vorkommt, zum Beispiel auch die Fingernägel des Herrn, den ich bei dir traf.«

»Ja, ja, ich habe es wohl gesehen, daß die Nägel des armen Grinjewitsch dich sehr interessieren«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch lachend.

»Ich kann das nicht vertragen«, antwortete Ljewin. »Versuche doch einmal, dich in meine Seele hineinzuversetzen; stelle dich auf den Standpunkt eines Mannes vom Lande! Wir auf dem Lande geben uns Mühe, unsere Hände in eine solche Verfassung zu bringen, daß sich bequem mit ihnen arbeiten läßt. Darum schneiden wir unsere Nägel kurz und streifen uns manchmal die Ärmel auf. Aber hier lassen die Leute absichtlich ihre Nägel so lang wachsen, wie es nur irgend möglich ist, und befestigen an den Handwurzeln, angeblich als Hemdknöpfe, kleine Schüsseln, um nur ja nicht imstande zu sein, mit den Händen etwas vorzunehmen.«

Stepan Arkadjewitsch lächelte vergnügt.

»Das soll eben eine Andeutung sein, daß er keine grobe Arbeit zu verrichten braucht. Er arbeitet mit dem Kopfe.«

»Mag sein. Aber fremdartig bleibt es mir dennoch, ebenso wie es mir jetzt seltsam vorkommt, daß, während wir auf dem Lande uns möglichst schnell satt zu essen suchen, um wieder an unsere Arbeit gehen zu können, wir beide hier es darauf anlegen, möglichst lange zu essen, ohne satt zu werden, und zu diesem Zwecke Austern essen.«

»Selbstverständlich tun wir das«, warf Stepan Arkadjewitsch dazwischen. »Aber darin besteht ja gerade das Ziel der Bildung: sich aus allem einen Genuß zu bereiten.«

»Nun, wenn das das Ziel ist, dann möchte ich lieber ein Wilder sein.«

»Du bist ja auch ein Wilder. Ihr Ljewins seid alle Wilde.«

Ljewin seufzte. Er dachte an seinen Bruder Nikolai, und Scham und Traurigkeit überkamen ihn, so daß seine Miene sich verfinsterte; aber Oblonski leitete das Gespräch auf einen Gegenstand, der ihn sofort diese trüben Gedanken vergessen ließ.

»Nun, wie ist's? Kommst du heute abend zu meinen Verwandten, ich meine, zu Schtscherbazkis?« fragte er, indem er die leeren, rauhen Austernschalen von sich schob, sich den Käse heranzog und bedeutsam mit den Augen zwinkerte.

»Ja, ich werde bestimmt hinkommen«, antwortete Ljewin, »obgleich ich den Eindruck hatte, daß die Fürstin mich nur ungern aufforderte.«

»Wie kannst du das denken! So ein Unsinn! Das ist nun einmal ihre Manier so. – Na, nun bring uns die Suppe, lieber Freund! – Das ist so ihre Art, grande dame«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Ich komme auch hin, muß aber vorher erst noch zu der Gräfin Bonina zu einer Gesangsprobe. Na, kannst du bestreiten, daß du ein Wilder bist? Wie ist es denn sonst zu erklären, daß du vor ein paar Monaten urplötzlich aus Moskau verschwandest? Schtscherbazkis haben mich unaufhörlich nach dir gefragt, als müßte ich Bescheid wissen. Und ich weiß doch nur das eine, daß du immer gerade das tust, was sonst niemand tut.«

»Ja«, erwiderte Ljewin langsam und in sichtlicher Erregung. »Du hast recht: ich bin ein Wilder. Nur hat sich das nicht darin gezeigt, daß ich damals wegfuhr, sondern darin, daß ich jetzt wiedergekommen bin. Ich bin jetzt wiedergekommen ...«

»Oh, was bist du für ein glücklicher Mensch!« unterbrach ihn Stepan Arkadjewitsch und blickte ihm in die Augen.

»Weswegen?«

»Am gebrannten Mal erseh ich,

Ob von edler Art ein Roß;

An des Jünglings Aug erspäh ich,

Ob ins Herz ihn Amor schoß«,

deklamierte Stepan Arkadjewitsch. »Du hast noch alles vor dir.«

»Hast du denn schon alles hinter dir?«

»Nein, wenn auch nicht gerade das. Aber du hast noch die Zukunft; ich dagegen habe nur die Gegenwart, und die ist nur soso, halb süß, halb sauer.«

»Wieso denn?«

»Eine verdrießliche Geschichte. Na, aber ich wollte ja nicht von mir reden und könnte dir sowieso nicht alles auseinandersetzen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Also warum bist du denn nach Moskau gekommen? – He du, räum das hier weg!« rief er dem Tataren zu.

»Kannst du es nicht erraten?« versetzte Ljewin, ohne die Augen, in denen ein tiefinnerliches Leuchten lag, von Stepan Arkadjewitsch wegzuwenden.

»Ich errate es schon, kann aber doch nicht anfangen, davon zu reden. Schon danach kannst du beurteilen, ob ich richtig oder nicht richtig rate«, sagte Stepan Arkadjewitsch und blickte Ljewin mit einem feinen Lächeln an.

»Nun, was kannst du mir darüber sagen?« fragte Ljewin mit zitternder Stimme; er fühlte, daß in seinem Gesicht alle Muskeln zitterten. »Wie siehst du die Sache an?«

Stepan Arkadjewitsch trank langsam sein Glas Chablis aus, ohne die Augen von Ljewin wegzuwenden.

»Ich?« erwiderte er. »Ich würde nichts sehnlicher wünschen, nichts sehnlicher! Das wäre das beste, was überhaupt geschehen könnte.«

»Aber bist du auch nicht in einem Irrtum befangen? Du weißt doch, wovon wir sprechen?« fragte Ljewin und blickte seinen Tischgenossen in unruhiger Spannung starr an. »Du meinst also, daß es möglich wäre?«

»Das meine ich allerdings. Warum sollte es nicht möglich sein?«

»Nein, meinst du wirklich, daß es möglich wäre? Nein, sage mir alles, was du darüber denkst! Nun aber, wenn ... wenn mich eine abschlägige Antwort erwartet? – Ich bin sogar überzeugt ...«

»Warum denkst du denn das?« sagte Stepan Arkadjewitsch, über Ljewins Aufregung lächelnd.

»Es scheint mir bisweilen so. Das wäre ja entsetzlich, sowohl für mich wie für sie.«

»Na, für ein junges Mädchen ist jedenfalls nichts Entsetzliches dabei. Jedes junge Mädchen ist auf einen Heiratsantrag stolz.«

»Ja, jedes junge Mädchen, aber nicht sie.«

Stepan Arkadjewitsch lächelte. Er verstand Ljewins Gefühl sehr wohl und wußte, daß für diesen jetzt alle jungen Mädchen auf der Welt in zwei Klassen zerfielen: die eine Klasse umfaßte alle jungen Mädchen auf der Welt außer ihr, und diese jungen Mädchen hatten sämtlich menschliche Schwächen und waren eben junge Mädchen von ganz gewöhnlichem Schlage; die andere Klasse wurde von ihr allein gebildet, von ihr, die keinerlei Schwächen an sich hatte und hoch über allem stand, was Mensch hieß.