Anna Karenina | Krieg und Frieden

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18

Es wurden Schritte und eine Männerstimme hörbar, darauf eine Frauenstimme und Lachen, und gleich darauf traten die erwarteten Gäste ein: Sappho Stoltz und ein von Gesundheit strotzender junger Mann, den man Waska zu nennen pflegte. Man sah, daß ihm die Ernährung mit halbblutigen Beefsteaks, Trüffeln und Burgunder gut bekam. Waska verbeugte sich vor den Damen und blickte sie an, aber nur eine Sekunde. Er war hinter Sappho in den Salon eingetreten und ging nun im Salon hinter ihr her, als ob er an sie angebunden wäre, und wandte seine glänzenden Augen auch nicht einen Augenblick von ihr ab, wie wenn er sie damit verzehren wollte. Sappho Stoltz war eine Blondine mit schwarzen Augen. Sie war mit kleinen, festen Schritten auf den hohen Absätzen ihrer Stiefelchen hereingekommen und drückte nun den Damen kräftig, nach Männerart, die Hand.

Anna war mit dieser neuen Berühmtheit noch nie zusammengetroffen und war nun überrascht sowohl durch ihre Schönheit wie auch durch das Auffällige ihrer Kleidung und die Keckheit ihres Benehmens. Auf ihrem Kopfe war aus eigenem und fremdem Haar von zartgoldiger Farbe eine Frisur von so gewaltiger Höhe aufgebaut, daß ihr Kopf ebenso groß war wie die schön gewölbte, vorn sehr offene Büste. Vorn lag das Kleid so eng an, daß sich bei jeder Bewegung die Formen der Knie und Oberschenkel unter dem Kleide abzeichneten; und was die Rückseite anlangte, fragte man sich unwillkürlich, wo denn dort in diesem kunstvoll aufgebauten, hin und her schaukelnden Berge ihr wirklicher, kleiner, anmutiger Körper endigen mochte, der oben so weit entblößt und am untern Teile der Rückseite so sorgsam versteckt war.

Betsy beeilte sich, Sappho und Anna einander vorzustellen.

»Können Sie sich das vorstellen, wir hätten beinahe zwei Soldaten überfahren!« begann Sappho sogleich lächelnd und mit vergnügtem Augenzwinkern zu erzählen; dabei zog sie auch ihre Schleppe nach hinten zurecht, die sie zuerst zu sehr nach einer Seite geworfen hatte. »Ich fuhr mit Waska ... Ach so, Sie sind nicht miteinander bekannt.« Sie stellte den jungen Mann mit seinem Familiennamen vor und lachte errötend laut über ihren Verstoß, daß sie ihn einer Unbekannten gegenüber Waska genannt hatte. Waska verbeugte sich noch einmal vor Anna, ohne jedoch etwas zu ihr zu sagen. Er wandte sich an Sappho: »Sie haben die Wette verloren. Wir sind früher angekommen. Also bezahlen Sie nur!« sprach er lächelnd.

Sappho lachte noch lustiger.

»Aber doch nicht jetzt«, erwiderte sie.

»Nun, dann bekomme ich meinen Gewinn später.«

»Schön, schön! Ach ja!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin. »Ich bin gut! ... Das hatte ich ja ganz vergessen ... Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht. Da ist er ja auch!«

Der unerwartete jugendliche Gast, den Sappho mitgebracht und vergessen hatte, war jedoch ein so hoher Gast, daß trotz seines jugendlichen Alters sich die beiden Damen zu seiner Begrüßung von ihren Plätzen erhoben.

Dies war ein neuer Verehrer Sapphos. Ebenso wie Waska, folgte er ihr jetzt auf Schritt und Tritt nach.

Bald kamen auch Fürst Kaluschski und Lisa Merkalowa mit Stremow. Lisa Merkalowa war eine hagere Brünette mit trägem, orientalischem Gesichtsausdruck und reizenden Augen, unergründlichen Augen, wie man allgemein sagte. Der Charakter ihrer dunklen Kleidung (Anna bemerkte dies sofort und wußte es zu würdigen) stimmte in denkbar vollkommenster Weise zu der Eigenart ihrer Schönheit. Wie bei Sappho alles fest und straff war, so bei Lisa weich und lose.

Aber nach Annas Geschmack war Lisa weit anziehender. Betsy hatte zu Anna von ihr gesagt, sie habe den Ton eines naiven Kindes angenommen; aber als Anna sie jetzt kennenlernte, fühlte sie, daß das nicht richtig war. Sie war in Wirklichkeit ein naives Wesen, verderbt, aber liebenswürdig, so daß man ihr nicht zürnen konnte. Allerdings, ihr Ton war derselbe wie der Ton Sapphos, und ebenso wie dieser folgten ihr wie angeseilt zwei Anbeter und verschlangen sie mit den Augen (bei ihr war der eine jung, der andere alt); aber in ihr lag etwas, was sie über ihre Umgebung hinaushob: das war der Glanz des echten Diamanten unter Nachbildungen von Glas. Dieser Glanz leuchtete aus ihren reizenden, in der Tat unergründlichen Augen hervor. Der müde und zugleich leidenschaftliche Blick dieser von dunklen Ringen umgebenen Augen überraschte durch seine vollkommene Aufrichtigkeit. Jeder, der in diese Augen hineinblickte, war überzeugt, daß er diese Frau vollständig kennengelernt habe, und mußte sie dann notwendig liebgewinnen. Bei Annas Anblick leuchtete ihr ganzes Gesicht auf einmal von einem freudigen Lächeln auf.

»Ach, wie freue ich mich, Sie zu sehen!« sagte sie und trat auf sie zu. »Ich wollte gestern beim Rennen gerade zu Ihnen kommen, da waren Sie weggefahren. Gerade gestern hatte ich den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen. Nicht wahr, es war entsetzlich?« sagte sie, und in dem Blicke, mit dem sie sie ansah, schien ihre ganze Seele offen dazuliegen.

»Ja, ich hätte nie geglaubt, daß das so aufregend ist«, erwiderte Anna errötend.

Unterdessen hatte sich die Gesellschaft erhoben, um in den Garten zu gehen.

»Ich gehe nicht mit«, sagte Lisa lächelnd und setzte sich neben Anna. »Sie wollen auch nicht hingehen? Wie kann einem das Krocketspielen nur Vergnügen machen!«

»Oh, ich spiele ganz gern«, erwiderte Anna.

»Wissen Sie, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen? Man braucht Sie nur anzusehen, dann wird man fröhlich. So wie Sie leben, das ist das wahre Leben; ich aber langweile mich.«

»Wie meinen Sie denn das? Sie sind ja doch eins der vergnügtesten Mitglieder der Petersburger Gesellschaft«, versetzte Anna.

»Mag sein, daß die, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören, sich noch mehr langweilen; aber bei uns, jedenfalls bei mir, ist von Vergnügtsein nicht die Rede, nur von furchtbarer, ganz furchtbarer Langeweile.«

Sappho hatte sich eine Zigarette angezündet und ging nun mit den beiden jungen Männern in den Garten. Betsy und Stremow blieben am Teetisch sitzen.

»Aber wie können Sie so etwas behaupten!« sagte Betsy zu Lisa. »Sappho sagt, daß sie sich gestern bei Ihnen vorzüglich unterhalten haben.«

»Ach, es war so furchtbar öde!« versetzte Lisa Merkalowa. »Wir fuhren nach dem Rennen alle zu mir nach Hause. Und immer dieselben Menschen, immer dieselben Menschen! Und immer ein und das selbe! Den ganzen Abend über haben wir uns auf den Sofas herumgerekelt. Was ist denn daran Vergnügliches? Nein, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen?« wandte sie sich wieder zu Anna. »Man braucht Sie nur anzublicken, so sieht man: das ist eine Frau, die glücklich oder auch unglücklich sein kann, aber sich nie langweilt. Lehren Sie mich, wie Sie das zustande bringen!«

»Ich tue gar nichts dazu«, antwortete Anna, die bei diesen zudringlichen Fragen errötete.

»Gerade das ist das beste Verfahren«, mischte sich hier Stremow in das Gespräch.

Stremow war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, schon halb ergraut, aber noch frisch, sehr unschön, aber mit einem Gesichte, das auf einen festen Charakter und Klugheit schließen ließ. Lisa Merkalowa war eine Nichte seiner Frau, und er verbrachte alle seine freien Stunden in ihrer Gesellschaft. Da er jetzt mit Anna Karenina zusammengetroffen war, so war er, obgleich in der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs, als kluger Weltmann bemüht, gegen sie, die Gattin seines Gegners, besonders liebenswürdig zu sein.

»Gar nichts dazu tun«, bemerkte er, Annas Worte aufnehmend, mit feinem Lächeln, »das ist das beste Mittel. Ich habe Ihnen schon früher wiederholt gesagt«, wandte er sich an Lisa Merkalowa, »um sich nicht zu langweilen, muß man nicht daran denken, daß man sich langweilen könnte. Ganz ebenso, wie man, wenn Besorgnis wegen Schlaflosigkeit besteht, sich nicht davor fürchten darf, daß man vielleicht nicht einschlafen werde. Ganz dasselbe hat Ihnen auch Anna Arkadjewna gesagt.«

»Ich würde sehr froh sein, wenn ich es gesagt hätte; denn es ist nicht nur klug gesagt, sondern auch wahr«, erwiderte Anna lächelnd.

»Aber sagen Sie mir doch, woher kommt es, daß man nicht einschlafen kann und daß man sich vor der Langenweile nicht retten kann?«

»Um einzuschlafen, muß man vorher arbeiten, und um vergnügt zu sein, muß man gleichfalls vorher arbeiten.«

»Wozu soll ich denn arbeiten, wenn meine Arbeit niemandem nötig oder nützlich ist? Und mich absichtlich nur so zu stellen, das verstehe ich nicht, und das will ich auch nicht.«

»Sie sind unverbesserlich«, versetzte Stremow, ohne sie anzusehen, und wandte sich wieder zu Anna.

Da er nur selten mit Anna zusammentraf, so konnte er zu ihr nur Oberflächliches reden; aber diese Oberflächlichkeiten, zum Beispiel wann sie wieder nach Petersburg übersiedeln werde, wie sehr die Gräfin Lydia Iwanowna sie in ihr Herz geschlossen habe, brachte er mit einem Ausdruck vor, der deutlich er kennen ließ, daß er von ganzem Herzen wünschte, ihr angenehm zu sein und ihr seine Achtung und sogar noch mehr zu bezeigen.

Tuschkewitsch kam herein und meldete, die ganze Gesellschaft warte auf die Krocketspieler.

»Nein, bitte, brechen Sie nicht auf!« bat Lisa Merkalowa, als sie hörte, daß Anna wegfahren wollte. Stremow vereinigte seine Bitten mit den ihrigen.

»Es würde ein gar zu starker Gegensatz sein«, bemerkte er, »wenn Sie nach dieser Gesellschaft das alte Fräulein Wrede besuchen wollten. Und dann: die alte Dame würde sich über Ihren Besuch nur deshalb freuen, weil sie an Ihnen eine erwünschte Zuhörerin haben würde, um ihrer Lästersucht freien Lauf zu lassen; hier aber erwecken Sie ganz andere Empfindungen, die allerbesten Empfindungen, das gerade Gegenteil von Lästersucht«, sagte er zu ihr.

 

Anna war einen Augenblick unschlüssig und überlegte. Die schmeichelhaften Reden dieses klugen Mannes, die kindliche Zuneigung, die Lisa Merkalowa ihr entgegenbrachte, und dieses ganze ihr so vertraute vornehme Getriebe, alles dies war eine Luft, in der sich leicht atmen ließ; dort aber stand ihr so Schweres bevor, daß sie einen Augenblick unschlüssig war, ob sie nicht bleiben und den schrecklichen Augenblick der Aussprache noch verschieben sollte. Aber als sie daran dachte, was ihrer zu Hause wartete, wenn sie, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, dort wieder allein wäre, als sie an die ihr noch in der Erinnerung furchtbare Gebärde dachte, wie sie sich mit beiden Händen in die Haare gefaßt hatte, da verabschiedete sie sich und fuhr weg.

19

Obgleich Wronski dem Anschein nach das leichtsinnige Dasein eines Lebemannes führte, war er doch ein entschiedener Feind der Unordnung. Als er noch ganz jung, noch im Pagenkorps war, hatte er das peinliche Erlebnis gehabt, daß er in Geldklemme geriet, borgen wollte und eine abschlägige Antwort erhielt, und seit jener Zeit hatte er sich sorgsam davor gehütet, wieder in eine ähnliche Lage zu kommen. Um seine Angelegenheiten immer in Ordnung zu halten, setzte er sich etwa fünfmal im Jahre, je nach den Umständen häufiger oder seltener, ganz allein hin und brachte alle seine Angelegenheiten ins klare. Er nannte das »große Wäsche veranstalten« oder faire la lessive.

Am Tage nach dem Rennen wachte Wronski erst spät auf; ohne sich rasiert und ein Bad genommen zu haben, zog er seine Litewka an, ordnete auf dem Tische seinen Barbestand, die Rechnungen und allerlei Briefe und machte sich an die Arbeit. Petrizki wußte, daß er bei dieser Beschäftigung gewöhnlich sehr reizbar war; als er daher beim Aufwachen den Kameraden am Schreibtisch erblickte, kleidete er sich still an und ging, ohne ihn zu stören, hinaus.

Jeder, der die ganze Schwierigkeit der ihn umgebenden Verhältnisse bis in die kleinsten Einzelheiten kennt, ist unwillkürlich der Ansicht, daß die Schwierigkeit dieser Verhältnisse und die Möglichkeit ihrer Entwirrung eine zufälligerweise nur ihn persönlich betreffende Besonderheit sei, und kann sich gar nicht denken, daß andere Leute in ebenso verwickelten persönlichen Verhältnissen stecken wie er selbst. Diese Anschauung hatte auch Wronski. Und nicht ohne geheimen Stolz und nicht ohne Grund sagte er sich, daß jeder andere wohl schon längst in Verwirrung geraten wäre und sich zu irgendwelchem unschönen Verfahren genötigt gesehen hätte, wenn er sich in so schwierigen Verhältnissen befunden hätte. Aber Wronski fühlte, daß es gerade jetzt für ihn ein Ding der Notwendigkeit sei, eine Abrechnung vorzunehmen und seine Lage klarzustellen, um nicht in Verlegenheit zu geraten.

Zuerst nahm Wronski die Geldangelegenheiten als das Leichteste vor. Auf einem Bogen Briefpapier verzeichnete er mit seiner kleinen Schrift alles, was er schuldig war, zählte es zusammen und fand, daß er siebzehntausend und einige hundert Rubel schuldete; die Hunderte strich er weg, um klarere Rechnung zu haben. Nachdem er sein Bargeld und sein Guthaben in seinem Bankbuche zusammengerechnet hatte, erhielt er das Ergebnis, daß er noch eintausendachthundert Rubel besaß; eine Einnahme stand vor Neujahr nicht in Aussicht. Noch einmal zählte er das Verzeichnis seiner Schulden durch und schrieb es dann ab, indem er es in drei Abteilungen zerlegte. In die erste Abteilung kamen die Schulden, die sofort bezahlt werden mußten oder zu deren Bezahlung er in jedem Falle Geld ohne weiteres zur Hand haben mußte, damit im Falle einer Zahlungsforderung keine auch nur einen Augenblick dauernde Verzögerung einträte. Die Schulden dieser Art beliefen sich ungefähr auf viertausend Rubel: tausendfünfhundert Rubel für das Pferd und zweitausendfünfhundert Rubel Bürgschaft für den jungen Kameraden Wenewski, der in Wronskis Gegenwart dieses Geld an einen Falschspieler verloren hatte. Wronski hatte damals diese Summe sofort bezahlen wollen, da er sie gerade bei sich hatte; aber Wenewski und Jaschwin hatten darauf bestanden, sie wollten es baldigst selbst bezahlen, und Wronski, der gar nicht am Spiele teilgenommen hatte, solle das nicht tun. Das war ja sehr schön und edel; aber Wronski wußte, daß er in dieser schmutzigen Sache, obgleich er an ihr nur insofern beteiligt war, als er sich mündlich für Wenewski verbürgt hatte, unbedingt diese zweitausendfünfhundert Rubel haben mußte, um sie dem Gauner hinzuwerfen und weiterer Auseinandersetzungen mit ihm überhoben zu sein. Somit mußte er für diese erste, wichtigste Abteilung viertausend Rubel haben. Die zweite Abteilung, im Betrage von achttausend Rubeln, umfaßte Schul den, die minder wichtig erschienen. Das waren hauptsächlich Schulden an den Rennstall, an den Lieferanten von Hafer und Heu, an den Engländer, an den Sattler und so weiter. Für diese Schulden mußte er gleichfalls ungefähr zweitausend Rubel zur Verfügung haben, um ganz ruhig sein zu können. Die letzte Abteilung, Schulden bei Kaufleuten, in Gaststätten und beim Schneider, verdiente nicht, daß er sich um sie Gedanken machte. Somit brauchte er mindestens sechstausend Rubel für die laufenden Ausgaben; aber er hatte nur eintausendachthundert. Einem Manne mit hunderttausend Rubeln jährlich (denn so hoch wurde Wronskis Einkommen allgemein geschätzt) konnten solche Schulden anscheinend keine Schwierigkeiten bereiten; aber die Sache war die, daß er diese hunderttausend Rubel jährlich bei weitem nicht hatte. Das gewaltige väterliche Vermögen, das allein gegen zweihunderttausend Rubel Jahreseinnahme brachte, war zwischen den beiden Brüdern nicht geteilt worden. Als nun der ältere Bruder, der eine tüchtige Menge Schulden hatte, die Prinzessin Warja Tschirkowa, die ganz vermögenslose Tochter eines Dekabristen, geheiratet hatte, da hatte Alexei ihm die gesamte Einnahme von dem väterlichen Gute überlassen und sich nur fünfundzwanzigtausend Rubel jährlich ausbedungen. Alexei hatte damals zu seinem Bruder gesagt, diese Summe würde für ihn ausreichend sein, solange er sich nicht verheiratete, was aller Wahrscheinlichkeit nach nie geschehen werde. Und sein Bruder, der eines der teuersten Regimenter befehligte und sich soeben verheiratet hatte, war gezwungen gewesen, dieses Geschenk anzunehmen. Die Mutter, die eigenes Vermögen besaß, gab ihrem jüngeren Sohne zu den ausbedungenen fünfundzwanzigtausend Rubeln noch zwanzigtausend jährlich dazu, und Alexei hatte bisher das alles verbraucht. In der letzten Zeit aber hatte seine Mutter, die ihm wegen seiner Beziehungen zu Frau Karenina und wegen seiner Abreise aus Moskau grollte, ihm kein Geld mehr geschickt. Da sich Wronski bereits an eine Lebenshaltung gewöhnt gehabt hatte, bei der er fünfundvierzigtausend Rubel jährlich ausgab, und in diesem Jahre nur fünfundzwanzigtausend Rubel erhielt, so befand er sich jetzt infolgedessen in einer schwierigen Lage. Seine Mutter um Geld zu bitten, um aus dieser Lage herauszukommen, war unmöglich. Ihr letzter Brief, der ihm tags zuvor zugegangen war, hatte ihn gerade dadurch gereizt, daß die Mutter darin andeutete, sie sei gern bereit, ihn durch eine Beihilfe auf dem Wege zu Erfolgen in der Gesellschaft und im Dienste zu fördern, aber nicht, ihm dadurch ein Leben zu ermöglichen, über das die ganze gute Gesellschaft entrüstet sei. Dieser Versuch, ihn zu erkaufen, beleidigte ihn in tiefster Seele und erkältete sein Empfinden gegen die Mutter noch mehr. Das großmütige Zugeständnis aber, das er seinem Bruder gemacht hatte, konnte er nicht gut wieder rückgängig machen, obgleich er jetzt mancherlei Zwischenfälle, die sein Verhältnis zu Frau Karenina zur Folge haben konnte, dunkel vorausahnte und sich sagte, daß jenes großmütige Zugeständnis eine Handlung des Leichtsinns gewesen sei und daß er auch als Unverheirateter sämtliche hunderttausend Rubel Jahreseinnahme möglicherweise nötig haben werde. Aber das Getane wieder rückgängig zu machen, war unmöglich. Er brauchte nur an die Frau seines Bruders zu denken, brauchte nur daran zu denken, wie diese liebe, prächtige Warja bei jeder geeigneten Gelegenheit ihm gegenüber hervorhob, daß sie seiner großmütigen Handlungsweise eingedenk sei und sie zu schätzen wisse, um sich über die Unmöglichkeit klarzuwerden, das einmal Hingegebene wieder zurückzufordern. Das war ebenso unmöglich, wie eine Frau zu schlagen oder zu stehlen oder zu lügen. Es gab nur ein mögliches und darum auch notwendiges Mittel, zu dem sich Wronski denn auch, ohne einen Augenblick zu schwanken, entschloß: von einem Geldverleiher Geld, zehntausend Rubel, zu borgen, was keine Schwierigkeiten haben konnte, seine Ausgaben in jeder Hinsicht einzuschränken und seine Rennpferde zu verkaufen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, schrieb er sofort ein paar Zeilen an Rolandaki, der sich schon mehrmals an ihn mit dem Vorschlage gewendet hatte, er wolle ihm seine Pferde abkaufen. Darauf ließ er den Engländer und einen Geldverleiher zu sich bestellen und teilte das Geld, das er besaß, nach Maßgabe einiger Rechnungen in einzelne Summen. Nachdem er das erledigt hatte, schrieb er seiner Mutter einen kalten, scharfen Antwortbrief. Darauf holte er aus seiner Brieftasche drei Briefe heraus, die ihm Anna geschrieben hatte, las sie noch einmal durch, verbrannte sie und versank bei der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit ihr in ernstes Nachdenken.

20

Wronski fühlte sich in seinem Leben besonders infolge davon glücklich, daß er eine Art Kodex von Grundsätzen besaß, durch den in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise bestimmt wurde, was er tun und nicht tun mußte. Der Kodex dieser Grundsätze umfaßte nur einen sehr kleinen Kreis von Lebensbeziehungen; aber dafür waren auch diese Grundsätze keinem Zweifel unterworfen, und Wronski, der nie aus diesem Kreise hinauskam, hatte bei der Ausführung dessen, was ihm zu tun oblag, nie auch nur einen Augenblick geschwankt. Diese Grundsätze bestimmten gebieterisch: daß man seine Schuld an einen Falschspieler bezahlen müsse, es aber bei einem Schneider nicht zu tun brauche; daß man Männer nicht belügen dürfe, wohl aber Frauen; daß es unzulässig sei, jemanden zu betrügen, zulässig sei der Betrug aber einem Ehemanne gegenüber; daß man Beleidigungen nicht verzeihen dürfe, aber das Recht habe, andere Leute zu beleidigen, und so weiter. Alle diese Grundsätze waren vielleicht unvernünftig und unmoralisch; aber sie standen über allem Zweifel, und bei ihrer Befolgung fühlte Wronski, daß sein Gewissen ruhig war und er mit aufgerichtetem Kopfe einhergehen konnte. Nur in der allerletzten Zeit war in Wronski über seine Beziehungen zu Anna eine Ahnung davon erwacht, daß sein Kodex von Grundsätzen vielleicht nicht alle Lebensbeziehungen vollständig regele, und die Zukunft ließ ihn in der Ferne Schwierigkeiten und Zweifel sehen, für die er in seinem Kodex keine Richtschnur des Handelns fand.

Sein jetziges Verhältnis zu Anna und zu ihrem Manne erschien ihm einfach und klar. Dieses Verhältnis war deutlich und genau in dem Kodex von Grundsätzen geregelt, von dem er sich leiten ließ.

Sie war eine anständige Frau, die ihm ihre Liebe geschenkt hatte, und er liebte sie, und daher war sie für ihn ein Weib, das gleicher oder sogar noch höherer Achtung würdig war als eine rechtmäßige Ehefrau. Er hätte sich eher die Hand abhauen lassen, als daß er sich erlaubt hätte, sie durch ein Wort, durch eine Anspielung zu verletzen oder ihr auch nur das geringste von der Achtung vorzuenthalten, die eine Frau überhaupt nur beanspruchen kann.

Seine Beziehungen zur Gesellschaft waren gleichfalls klar. Alle mochten sein Verhältnis zu Anna kennen oder vermuten, aber niemand durfte wagen, davon zu sprechen. Andernfalls war er bereit, den Betreffenden zum Schweigen zu bringen und die nicht bestehende Ehre der Frau, die er liebte, zu verteidigen.

Am allerklarsten war sein Verhältnis zu dem Gatten. Von dem Augenblick an, da Anna Wronski lieb gewonnen hatte, war er der Überzeugung gewesen, daß er, und nur er, ein unantastbares Recht auf sie besitze. Der Gatte war nur eine überflüssige und störende Persönlichkeit. Zweifellos befand sich dieser in einer kläglichen Lage; aber da war weiter nichts zu machen. Das einzige, wozu dieser Gatte ein Recht hatte, war, mit der Waffe in der Hand Genugtuung zu fordern, und diese zu geben, dazu war Wronski vom ersten Augenblicke an bereit gewesen.

Aber in der letzten Zeit waren neue, innerliche Beziehungen zwischen ihm und ihr zutage getreten, die ihn durch ihre Unklarheit erschreckten. Gestern erst hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie schwanger sei. Und er hatte gefühlt, daß diese Nachricht und das, was Anna von ihm erwartete, eine Handlungsweise verlangten, die nicht vollständig in jenem Kodex von Grundsätzen vorgeschrieben war, von dem er sich im Leben leiten ließ. In der Tat, er war ganz fassungslos gewesen, und im ersten Augenblicke, nachdem sie ihm von ihrem Zustand Mitteilung gemacht, hatte ihm sein Herz eingegeben, von ihr zu verlangen, daß sie ihren Mann verlassen solle. Das hatte er denn auch zu ihr gesagt; aber jetzt, da er darüber nachdachte, erkannte er klar, daß es zweckmäßiger sei, eine solche Trennung von dem Gatten zu vermeiden; aber während er sich dies sagte, fürchtete er zugleich, daß das eine unmoralische Handlung sei.

 

›Wenn ich gesagt habe, sie solle ihren Mann verlassen, so bedeutet das, daß sie mit mir leben soll. Bin ich dazu imstande und bereit? Wie soll ich sie jetzt von hier wegführen, da ich kein Geld habe? Allerdings, das würde ich ja einrichten können ... Aber wie kann ich sie von hier wegführen, da ich im Dienst bin? Indes, da ich es gesagt habe, so muß ich auch bereit sein, es zu tun, das heißt, ich muß Geld beschaffen und den Abschied nehmen‹.

Und er versank in Nachdenken. Die Frage, ob er den Abschied nehmen solle oder nicht, führte ihn auf eine andere, geheime, ihm allein bekannte Aufgabe seines ganzen Lebens, die aber, wiewohl er es vor anderen verbarg, ihm doch fast das Wichtigste von allem war.

Der Ehrgeiz war eine alte Zukunftsphantasie seiner Kindheit und seines Jünglingsalters gewesen, eine Zukunftsphantasie, die er nicht einmal sich selbst eingestand, die aber so stark war, daß sogar jetzt diese Leidenschaft mit seiner Liebe rang. Seine ersten Schritte im gesellschaftlichen Leben und im Dienste waren erfolgreich gewesen; aber vor zwei Jahren hatte er einen groben Fehler begangen: in dem Wunsche, seine Unabhängigkeit zu zeigen und infolgedessen mit besonderer Schnelligkeit vorwärts zu rücken, hatte er eine ihm angebotene Stellung abgelehnt, da er gehofft hatte, diese Ablehnung werde seinen Wert noch größer erscheinen lassen; indessen hatte sich herausgestellt, daß er da denn doch zu kühn gewesen war; man hatte ihn nun da gelassen, wo er war. Und da er nun einmal halb mit Willen, halb wider Willen die Rolle des unabhängigen Mannes für sich geschaffen hatte, so führte er sie auch weiter durch, indem er sich in sehr feiner, kluger Weise so benahm, als ob er auf niemand böse sei, sich von niemand für beleidigt halte und weiter nichts wünsche, als in Ruhe gelassen zu werden, da er sich ganz behaglich fühle. In Wirklichkeit aber hatte er schon im vorigen Jahre, als er nach Moskau reiste, aufgehört, sich behaglich zu fühlen. Er fühlte, daß man diese unabhängige Stellung eines Mannes, der sich benehme, als könne er alles vollbringen und erreichen und wolle es nur nicht, schon mit eigentümlichen Blicken zu betrachten anfing, daß viele zu denken begannen, sein Können reiche wohl nicht weiter als dazu, ein ehrlicher, braver Kerl zu sein. Sein Verhältnis zu Frau Karenina, das so viel Lärm machte und die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, hatte durch den neuen Glanz, den es ihm verlieh, den an ihm nagenden Wurm des Ehrgeizes für einige Zeit beruhigt; aber vor einer Woche war dieser Wurm mit neuer Kraft erwacht. Sein Spielkamerad aus der Kinderzeit, Serpuchowskoi, der demselben Gesellschaftskreise angehörte wie er, sein Mitschüler im Pagenkorps gewesen war, mit ihm zu gleicher Zeit abgegangen war und mit dem er in der Klasse und im Turnen und bei mutwilligen Streichen und in ehrgeizigen Träumereien gewetteifert hatte, der war dieser Tage aus Mittelasien zurückgekehrt, nachdem er dort um zwei Stellen aufgerückt war und eine Ordensauszeichnung erhalten hatte, wie sie so jungen Generalen selten verliehen wird.

Sobald er nach Petersburg gekommen war, begann man von ihm wie von einem neu aufsteigenden Sterne erster Größe zu sprechen. Ein Altersgenosse und Schulkamerad Wronskis, war er doch schon General und sah der Ernennung auf einen Posten entgegen, wo er Einfluß auf den Gang der Staatsangelegenheiten haben konnte; Wronski dagegen war zwar ein unabhängiger, vielbewunderter, von einem reizenden Weibe geliebter Mann, aber doch immer nur ein Rittmeister, dem man es überließ, unabhängig zu sein, soviel ihm nur irgend beliebte. ›Selbstverständlich beneide ich Serpuchowskoi nicht und habe keinen Anlaß, ihn zu beneiden; aber seine Beförderung ist mir ein Beweis, daß man nur den richtigen Zeitpunkt abzuwarten braucht, dann kann ein Mann wie ich schnell vorwärtskommen. Vor drei Jahren war er noch in derselben Stellung wie ich. Nehme ich den Abschied, so verbrenne ich meine Schiffe hinter mir. Bleibe ich im Dienst, so verliere ich nichts. Sie hat selbst gesagt, daß sie ihre Lage nicht zu verändern wünscht. Und im Besitze ihrer Liebe kann ich. Serpuchowskoi nicht beneiden.‹ Und mit langsamen Bewegungen seinen Schnurrbart drehend, stand er vom Tische auf und ging im Zimmer auf und ab. Seine Augen glänzten besonders hell, und er fühlte sich in jener festen, ruhigen, frohen Gemütsstimmung, die sich bei ihm immer einstellte, wenn er über seine Lage zur Klarheit gelangt war. Alles war, ganz wie bei früheren Rechnungsabschlüssen, reinlich und klar. Er rasierte sich, nahm ein kaltes Wannenbad, zog sich an und verließ das Haus.