Anna Karenina | Krieg und Frieden

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6

Die Maschkin-Höhe war gemäht, die letzten Reihen fertiggebracht; die Mäher zogen ihre Röcke an und machten sich fröhlich auf den Heimweg. Ljewin setzte sich auf sein Pferd, nahm mit Bedauern von den Bauern Abschied und ritt nach Hause. Vom Berge aus sah er sich noch einmal um: die Leute waren in dem Nebel, der sich aus der Niederung erhob, nicht mehr zu sehen; er hörte nur ihre munteren, derben Stimmen, ihr Lachen und den Klang der aneinanderstoßenden Sensen.

Sergei Iwanowitsch hatte schon längst seine Mittagsmahlzeit beendet, trank auf seinem Zimmer Zitronenlimonade mit Eis und sah dabei die soeben von der Post gekommenen Zeitungen und Zeitschriften durch, als Ljewin zu ihm hereingestürzt kam. Aber wie sah Ljewin aus: die wirren Haare klebten ihm, feucht von Schweiß, an der Stirn; auch die Kleidung an Rücken und Brust war von Schweiß naß und dunkel. Sehr vergnügt rief er seinem Bruder zu:

»Wir haben die ganze Wiese fertigbekommen! Ach, wie schön war das, ganz wundervoll! Und wie hast du den Tag verlebt?« Das gestrige unangenehme Gespräch hatte Ljewin vollständig vergessen.

»Um des Himmels willen, wie siehst du aus!« rief Sergei Iwanowitsch und betrachtete im ersten Augenblick seinen Bruder mit lebhafter Mißbilligung. »Und die Tür, die Tür! Mach doch die Tür zu!« schrie er. »Du hast sicher ein ganzes Dutzend hereingelassen.«

Sergei Iwanowitsch konnte die Fliegen nicht ausstehen; daher öffnete er in seinem Zimmer die Fenster nur des Nachts und hielt die Türen immer sorgsam geschlossen.

»Gott bewahre! Nicht eine einzige! Und wenn ich wirklich welche hereingelassen haben sollte, so werde ich sie dir wieder wegfangen. Du glaubst gar nicht, was das für ein Genuß war! Na, und du, wie hast du denn den Tag verbracht?«

»Oh, ganz gut. Aber hast du wirklich den ganzen Tag gemäht? Ich denke mir, du wirst hungrig sein wie ein Wolf. Dein Kusma hat alles für dich bereitgestellt.«

»Nein, ich habe überhaupt keine Lust zu essen. Ich habe schon da draußen gegessen. Aber ich will gehen und mich waschen.«

»Na, dann geh nur, geh nur; ich werde auch gleich zu dir ins Eßzimmer kommen«, sagte Sergei Iwanowitsch und sah seinen Bruder kopfschüttelnd an. »Geh doch, mach schnell!« fügte er lächelnd hinzu, packte seine Drucksachen zusammen und schickte sich auch seinerseits an, hinauszugehen. Er war selbst auf einmal so vergnügt geworden und mochte sich gar nicht von seinem Bruder trennen. »Aber wo bist du denn während des Regens gewesen?«

»Ach, das war ja eigentlich gar kein Regen! Kaum getröpfelt hat es. Also ich komme sofort. Also du hast den Tag angenehm verbracht? Na, das ist ja prächtig!« Und Ljewin ging fort, um sich umzukleiden.

Fünf Minuten darauf fanden sich die Brüder im Eßzimmer wieder zusammen. Ljewin glaubte zwar gar keinen Appetit zu haben und setzte sich nur, um Kusma nicht zu kränken, an den gedeckten Tisch; aber sobald er zu essen anfing, kamen ihm die Speisen ungewöhnlich schmackhaft vor. Sergei Iwanowitsch sah ihm lächelnd zu.

»Ach ja, es ist auch ein Brief für dich da«, sagte er. »Kusma, bitte, hole ihn doch von unten herauf! Aber vergiß nicht, die Tür ordentlich zuzumachen.«

Der Brief war von Oblonski. Ljewin las ihn laut vor. Oblonski schrieb aus Petersburg: »Ich habe einen Brief von Dolly erhalten; sie ist in Jerguschow und kann da gar nicht zurechtkommen. Bitte, fahre doch einmal zu ihr hin und unterstütze sie mit deinem Rate; du weißt ja mit all solchen Sachen Bescheid. Sie wird sich außerordentlich freuen, dich wiederzusehen. Sie ist da ganz allein, die Ärmste. Meine Schwiegermutter ist mit der übrigen Familie immer noch im Auslande.«

»Das ist ja ausgezeichnet! Ich will auf jeden Fall zu ihr hinüberfahren«, sagte Ljewin. »Oder wir könnten auch beide zusammen hinfahren. Sie ist eine ganz prächtige Frau. Nicht wahr?«

»Sie wohnt wohl nicht weit von hier?«

»Etwa dreißig Werst. Es mögen auch vierzig sein. Aber ausgezeichneter Weg. Wir werden sehr gut fahren.«

»Ich werde mit großem Vergnügen mitkommen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, noch immer lächelnd.

Der Anblick seines jüngeren Bruders versetzte ihn unwillkürlich in eine heitere Stimmung.

»Na, an Appetit fehlt es dir ja nicht!« bemerkte er, während er sein über den Teller gebeugtes braunrot gebranntes Gesicht und den gleichfarbigen Hals betrachtete.

»Es schmeckt mir vorzüglich! Du glaubst gar nicht, welch ein nützliches Gegenmittel gegen alle möglichen Torheiten eine derartige Lebensweise ist. Ich möchte die ärztliche Wissenschaft mit einem neuen terminus technicus bereichern: Arbeitskur.«

»Na, du hast eine solche Kur ja doch wohl nicht nötig.«

»Nein, aber bei allerlei Nervenleiden würde sie gute Dienste tun.«

»Ja, das müßte man praktisch erproben. Ich wollte eigentlich auch zum Mähen nach der Wiese kommen, um dir zuzusehen; aber die Hitze war so unerträglich, daß ich nicht weiter als bis zum Walde gekommen bin. Da habe ich ein Weilchen gesessen und bin dann durch den Wald nach dem Dorfe gegangen; dort traf ich deine alte Amme und sondierte bei ihr ein bißchen über die Ansichten, die die Bauern über dich haben. Soviel ich habe merken können, findet dein Treiben nicht den Beifall der Bauern. Sie sagte: ›Das ist keine Arbeit für einen Herrn.‹ Überhaupt scheint mir, daß in der Auffassung der Bauern die Merkmale der Tätigkeit, die nach ihrer Meinung den Herren zukommt, sehr genau festgestellt sind. Und sie wollen nichts davon wissen, daß die Herren die Grenzen überschreiten, die sie ihnen mit ihrem Begriffsvermögen gesetzt haben.«

»Das mag ja sein; aber ich habe von dieser Arbeit einen solchen Genuß, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet habe. Und es ist ja doch nichts Böses dabei, nicht wahr?« versetzte Ljewin. »Wenn es ihnen nicht gefällt, kann ich ihnen nicht helfen. Übrigens glaube ich, daß es mit dieser Unzufriedenheit nicht gar so schlimm ist. Wie?«

»Du bist«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »wie ich sehe, überhaupt mit diesem Tage zufrieden.«

»Sehr zufrieden. Wir haben die ganze Wiese abgemäht. Und mit einem ganz prächtigen alten Manne habe ich mich da angefreundet! Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie nett und interessant das war.«

»Na also, du bist mit deinem heutigen Tagewerk zufrieden. Und ich desgleichen mit dem meinigen. Erstens habe ich zwei Schachaufgaben gelöst, und eine davon war recht hübsch: es wird zuerst ein Bauer gezogen. Ich werde es dir noch zeigen. Und dann habe ich über unser gestriges Gespräch nachgedacht.«

»Worüber? Über unser gestriges Gespräch?« fragte Ljewin. Er kniff nach beendeter Mahlzeit glückselig die Augen zusammen und stöhnte wohlig, vermochte sich aber schlechterdings nicht zu besinnen, was das gestern für ein Gespräch gewesen sein sollte.

»Ich finde, daß du teilweise recht hast. Unsere Meinungsverschiedenheit besteht darin, daß du das persönliche Interesse als die treibende Kraft hinstellst, ich dagegen der Ansicht bin, daß jeder Mensch, der auf einer gewissen Bildungsstufe steht, Interesse für das Gemeinwohl haben muß. Vielleicht hast du darin recht, daß eine durch ein materielles Interesse hervorgerufene Tätigkeit wünschenswerter wäre. Im allgemeinen aber bist du deinem ganzen Wesen nach zu sehr prime-sautier, wie die Franzosen sagen: du willst eine leidenschaftliche, kraftvolle Tätigkeit oder gar keine.«

Ljewin hörte seinem Bruder zu, verstand aber gar nichts und wollte auch nichts verstehen. Er fürchtete nur, der Bruder könnte eine Frage an ihn richten, bei der sich dann herausstellen würde, daß er gar nicht aufgepaßt habe.

»Ja, so ist das, mein lieber Konstantin«, sagte Sergei Iwanowitsch und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ja, gewiß, selbstverständlich. Ich bin ja nicht auf meine Ansicht versessen«, antwortete Ljewin mit dem Lächeln eines schuldbewußten Kindes. ›Worüber hatten wir eigentlich miteinander gestritten?‹ dachte er. ›Natürlich, ich habe recht, und er hat auch recht, und alles ist in schönster Ordnung.‹ Und laut fuhr er fort: »Ich muß nur noch ins Kontor gehen und allerlei anordnen.« Er stand auf, reckte sich und lächelte.

Sergei Iwanowitsch lächelte gleichfalls.

»Wenn du noch ein bißchen spazierengehen willst, so können wir ja zusammen gehn«, sagte er; denn das Zusammensein mit seinem Bruder, von dem ordentlich ein Hauch von Frische und Tatkraft ausging, machte ihm wirklich Freude. »Komm; wir können ja auch noch zum Kontor gehen, wenn du dahin mußt.«

»Ach, Herrgott!« rief Ljewin so laut, daß Sergei Iwanowitsch erschrocken zusammenfuhr.

»Was hast du, was hast du denn?«

»Was macht denn Agafja Michailownas Hand?« fragte Ljewin und schlug sich gegen die Stirn. »Die hatte ich ja ganz und gar vergessen!«

»Sie ist bedeutend besser.«

»Na, ich will aber doch einmal zu ihr hinlaufen. Ehe du unten deinen Hut aufgesetzt hast, bin ich wieder da.«

Seine Stiefelabsätze schlugen, als er die Treppe hinunterstürmte, so schnell an die Stufen, daß es wie eine Klapper klang.

7

Während Stepan Arkadjewitsch nach Petersburg gereist war, um eine ganz selbstverständliche, allen Beamten bekannte, wiewohl den Nichtbeamten unverständliche, unerläßliche Pflicht zu erfüllen, ohne deren Erfüllung man überhaupt nicht Beamter sein kann – nämlich sich im Ministerium in Erinnerung zu bringen –, und während er zur Erfüllung dieser Pflicht fast alles im Hause vorhandene Geld mitgenommen hatte und die Zeit lustig und vergnügt bei Pferderennen und mit Besuchen in den Landhäusern verbrachte: unterdessen war Dolly mit den Kindern aufs Land übergesiedelt, um die Ausgaben nach Möglichkeit zu verringern. Sie war nach dem Gute Jerguschowo gezogen, das sie bei ihrer Verheiratung als Mitgift bekommen hatte, nach ebendem Gute, wo im Frühjahr der Wald verkauft worden war; es lag von Ljewins Gut Pokrowskoje ungefähr fünfzig Werst entfernt.

 

In Jerguschowo war das große alte Herrenhaus schon seit langer Zeit völlig verfallen, und schon Dollys Vater hatte zum Ersatz ein Nebengebäude vergrößern und einrichten lassen. Dieses Nebengebäude war vor zwanzig Jahren, als Dolly noch ein Kind war, für die Familie geräumig genug und ganz behaglich gewesen, wenn es auch wie alle Nebengebäude der Anfahrtsallee und dem Süden seine Flanke zukehrte. Aber jetzt war dieses Nebengebäude alt und muffig. Schon als Stepan Arkadjewitsch im Frühjahr wegen des Waldverkaufs nach dem Gute gefahren war, hatte ihn Dolly gebeten, das Haus nachzusehen und die erforderlichen Ausbesserungen anzuordnen. Stepan Arkadjewitsch, der, wie alle schuldbewußten Ehemänner, sehr um die Bequemlichkeit seiner Frau besorgt war, hatte das Haus selbst besichtigt und alles, was nach seiner Ansicht nötig war, angeordnet. Nach seiner Auffassung mußten die sämtlichen Möbel mit Kretonne überzogen, Gardinen aufgehängt, der Garten gesäubert, Blumen darin gepflanzt und über den Teich eine kleine Brücke gebaut werden; aber er vergaß viele andere notwendige Dinge, deren Mangel Darja Alexandrowna nachher sehr schmerzlich empfand.

Obgleich sich Stepan Arkadjewitsch die größte Mühe gab, ein sorglicher Vater und Gatte zu sein, so vermochte er doch schlechterdings nicht den Gedanken festzuhalten, daß er eine Frau und Kinder habe. Er hatte die Neigungen eines Junggesellen und richtete sich in seinem ganzen Tun nur nach diesen. Nach Moskau zurückgekehrt, erklärte er seiner Frau voll Stolz, alle Vorbereitungen seien getroffen, das Haus werde wie ein Putzkästchen aussehen, und er rate ihr dringend, dorthin überzusiedeln. Daß seine Frau aufs Land zog, war für Stepan Arkadjewitsch in vieler Hinsicht sehr angenehm und erwünscht: für die Kinder war es gesund, die Ausgaben wurden dadurch geringer, und er selbst fühlte sich dann freier. Darja Alexandrowna ihrerseits war der Ansicht, daß ein Sommeraufenthalt auf dem Lande für die Kinder geradezu notwendig sei, namentlich für das kleine Mädchen, das nach dem Scharlachfieber noch gar nicht wieder zurechtkommen wollte; auch freute sie sich darauf, von all den kleinen Demütigungen erlöst zu werden, den kleinen Schulden beim Holzhändler, beim Fischhändler, beim Schuhmacher; denn diese Schulden waren ihr eine Pein. Außerdem war ihr die Reise aufs Land noch deshalb erwünscht, weil sie ihre Schwester Kitty zu bewegen hoffte, zu ihr aufs Land zu kommen; diese sollte um die Mitte des Sommers aus dem Auslande zurückkehren, und es waren ihr kalte Bäder verordnet worden. Kitty schrieb aus dem Badeorte, nichts könne ihr reizvoller erscheinen, als den Sommer mit Dolly zusammen in Jerguschowo zu verleben, wo alles für sie beide voll von Kindheitserinnerungen sei.

Zuerst hatte Dolly auf dem Lande eine recht schwere Zeit durchzumachen. Sie hatte als Kind auf dem Lande gelebt und sich aus jener Zeit die Vorstellung bewahrt, daß das Leben auf dem Lande eine Erlösung von allen städtischen Unannehmlichkeiten bedeute, daß das Leben dort, wenn auch nicht unterhaltsam (darüber tröstete sich Dolly leicht), so doch dafür billig und bequem sei: man habe da alles, es sei alles billig, alles könne man sich verschaffen, und es tue den Kindern gut. Aber jetzt, wo sie als Hausfrau auf das Land kam, sah sie, daß die Dinge ganz anders lagen, als sie gedacht hatte.

Am Tage nach ihrer Ankunft kam ein gehöriger Platzregen, und in der Nacht kam das Wasser auf dem Vorflur und im Kinderzimmer durch die Decke, so daß die Bettchen in die Wohnstube hinübergetragen werden mußten. Eine Gesindeköchin war nicht vorhanden; von den neun Kühen waren nach Aussage der Viehmagd einige noch Färsen, andere waren mit dem ersten Kalbe trächtig, wieder andere waren schon zu alt oder auch harteutrig. Weder Butter noch Milch war in genügender Menge vorhanden, nicht einmal für die Kinder. Eier gab es nicht. Eine Henne war nirgends zu bekommen; zum Braten und Kochen wurden alte, zähe Hähne mit violettem Fleisch verwendet. Weiber zum Scheuern waren nicht zu haben; sie hatten alle auf den Kartoffelfeldern zu tun. Spazierenzufahren war unmöglich, weil das Deichselpferd stätisch war und in der Gabeldeichsel ausschlug. Auch zum Baden war nirgends eine Möglichkeit; das ganze Ufer des Flusses war vom Vieh zerstampft und lag nach der Landstraße hin frei da. Man konnte nicht einmal im Garten spazierengehen, weil das Vieh durch den zerbrochenen Zaun in den Garten hineinkam, darunter auch ein furchtbarer Stier, der entsetzlich brüllte und von dem man sich daher wohl auch versehen konnte, daß er stieß. Ordentliche Kleiderschränke gab es nicht; die, die da waren, ließen sich nicht zumachen und öffneten sich von selbst, wenn jemand an ihnen vorbeiging. Es mangelte an eisernen und irdenen Kochtöpfen; desgleichen fehlte ein Waschkessel; und in der Mädchenstube fand sich nicht einmal ein Plättbrett.

Als Darja Alexandrowna in dieses von ihrem Standpunkte aus furchtbare Elend hineingeraten war, befand sie sich in der ersten Zeit, statt Ruhe und Erholung zu finden, geradezu in Verzweiflung: sie quälte und plackte sich, soweit ihre Kraft nur irgend reichte; sie fühlte, daß es aus dieser Lage keine Rettung gab, und mußte fortwährend die Tränen zurückdrängen, die ihr in die Augen traten. Der Verwalter, ein ehemaliger Wachtmeister, an dem Stepan Arkadjewitsch wegen seines hübschen Äußeren und seines achtungsvollen Benehmens Gefallen gefunden und den er deshalb vom Pförtner zum Verwalter befördert hatte, zeigte für Darja Alexandrownas Nöte keinerlei Teilnahme; er sagte nur achtungsvoll: »Es ist nichts zu machen; die Leute sind gar zu unbrauchbar«, und leistete ihr nicht die geringste Hilfe.

Die Lage schien hoffnungslos. Aber es gab im Oblonskischen Hause wie in vielen Familien eine wenig hervortretende und doch sehr wichtige und nützliche Persönlichkeit; und das war hier Matrona Filimonowna. Sie beruhigte ihre Herrin, versicherte ihr, es werde sich alles schon wieder »einrenken« (das war ein Lieblingsausdruck bei ihr, und von ihr hatte ihn Matwei erst übernommen), und griff selbst ohne Hast und Aufregung wacker mit zu.

Sie hatte sich sofort an die Frau des Verwalters herangemacht und gleich am ersten Tage mit ihr und dem Verwalter unter den Akazien Tee getrunken und alle möglichen Wirtschaftsangelegenheiten durchgesprochen. Bald bildete sich unter den Akazien ein von Matrona Filimonowna geleiteter Klub, und durch diesen Klub, dessen Mitglieder die Frau des Verwalters, der Dorfschulze und der Gutsschreiber waren, wurden allmählich die Schwierigkeiten des Daseins behoben, und nach einer Woche hatte sich tatsächlich alles »eingerenkt«. Das Dach war ausgebessert, eine Gevatterin des Dorfschulzen als Köchin angenommen; Hühner waren gekauft; die Kühe hatten angefangen Milch zu geben; die Lücken des Gartenzaunes waren durch Stangen geschlossen; der Zimmermann hatte eine Wäschemangel angefertigt; an den Schränken waren Vorlegehaken angebracht, so daß sie sich nicht mehr von selbst öffneten, und ein Plättbrett, mit Zeug von einem Soldatenmantel bezogen, ruhte nun mit dem einen Ende auf einer Stuhllehne, mit dem andern auf einer Kommode, und in der Mädchenstube hatte es angefangen, nach heißen Plätteisen zu riechen.

»Na, sehen Sie wohl? Und Sie waren schon ganz in Verzweiflung«, sagte Matrona Filimonowna, stolz auf das Plättbrett weisend.

Sogar ein Badehäuschen wurde aus Rahmen mit Strohmatten erbaut. Lilly begann zu baden, und Darja Alexandrownas Hoffnung auf ein wenn auch nicht ruhiges, so doch bequemes Leben auf dem Lande ging nun wenigstens teilweise in Erfüllung. Ruhig, wirklich ruhig konnte Darja Alexandrowna mit ihren sechs Kindern überhaupt nicht sein. Das eine wurde krank; ein anderes konnte krank werden; einem dritten fehlte irgend etwas an der Kleidung; ein viertes zeigte Anzeichen eines schlechten Charakters, und so weiter. Zeiten der Ruhe kamen nur äußerst selten vor und waren immer nur von ganz kurzer Dauer. Aber diese Geschäftigkeit und Unruhe bildete für Darja Alexandrowna das einzige mögliche Glück. Wäre ihr Geist nicht in dieser Weise beschäftigt gewesen, so hätte sie nichts weiter gehabt als ihre Gedanken an den Gatten, der sie nicht liebte. Und dazu kam noch dies: wie schwer auch die Befürchtung möglicher Krankheiten, die Krankheiten selbst und der Kummer bei der Wahrnehmung von Anzeichen übler Neigungen der Kinder auf der Mutter lasteten, so vergalten ihr doch schon jetzt die Kinder selbst alle ihre Bekümmernisse durch kleine Freuden. Diese Freuden waren so klein, daß sie leicht unbeachtet blieben wie Goldkörner im Sande, und in schlimmen Augenblicken sah die Mutter nur die Bekümmernisse, den Sand; aber es gab auch gute Augenblicke, in denen sie nur die Freuden sah, nur das Gold.

Jetzt, in der Einsamkeit des Lebens auf dem Lande wurde sie sich dieser Freuden immer öfter und öfter bewußt. Oft, wenn sie ihre Kinder ansah, machte sie alle möglichen Anstrengungen, um sich selbst zu der Überzeugung zu bringen, daß sie sich irre und nach Mutterart von ihren Kindern zu sehr eingenommen sei; aber trotzdem konnte sie nicht umhin, sich zu sagen, daß ihre Kinder doch ganz prächtige Kinder seien, alle sechs, jedes auf andere Art, aber sämtlich Kinder, wie man sie selten findet – und sie war glücklich über sie und stolz auf sie.

8

Ende Mai, als alles schon mehr oder weniger in Ordnung gekommen war, erhielt Darja Alexandrowna von ihrem Manne eine Antwort auf ihre Klagen über die auf dem Gute vorgefundenen Übelstände. Er bat sie in dem Briefe um Verzeihung, daß er nicht alles bedacht habe, und versprach, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten werde, selbst zu kommen. Aber eine solche Möglichkeit bot sich nicht, und so war sie bis Anfang Juni allein auf dem Gute.

In den Petri-Fasten, an einem Sonntage, fuhr Darja Alexandrowna zur Messe, um mit allen ihren Kindern das Abendmahl zu nehmen. Sie hatte früher in vertraulichen philosophischen Gesprächen mit der Mutter, der zweiten Schwester und Freundinnen diese sehr oft durch den freigeistigen Standpunkt, den sie der Religion gegenüber einnahm, in Erstaunen versetzt. Sie hatte eine eigene, sonderbare Religion für sich und glaubte namentlich ganz fest an eine Seelenwanderung, während sie sich um die Dogmen der Kirche wenig kümmerte. Aber in ihrer eigenen Familie erfüllte sie (und zwar nicht etwa nur, um damit ein Beispiel zu geben, sondern von ganzem Herzen) streng alle Forderungen der Kirche, und der Umstand, daß ihre Kinder ungefähr seit einem Jahr nicht zum Abendmahl gegangen waren, beunruhigte sie sehr, und mit Matrona Filimonownas vollster Zustimmung und Billigung beschloß sie, dies jetzt im Sommer mit den Kindern zu tun.

Darja Alexandrowna überlegte mehrere Tage vorher, was sie allen Kindern anziehen solle. Es wurden Kleider angefertigt, umgeändert und gewaschen, Säume und Stufen ausgelassen, Knöpfe angenäht und Bänder zurechtgemacht. Über Tanjas Kleid, das die Engländerin zu schneidern übernommen hatte, mußte Darja Alexandrowna sich furchtbar ärgern. Die Engländerin hatte beim Umändern die Abnäher an falscher Stelle angebracht, die Armlöcher zu weit ausgeschnitten und das Kleid beinahe vollständig verdorben. Das Kleid saß dem Kinde so schlecht in den Achseln, daß es einem weh tat, wenn man es nur ansah. Aber Matrona Filimonowna kam auf den guten Gedanken, es sollten Keile eingesetzt und dann ein kleiner Überwurf angefertigt werden. Die Sache wurde auf diese Weise in Ordnung gebracht; aber mit der Engländerin hätte es beinahe einen bösen Zank gegeben. Jedoch am Sonntagmorgen war alles fertig und bereit, und um neun Uhr (Darja Alexandrowna hatte den Geistlichen gebeten, mit der Messe bis zu diesem Zeitpunkte zu warten) standen die Kinder, vor Freude strahlend, in ihrem Staate vor der Haustür beim Wagen und warteten auf ihre Mutter.

Vor den Wagen war statt des störrischen »Raben« dank der Fürsprache Matrona Filimonownas der Braune des Verwalters gespannt, und Darja Alexandrowna, die sich mit der Sorge um ihre Kleidung etwas länger aufgehalten hatte, kam nun in einem weißen Musselinkleide heraus und stieg in den Wagen.

Darja Alexandrowna hatte sich mit großer Sorgfalt und nicht ohne innere Erregung frisiert und angekleidet. Früher hatte sie sich um ihrer selbst willen geputzt, um hübsch auszusehen und zu gefallen, aber dann war es ihr, je älter sie wurde, immer unangenehmer geworden, sich zu putzen, weil sie sah, wie unschön sie geworden war. Jetzt indessen hatte sie sich wieder einmal mit Vergnügen und mit einer Art von Aufregung geputzt. Jetzt hatte sie sich nicht um ihrer selbst willen, nicht um schön auszusehen, geputzt, sondern um nicht als Mutter dieser reizenden Kinder den Gesamteindruck zu verderben. Und als sie zum letzten Male in den Spiegel geblickt hatte, war sie mit sich zufrieden gewesen. Sie sah gut aus, nicht in der Weise gut, wie sie früher auf Bällen gut auszusehen gewünscht hatte, aber gut für den Zweck, den sie jetzt im Auge hatte.

 

In der Kirche war niemand außer einigen Bauern und Gutsknechten mit ihren Weibern. Aber Darja Alexandrowna sah oder glaubte wenigstens zu sehen, daß sie und ihre Kinder das Entzücken aller Anwesenden hervorriefen. Die Kinder waren nicht nur äußerlich schön in ihren festlichen Kleidern, sondern auch ihr artiges Benehmen machte einen sehr hübschen Eindruck. Alexei stand allerdings nicht ganz untadelig da; er drehte sich fortwährend um und wollte sein Jäckchen von hinten sehen; aber er war trotzdem ganz allerliebst. Tanja stand da wie eine Erwachsene und gab auf die Kleinen acht. Aber die Kleinste, Lilly, war geradezu entzückend in ihrem kindlichen Staunen über alles, und es war schwer, ein Lächeln zu unterdrücken, als sie nach Empfang des Abendmahls sagte: »Please, some more.«

Bei der Heimfahrt hatten die Kinder das Gefühl, daß etwas Feierliches vor sich gegangen sei, und verhielten sich sehr ruhig und artig.

Auch zu Hause ging zunächst alles gut. Aber beim Frühstück fing Grigori an zu pfeifen, und was das Schlimmste war, er gehorchte der Engländerin nicht; diese teilte ihm daher nichts von der süßen Pastete zu. Darja Alexandrowna hätte es an einem solchen Tage nicht bis zu einer Bestrafung kommen lassen, wenn sie zugegen gewesen wäre; aber sie mußte die Anordnung der Engländerin aufrechterhalten, und so bestätigte sie denn deren Urteil, daß Grigori keine Pastete bekommen solle. Dies brachte in die allgemeine Freude eine kleine Störung.

Grigori weinte und sagte, Nikolai habe auch gepfiffen, und der werde nicht bestraft; und er weinte nicht um die Pastete, das sei ihm ganz egal, sondern weil sie ungerecht gegen ihn seien. Das war nun doch gar zu traurig, und Darja Alexandrowna beschloß, mit der Engländerin über den Fall Rücksprache zu nehmen und dann dem kleinen Grigori zu verzeihen. Sie wollte sich daher zu ihr begeben; aber als sie dabei durch den Saal ging, erblickte sie eine Szene, die ihr Herz mit solcher Freude erfüllte, daß ihr die Tränen in die Augen traten und sie dem Übeltäter ohne weiteres selbst verzieh.

Der Bestrafte saß im Saale auf dem Fensterbrett des Eckfensters; vor ihm stand Tanja mit einem Teller. Unter dem Vorwande, daß sie gern ihren Puppen etwas zu essen bringen möchte, hatte sie sich von der Engländerin die Erlaubnis erbeten, ihre Pastete nach dem Kinderzimmer zu tragen, und hatte sie statt dessen ihrem Bruder gebracht. Während er fortfuhr, über die Ungerechtigkeit der erlittenen Strafe zu weinen, aß er von der Pastete, die ihm Tanja gebracht hatte, und sagte unter Schluchzen: »Iß du auch mit; wir wollen zusammen essen ... beide zusammen.«

Auf Tanja wirkte zunächst das Mitleid mit Grigori, dann auch das Bewußtsein ihrer tugendhaften Tat; beides trieb auch ihr die Tränen in die Augen; aber sie aß, ohne sich zu weigern, ihren Teil.

Beim Anblick der Mutter erschraken sie; aber als sie ihr ins Gesicht sahen, merkten sie, daß ihr Tun günstig aufgefaßt werde, fingen an zu lachen, wischten sich, den Mund noch immer voll Pastete, die lächelnden Lippen mit den Händen ab und beschmierten dabei ihre strahlenden Gesichter über und über mit Tränen und Eingemachtem.

»Um Gottes willen! Das neue weiße Kleid! Tanja! Grigori!« rief die Mutter, bemüht, das Kleid zu retten; aber sie lächelte glückselig und entzückt mit Tränen in den Augen.

Sie ließ den Kindern die neuen Kleider ausziehen, den Mädchen Blusen, den Knaben alte Jäckchen anziehen und den Wagen anspannen (und zwar zum Verdruß des Verwalters wieder mit dem Braunen in der Gabeldeichsel), um mit den Kindern zum Pilzesuchen und nach dem Badehäuschen zu fahren. Ein kreischendes Jubelgeschrei erhob sich im Kinderzimmer und dauerte bis zur Abfahrt fort.

Es wurde ein ganzer Korb voll Pilze gesammelt; sogar Lilly fand einen Birkenpilz. Früher pflegte es dabei so zuzugehen, daß Miß Hull einen Pilz fand und ihn ihr dann zeigte; aber jetzt hatte sie selbst einen großen Birkenpilz gefunden, und es gab ein allgemeines Jubelgeschrei: »Lilly hat einen Birkenpilz gefunden.«

Dann fuhren sie zum Flusse; die Pferde wurden unter die Birken gestellt, und man ging in das Badehäuschen. Der Kutscher Terenti band die Pferde, die sich mit den Schweifen die Bremsen davonscheuchten, an einen Baum, legte sich, das hohe Gras plattdrückend, im Schatten einer Birke nieder und rauchte seinen Bauerntabak; das fröhliche Kreischen der Kinder tönte aus dem Badehäuschen, ohne auch nur einen Augenblick zu verstummen, zu ihm herüber.

Obgleich es viel Mühe machte, alle Kinder zu beaufsichtigen und ihren Mutwillen zu zügeln, und obgleich es eine schwere Aufgabe war, alle diese zu den verschiedenen Beinen gehörigen Strümpfchen, Höschen und Schuhchen im Kopf zu behalten und nicht zu verwechseln, alle die Bändchen und Knöpfchen aufzubinden und aufzuknöpfen, so war doch für Darja Alexandrowna, die selbst immer gern gebadet hatte und es für sehr zuträglich für die Kinder hielt, nichts ein so großer Genuß wie dieses Baden mit allen Kindern zusammen. Alle diese dicken Beinchen anzufassen, indem sie ihnen die Strümpfe auszog, diese nackten Körperchen auf die Arme zu nehmen und ins Wasser zu tauchen und ihr bald fröhliches, bald erschrockenes Kreischen zu hören und diese atemlosen Gesichter mit den weit offenen, ängstlichen, lustigen Augen und alle ihre munter umherspritzenden kleinen Engelchen zu sehen, das war für sie der größte Genuß.

Als schon die Hälfte der Kinder wieder angekleidet war, kamen einige Bauernweiber in ihrem Sonntagsstaat, die ausgegangen waren, um Bärenklau und Bibernell zu suchen, zu dem Badehäuschen und blieben schüchtern an der Tür stehen. Matrona Filimonowna hatte eine von ihnen herbeigerufen, um ihr ein Laken und ein Hemdchen, die ins Wasser gefallen waren, zum Trocknen zu geben, und Darja Alexandrowna ließ sich nun mit den Weibern in ein Gespräch ein. Die Weiber, die anfangs die Fragen nicht verstanden und in die vor den Mund gehaltene Hand hineinlachten, wurden bald dreister und fingen an zu reden; von vornherein gewannen sie Darja Alexandrownas Gunst dadurch, daß sie ihr aufrichtiges Entzücken über die Kinder aussprachen.

»Sieh mal, du nettes Mädel, du bist ja weiß wie Zucker«, sagte die eine, indem sie Tanja bewundernd betrachtete und den Kopf hin und her wiegte. »Aber mager, mager ...«

»Ja, sie ist krank gewesen.«

»Na so was, das Würmchen haben sie auch gebadet«, sagte eine andere mit Bezug auf den Säugling.

»Nein, die ist nicht mit gebadet; sie ist erst drei Monate alt«, antwortete Darja Alexandrowna stolz.

»Ei, sieh mal an!«

»Hast du auch Kinder?«

»Ich habe vier gehabt; zwei sind mir davon am Leben geblieben, ein Knabe und ein Mädchen. Vor den Fasten habe ich das Mädchen entwöhnt.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Im zweiten Jahr.«

»Warum hast du sie denn so lange genährt?«

»Das ist bei uns so üblich: drei Fastenzeiten ...«