Anna Karenina | Krieg und Frieden

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30

Wie an allen Orten, wo Menschen einigermaßen zahlreich zusammenkommen, so vollzog sich auch in dem kleinen deutschen Badeorte, den die Familie Schtscherbazki aufgesucht hatte, der übliche sozusagen soziale Kristallisationsprozeß, der jedem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft einen festen, unveränderlichen Platz anweist. Wie nach festem, unveränderlichem Gesetze ein Wasserteilchen bei Kälte die bestimmte Form eines Schneekristalls erhält, so nahm auch jede neue Persönlichkeit, die in dem Badeorte ankam, sofort den ihr zukommenden Platz ein.

»Fürst Schtscherbazki samt Gemahlin und Tochter« kamen auf Grund der von ihnen gemieteten Wohnung und auf Grund ihres Namens und auf Grund des Ranges der Bekannten, die sie dort vorfanden, durch diese Kristallisation sofort an ihren bestimmten, gottgewollten Platz.

In dem Badeorte befand sich in diesem Jahre eine wirkliche deutsche Fürstin, und infolgedessen vollzog sich die Kristallisation der Gesellschaft noch wirksamer als zu andern Zeiten. Die Fürstin Schtscherbazkaja wünschte durchaus, ihre Tochter der hohen Frau vorzustellen, und vollzog diesen Akt wirklich schon am zweiten Tage. Kitty verneigte sich tief und anmutig in ihrem aus Paris verschriebenen »sehr einfachen«, das heißt höchst eleganten Sommerkleide. Die deutsche Fürstin sagte: »Ich hoffe, daß die Rosen bald auf dieses hübsche Gesichtchen zurückkehren werden«, und nun waren die Schtscherbazkis sofort auf ein bestimmtes Geleise der Lebenshaltung gestellt, aus dem herauszukommen nicht mehr möglich war. Schtscherbazkis wurden auch mit einer englischen Lady und ihrer Familie bekannt, und mit einer deutschen Gräfin und ihrem Sohne, der im letzten Kriege verwundet worden war, und mit einem schwedischen Gelehrten und mit einem Monsieur Canut und seiner Schwester. Hauptsächlich aber verkehrten Schtscherbazkis (das hatte sich ganz von selbst so gemacht) mit einer Moskauer Dame, Marja Jewgenjewna Rtischtschewa, und ihrer Tochter, die Kitty unsympathisch war, weil sie, ebenso wie sie selbst, an Liebeskummer krankte, und mit einem Moskauer Obersten, den Kitty von ihrer Kindheit an nur in Uniform und mit Achselstücken gesehen und gekannt hatte und der hier mit seinen kleinen Augen und dem offenen Hals und der bunten Krawatte recht komisch aussah und außerdem seinen Bekannten dadurch langweilig wurde, daß man sich gar nicht wieder von ihm losmachen konnte, wenn man sich einmal in ein Gespräch mit ihm eingelassen hatte. Als alles dies eine so feste Form angenommen hatte, begann Kitty sich sehr zu langweilen, um so mehr, da ihr Vater, der Fürst, nach Karlsbad gereist und sie mit der Mutter allein zurückgeblieben war. Sie hatte kein Interesse an den Leuten, die sie schon kannte, da sie wußte, daß sie an ihnen nichts Neues mehr entdecken werde. Ihre hauptsächlichste und liebste Beschäftigung in diesem Badeorte bestand darin, die, die sie noch nicht kannte, zu beobachten und zu erraten, was das wohl für Leute sein möchten. Es lag in Kittys Charakter, von allen Menschen das Beste zu denken, und ganz besonders von denen, die sie nicht kannte. Auch während sie jetzt zu erraten suchte, wer und was diese Leute wohl seien und was für Beziehungen zwischen ihnen beständen, malte sie sich die schönsten, edelsten Charaktere aus und glaubte in dem, was sie beobachtete, eine Bestätigung ihrer Mutmaßungen zu finden.

Ihre besondere Teilnahme erregte unter diesen Persönlichkeiten ein russisches Fräulein, das zusammen mit einer älteren, kranken russischen Dame nach dem Badeorte gekommen war, mit einer Madame Stahl, wie sie von allen genannt wurde. Madame Stahl gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, war aber so krank, daß sie nicht gehen konnte und nur ganz selten an besonders schönen Tagen in einem Rollstuhl am Brunnen erschien. Indessen sprach die Fürstin Schtscherbazkaja ihre Ansicht dahin aus, daß Madame Stahl nicht sowohl infolge ihrer Krankheit wie aus Stolz den Verkehr mit den anwesenden Russen meide. Das russische Fräulein versah bei dieser Madame Stahl die Stelle einer Pflegerin und war auch mit allen andern Schwerkranken, deren es in dem Badeorte eine ganze Menge gab, bekannt und nahm sich ihrer in der unbefangensten, natürlichsten Weise an. Dieses russische Fräulein war nach Kittys Beobachtungen keine Verwandte der Madame Stahl, dabei aber auch keine für Lohn angenommene Pflegerin. Sie wurde von Madame Stahl Warjenka genannt, von anderen Mademoiselle Warjenka. Mit lebhaftem Interesse stellte Kitty ihre Beobachtungen an über die Beziehungen dieses Fräuleins zu Frau Stahl und zu andern ihr unbekannten Personen; ja noch mehr: Kitty empfand, wie das nicht selten vorkommt, eine unerklärliche Neigung zu dieser Mademoiselle Warjenka und fühlte, wenn ihre Blicke sich trafen, daß auch jene an ihr Gefallen fand.

Mademoiselle Warjenka sah nicht so aus, als habe sie die erste Jugend bereits hinter sich, sondern eher wie ein Wesen, dem die Jugend überhaupt versagt ist; man konnte sie auf neunzehn Jahre schätzen, aber auch auf dreißig Jahre. Betrachtete man ihre Gesichtszüge, so konnte man sie trotz ihrer kränklichen Hautfarbe eher hübsch als häßlich nennen. Auch eine schöne Gestalt hätte man ihr zusprechen können, wäre nicht ihr Körper allzu mager und ihr Kopf für ihre mittlere Größe unverhältnismäßig groß gewesen; aber auf Männer konnte sie keine Anziehungskraft ausüben. Sie glich einer schönen, zwar noch vollblättrigen, aber doch schon verblühten, duftlosen Blume. Außerdem konnte sie auch noch deswegen auf die Männer nicht anziehend wirken, weil ihr das mangelte, was Kitty im Übermaße besaß: das tiefinnerliche Lebensfeuer und das Bewußtsein der eigenen Anziehungskraft.

Sie schien stets mit Dingen von entschieden ernstem Charakter beschäftigt zu sein, und es machte daher den Eindruck, als könne sie für nichts Andersartiges Sinn haben. Auf Kitty übte sie gerade durch diesen starken Gegensatz zu ihrer eigenen Person eine besondere Anziehungskraft aus. Kitty fühlte, daß sie bei diesem Mädchen und dessen ganzer Lebensgestaltung ein vorbildliches Beispiel für das finden werde, wonach sie jetzt so schmerzlich suchte: ernste Lebensinteressen und Lebenswerte, außerhalb der ihr jetzt so zuwider gewordenen gesellschaftlichen Beziehungen eines jungen Mädchens zum männlichen Geschlechte, die ihr jetzt als eine schmähliche Ausstellung einer auf einen Käufer wartenden Ware erschienen. Je länger Kitty ihre unbekannte Freundin beobachtete, um so mehr kam sie zu der Überzeugung, daß dieses Mädchen wirklich das ideale Wesen sei, als das es ihr erschien, und um so sehnlicher wünschte sie mit ihr bekannt zu werden.

Die beiden Mädchen begegneten einander mehrmals täglich, und bei jeder Begegnung fragten Kittys Augen: ›Wer sind Sie? Was sind Sie? Nicht wahr, Sie sind wirklich das prächtige Wesen, für das ich Sie halte? Aber glauben Sie ja nicht‹, fügte ihr Blick hinzu, ›daß ich so dreist bin, Ihnen meine Bekanntschaft aufdrängen zu wollen. Ich freue mich einfach Ihres Anblicks und habe Sie sehr gern.‹ – ›Ich habe Sie auch sehr gern‹, erwiderte der Blick des unbekannten Mädchens, ›und Sie sind sehr, sehr lieb und nett. Und ich würde Sie noch lieber haben, wenn ich nur mehr Zeit hätte.‹ Und in der Tat, Kitty sah, daß sie stets beschäftigt war: entweder führte sie die Kinder einer russischen Familie vom Brunnen nach Hause, oder sie brachte einer Kranken ein Umschlagtuch und wickelte sie darin ein, oder sie war bemüht, einen nervösen Kranken zu unterhalten und zu zerstreuen, oder sie kaufte für jemand Backwerk zum Kaffee.

Bald nach der Ankunft der Familie Schtscherbazki begannen beim morgendlichen Brunnentrinken noch zwei Personen regelmäßig zu erscheinen, die die allgemeine Aufmerksamkeit, jedoch nicht in freundlichem Sinne, auf sich zogen. Es waren dies: ein Mann von hohem Wuchse, aber gebückter Haltung, mit gewaltig großen Händen, in einem kurzen, für seine Gestalt nicht passenden alten Überzieher, mit schwarzen, naiv blickenden und dabei doch furchterregenden Augen, und eine sehr schlecht und geschmacklos gekleidete Frau mit pockennarbigem, aber sehr gutem, freundlichem Gesichte. Als Kitty diese beiden Personen als Russen erkannt hatte, begann sie sofort, sich über sie in ihrer Phantasie einen schönen, rührenden Roman zurechtzumachen. Aber die Fürstin, die aus der Kurliste ersehen hatte, daß dies Nikolai Ljewin und Marja Nikolajewna waren, klärte Kitty darüber auf, was für ein schlechter Mensch dieser Ljewin sei, und so lösten sich denn alle ihre phantastischen Träumereien über dieses Paar in nichts auf. Nicht nur, weil die Mutter ihr mancherlei über diesen Menschen erzählt hatte, sondern auch, weil dieser Mensch Konstantins Bruder war, erschienen ihr diese beiden Personen auf einmal im höchsten Grade abstoßend. Dieser Ljewin erregte ihr jetzt durch seine Gewohnheit, mit dem Kopfe zu zucken, ein unüberwindliches Gefühl des Widerwillens.

Es schien ihr, als ob in seinen großen, schrecklichen Augen, die ihr hartnäckig folgten, ein Ausdruck von Haß und Spott liege, und sie bemühte sich, Begegnungen mit ihm zu vermeiden.

31

Eines Tages war ein recht garstiges Wetter; den ganzen Vormittag regnete es, und die Kranken drängten sich mit Schirmen im Wandelgang.

Kitty wandelte dort mit ihrer Mutter und dem Moskauer Obersten hin und her, der vergnügt in seinem europäischen Oberrock einherstolzierte, den er sich in Frankfurt fertig gekauft hatte. Sie gingen auf der einen Seite des Wandelganges und bemühten sich, einem Zusammentreffen mit Ljewin auszuweichen, der auf der andern Seite ging. Warjenka, die wie gewöhnlich ein dunkles Kleid und einen schwarzen Hut mit hinuntergebogenen Krempen trug, wanderte mit einer blinden Französin den Wandelgang in seiner ganzen Länge auf und ab, und jedesmal, wenn sie und Kitty einander begegneten, warfen sie sich wechselseitig einen freundlichen Blick zu.

 

»Mama, darf ich sie anreden?« sagte Kitty. Sie war ihrer unbekannten Freundin mit den Blicken gefolgt und hatte bemerkt, daß diese zum Brunnen ging, wo sich ein Zusammentreffen leicht ermöglichen ließ.

»Nun, wenn das so sehr dein Wunsch ist, so will ich mich zunächst nach ihr erkundigen und dann selbst mit ihr anknüpfen«, erwiderte die Mutter. »Was hast du denn Besonderes an ihr gefunden? Wahrscheinlich ist sie eine Gesellschafterin. Wenn du es gern möchtest, will ich mich mit Madame Stahl bekannt machen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt«, fügte die Fürstin, stolz den Kopf erhebend, hinzu.

Kitty wußte, daß ihre Mutter sich dadurch verletzt fühlte, daß Frau Stahl es anscheinend vermied, ihre Bekanntschaft zu machen. So drang Kitty nicht weiter in sie.

»Nein, wie lieb und gut sie ist!« sagte sie, als sie nach Warjenka gerade in dem Augenblicke hinschaute, da diese der Französin einen Becher Brunnen reichte. »Sehen Sie nur, wie natürlich und lieb alles an ihr ist.«

»Mit deinen engouements bist du höchst komisch«, versetzte die Fürstin. »Aber wir wollen lieber umkehren«, fügte sie hinzu, da sie bemerkte, daß ihnen Ljewin mit seiner Begleiterin und einem deutschen Arzte entgegenkam und zu diesem laut und in ärgerlichem Tone redete.

Sie wandten sich gerade um, um zurückzugehen, als sie plötzlich nicht mehr nur ein lautes Reden, sondern geradezu ein Schreien hörten. Ljewin war stehengeblieben und schrie, und auch der Arzt war nun in Erregung gekommen. Eine Menge Menschen sammelten sich um die Streitenden. Die Fürstin und Kitty entfernten sich eilig; der Oberst aber gesellte sich zu dem Menschenschwarm, um zu hören, was es denn gäbe.

Nach einigen Minuten holte der Oberst sie wieder ein.

»Was ging da eigentlich vor?« fragte die Fürstin.

»Es ist eine wahre Schande!« antwortete der Oberst. »Wovor man sich geradezu fürchten muß, das ist, mit Russen im Auslande zusammenzutreffen. Dieser lange Herr hat sich mit dem Arzte gezankt, ihm Grobheiten gesagt, weil er ihn falsch behandle, und sogar mit dem Stocke ausgeholt. Es ist geradezu eine Schande!«

»Ach, wie greulich!« sagte die Fürstin. »Nun, und wie hat denn die Sache geendet?«

»Zum Glück hat da eine Dame eingegriffen ... diese Dame mit dem pilzförmigen Hute. Sie scheint eine Russin zu sein«, antwortete der Oberst.

»Mademoiselle Warjenka?« fragte Kitty freudig.

»Jawohl, jawohl. Die fand schneller als die andern Leute das richtige Mittel: sie faßte diesen Herrn unter den Arm und führte ihn weg.«

»Sehen Sie wohl, Mama!« sagte Kitty zu ihrer Mutter. »Und da wundern Sie sich noch, daß ich von ihr entzückt bin!«

Vom folgenden Tage an bemerkte Kitty bei der Beobachtung ihrer unbekannten Freundin, daß Mademoiselle Warjenka nunmehr auch schon zu Ljewin und der Frauensperson, die dieser bei sich hatte, in demselben Verhältnis stand wie zu ihren anderen protégés. Sie trat zu ihnen, redete mit ihnen und diente der Frau, die keine einzige fremde Sprache sprach, als Dolmetscherin.

Kitty setzte nun ihrer Mutter noch mehr mit Bitten zu, sie möchte ihr doch erlauben, mit Warjenka eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Und so unangenehm es der Fürstin auch war, sozusagen den ersten Schritt zu einer Bekanntschaft mit dieser Frau Stahl zu tun, die sich so viel zu dünken schien, so stellte sie nun doch Nachfragen über Warjenka an, und nachdem sie von verschiedenen Seiten eine Auskunft erhalten hatte, aus der sich entnehmen ließ, daß von dieser Bekanntschaft nichts Schlimmes, wenn auch nicht eigentlich sonderlich viel Gutes zu erwarten war, so ging sie selbst zuerst bei Gelegenheit auf Warjenka zu und machte sich mit ihr bekannt.

Sie hatte dazu einen Augenblick gewählt, da ihre Tochter zum Brunnen gegangen, Warjenka aber vor einem Bäckerladen stehengeblieben war.

»Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie mit ihrem würdevollen Lächeln. »Meine Tochter ist ordentlich verliebt in Sie. Sie kennen mich vielleicht nicht. Ich ...«

»O doch; das ist ja auch viel natürlicher, als daß ich Ihnen bekannt sein könnte, Fürstin«, erwiderte Warjenka eilig.

»Was haben Sie gestern für ein gutes Werk an unserm bedauernswerten Landsmann getan!« sagte die Fürstin.

Warjenka errötete.

»Ich wüßte nicht; ich habe ja wohl eigentlich gar nichts getan«, versetzte sie.

»Gewiß doch! Sie haben diesen Herrn Ljewin vor ernsten Unannehmlichkeiten bewahrt.«

»Ach, sa compagne rief mich an, und da suchte ich ihn zu beruhigen; er ist sehr krank und war mit seinem Arzte unzufrieden. Ich bin es gewohnt, mit solchen Kranken umzugehen.«

»Ja, ich habe gehört, daß Sie in Mentone mit Madame Stahl, wenn ich recht unterrichtet bin, Ihrer Frau Tante, zusammen wohnen. Ich habe ihre belle-sœur gekannt.«

»Nein, sie ist nicht meine Tante. Ich nenne sie maman, bin aber nicht verwandt mit ihr; ich bin nur von ihr erzogen worden«, antwortete Warjenka und errötete dabei wieder.

Das sagte sie so schlicht und natürlich, und auf ihrem lieben, guten Gesichte lag ein solcher Ausdruck von Wahrhaftigkeit und Offenheit, daß die Fürstin begriff, warum Kitty dieses Fräulein Warjenka so liebgewonnen hatte.

»Nun, und was wird dieser Ljewin jetzt tun?« fragte die Fürstin.

»Er reist ab«, erwiderte Warjenka.

In diesem Augenblicke kam Kitty vom Brunnen her hinzu, strahlend vor Freude darüber, daß ihre Mutter eine Bekanntschaft mit ihrer unbekannten Freundin angeknüpft hatte.

»Nun, siehst du, Kitty, dein heißer Wunsch, die Bekanntschaft von Mademoiselle ...«

»Warjenka«, half Warjenka lächelnd ein; »so werde ich allgemein genannt.«

Kitty war ganz rot geworden vor Freude und drückte lange ihrer neuen Freundin schweigend die Hand, die jedoch den Druck nicht erwiderte, sondern regungslos in der ihrigen lag. Aber wenn auch die Hand den Druck nicht erwiderte, so glänzte doch Mademoiselle Warjenkas Gesicht von einem stillen, frohen, wiewohl ein wenig trüben Lächeln, das ihre großen, aber schönen Zähne sichtbar werden ließ.

»Ich habe das selbst schon lange gewünscht«, sagte sie.

»Aber Sie sind so in Anspruch genommen ...«

»Ach, im Gegenteil, ich habe gar nichts zu tun«, versetzte Warjenka; aber in demselben Augenblicke mußte sie sich von ihren neuen Bekannten trennen, weil zwei kleine Mädchen, die Töchter eines kranken Russen, auf sie zugelaufen kamen.

»Warjenka, Mama ruft!« schrien sie.

Und Warjenka folgte ihnen.

32

Die Einzelheiten, die die Fürstin über Warjenkas Vergangenheit und über ihre Beziehungen zu Madame Stahl in Erfahrung gebracht hatte, waren folgende.

Madame Stahl, von der die einen sagten, sie habe ihren Mann zu Tode gequält, die andern, er habe sie durch seinen sittenlosen Lebenswandel unglücklich gemacht, war immer eine kränkliche, überspannte Frau gewesen. Als sie, bereits nach der Scheidung von ihrem Manne, ihr erstes Kind gebar, starb dieses gleich nach der Geburt, und ihre Verwandten, die ihre hochgradige Erregbarkeit kannten und fürchteten, daß diese Nachricht ihr den Tod bringen könne, schoben ihr ein anderes Kind unter; sie wählten dazu das in derselben Nacht und in demselben Hause in Petersburg geborene Töchterchen eines Hofkoches. Dies war Warjenka. Madame Stahl erfuhr in der Folge, daß Warjenka nicht ihre Tochter sei; aber sie zog sie dennoch weiter auf, um so mehr, da Warjenka bald darauf ihre beiden Eltern verlor und auch sonst keine nahen Verwandten hatte.

Madame Stahl lebte nun schon mehr als zehn Jahre ununterbrochen im Auslande, im Süden, und verließ fast nie das Bett. Manche sagten, Madame Stahl habe sich geflissentlich eine Stellung in der Gesellschaft als tugendhafte, tief religiöse Frau geschaffen; andere waren überzeugt, daß sie wirklich im Grunde ihres Herzens jenes sittlich hochstehende, nur für das Wohl der Mitmenschen lebende Wesen sei, als das sie sich darstellte. Niemand wußte, welcher Konfession sie angehörte, ob der katholischen oder der protestantischen oder der rechtgläubigen; aber eins war unzweifelhaft: sie stand in freundschaftlichen Beziehungen zu den höchsten Persönlichkeiten aller Kirchen und Bekenntnisse.

Warjenka lebte mit ihr beständig im Auslande, und alle, die Madame Stahl kannten, kannten auch Mademoiselle Warjenka, wie alle sie nannten, und hatten sie gern.

Nachdem die Fürstin alle diese Einzelheiten erfahren hatte, fand sie in einer Annäherung ihrer Tochter an Warjenka nichts Bedenkliches, um so weniger, da Warjenka gute Manieren und eine vortreffliche Bildung besaß; sie sprach ausgezeichnet Französisch und Englisch. Und was die Hauptsache war: sie überbrachte von Frau Stahl den Ausdruck ihres Bedauerns, daß sie wegen ihrer Krankheit das Vergnügen entbehren müsse, die Bekanntschaft der Fürstin zu machen.

Nachdem Kitty so mit Warjenka einmal bekannt geworden war, fühlte sie sich von ihrer Freundin immer mehr und mehr bezaubert und entdeckte an ihr alle Tage neue Vorzüge.

Die Fürstin, die gehört hatte, Warjenka singe sehr gut, bat sie, ob sie nicht am Abend zu ihnen kommen und etwas vorsingen wolle.

»Kitty spielt, und wir haben hier ein Klavier, allerdings kein sehr gutes; aber Sie würden uns eine so große Freude damit machen«, sagte die Fürstin mit einem gemachten Lächeln, durch das sich Kitty jetzt besonders unangenehm berührt fühlte, da sie schon gemerkt hatte, daß Warjenka überhaupt nicht gern sang. Indessen kam Warjenka am Abend und brachte ein Notenheft mit. Die Fürstin hatte auch Marja Jewgenjewna mit ihrer Tochter und den Oberst eingeladen.

Warjenka schien in keiner Weise darüber verlegen zu sein, daß auch Personen, die sie nicht kannte, zugegen waren, und trat sogleich ans Klavier. Sie konnte sich nicht selbst begleiten, sang aber sehr gut vom Blatte. Kitty, die gut spielte, begleitete sie.

»Sie besitzen ein ungewöhnliches Talent«, sagte die Fürstin zu Warjenka, nachdem diese das erste Lied sehr schön vorgetragen hatte.

Auch Marja Jewgenjewna und ihre Tochter bedankten sich bei ihr und lobten ihren Gesang.

»Sehen Sie nur«, sagte der Oberst bei einem Blick durch das Fenster, »welch ein Publikum sich angesammelt hat, um Ihnen zuzuhören.«

In der Tat hatte sich eine ziemlich große Menschenmenge unter den Fenstern zusammengeschart.

»Ich freue mich sehr, daß es Ihnen Vergnügen macht«, erwiderte Warjenka schlicht.

Kitty blickte mit Stolz auf ihre Freundin. Sie war entzückt über Warjenkas Kunst und über ihre Stimme und über ihre Miene, am allermeisten aber über ihr ganzes Wesen, darüber, daß Warjenka sich offenbar auf ihren Gesang nichts einbildete und den Lobsprüchen gegenüber vollständig gleichmütig blieb. In ihrer Haltung schien nur die Frage zu liegen: ›Soll ich noch mehr singen, oder ist's nun genug?‹

›Wenn ich das wäre‹, dachte Kitty im stillen, ›wie stolz würde ich darauf sein! Wie würde ich mich freuen, auf diese Menschenmenge unter den Fenstern hinabzublicken! Aber ihr ist das alles ganz gleichgültig. Sie läßt sich nur von dem Wunsche leiten, meiner maman keine abschlägige Antwort zu geben, sondern ihr einen Gefallen zu tun. Was hat sie nur für eine eigenartige Seele? Woher nimmt sie die Kraft, auf alles mit Gleichmut hinzublicken und eine sichere Ruhe zu bewahren? Ach, wenn ich das doch auch verstände, wenn ich doch das von ihr lernen könnte!‹ So dachte Kitty, während sie dieses stille Gesicht betrachtete. Die Fürstin bat Warjenka, noch etwas zu singen, und Warjenka sang ein anderes Lied, ebenso fließend, untadelig und schön, während sie in gerader Haltung neben dem Klaviere stand und mit ihrer mageren, gebräunten Hand den Takt darauf angab.

Die folgende Nummer im Hefte war ein italienisches Lied. Kitty spielte das Vorspiel und blickte Warjenka an.

»Wir wollen dieses Lied weglassen«, sagte Warjenka errötend.

Erschrocken und fragend hielt Kitty ihre Augen auf Warjenkas Gesicht geheftet.

»Nun, dann also ein anderes«, versetzte sie hastig und schlug die Blätter um; sie hatte sofort durchschaut, daß mit diesem Liede für Warjenka irgendeine Erinnerung verknüpft sein mußte.

»Nein«, antwortete Warjenka und legte lächelnd ihre Hand auf die Noten, »nein, wir wollen es doch singen.« Und sie sang dieses Lied ebenso schön und mit der gleichen kühlen Ruhe wie die vorhergehenden.

Als sie geendet hatte, bedankten sich wieder alle bei ihr und gingen dann zum Tee. Kitty und Warjenka aber begaben sich in das Gärtchen neben dem Hause.

 

»Nicht wahr, mit diesem Liede verknüpft sich für Sie irgendeine Erinnerung?« fragte Kitty. »Teilen Sie mir nichts darüber mit«, fügte sie hastig hinzu, »sagen Sie mir nur, ob es der Fall ist.«

»Warum sollte ich es Ihnen nicht mitteilen? Ich will es Ihnen sagen«, erwiderte Warjenka schlicht und einfach, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ja, es ist eine Erinnerung damit verbunden, und sie ist mir früher sehr schmerzlich gewesen. Ich habe einen Mann geliebt und ihm dieses Lied oft gesungen.«

Kitty blickte sie, ohne ein Wort zu sagen, mit großen, weit geöffneten Augen gerührt an.

»Ich liebte ihn, und er liebte mich; aber seine Mutter wollte es nicht, und so heiratete er eine andere. Er wohnt jetzt nicht weit von uns, und ich sehe ihn manchmal. Sie hätten wohl nicht gedacht, daß auch ich einen Roman erlebt habe?« sagte sie, und auf ihrem hübschen Gesichte flackerte flüchtig ein Rest von jenem Feuer auf, das – davon war Kitty überzeugt – einst gewiß ihr ganzes Inneres durchleuchtet und durchglüht hatte.

»Warum hätte ich glauben sollen, daß das nicht der Fall gewesen wäre? Wäre ich ein Mann, so würde ich, nachdem ich Sie kennengelernt hätte, keine andere mehr lieben können. Es ist mir unbegreiflich, wie er seiner Mutter zu Gefallen von Ihnen lassen und Sie unglücklich machen konnte; er muß kein Herz gehabt haben.«

»O nein, er ist ein sehr guter Mensch, und ich bin ja auch gar nicht unglücklich; im Gegenteil, ich bin sehr glücklich. Nun, wie ist's? Heute singen wir wohl nicht mehr?« fügte sie hinzu, indem sie sich nach dem Hause wandte.

»Wie gut Sie sind, wie gut Sie sind!« rief Kitty aus, hielt sie zurück und küßte sie. »Wenn ich Ihnen doch nur ein klein wenig ähnlich sein könnte!«

»Wozu brauchen Sie jemandem ähnlich zu sein? So wie Sie sind, sind Sie gut«, erwiderte Warjenka mit ihrem sanften, müden Lächeln.

»Nein, ich bin gar nicht gut. Aber sagen Sie mir doch ... Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick; wir wollen uns noch einmal hinsetzen«, sagte Kitty und zog sie neben sich auf die Bank nieder. »Sagen Sie mir doch, ist es Ihnen nicht kränkend, denken zu müssen, daß ein Mann Ihre Liebe verschmäht hat, Ihre Liebe nicht hat haben mögen?«

»Aber er hat sie ja gar nicht verschmäht; ich glaube, daß er mich wirklich geliebt hat; aber er war ein gehorsamer Sohn ...«

»Das mag sein; aber wenn er es nun nicht auf den Wunsch seiner Mutter getan hätte, sondern einfach nach seinem eigenen Willen?« sagte Kitty und wurde sich bewußt, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte und ihr vor Schamröte erglühendes Gesicht sie überführte.

»Dann hätte er schlecht gehandelt, und ich würde mich um ihn nicht grämen«, antwortete Warjenka, die offenbar durchschaute, daß es sich jetzt nicht mehr um sie, sondern um Kitty handelte.

»Aber die Kränkung?« sagte Kitty. »Die Kränkung kann man doch nicht vergessen, die kann man nicht vergessen.« Sie dachte an ihren Blick auf dem letzten Balle in dem Augenblick, da die Musik plötzlich aufgehört hatte.

»Worin liegt denn die Kränkung? Sie haben doch nicht schlecht gehandelt?«

»Schlimmer als schlecht – so daß ich mich schämen muß.«

Warjenka wiegte den Kopf hin und her und legte ihre Hand auf Kittys Arm.

»Schämen? Worüber?« fragte sie. »Sie werden doch einem Mann, dem Sie gleichgültig waren, nicht gesagt haben, daß Sie ihn liebten?«

»Selbstverständlich nicht; ich habe nie auch nur ein Wort gesagt; aber er wußte es doch. Aus Blicken, aus dem ganzen Benehmen. Nein, nein, und wenn ich hundert Jahre alt werde, kann ich es nicht vergessen.«

»Was meinen Sie denn eigentlich? Ich verstehe Sie nicht. Es kommt doch nur darauf an, ob Sie ihn jetzt noch lieben oder nicht«, sagte Warjenka, die alles beim richtigen Namen nannte.

»Ich hasse ihn; ich kann mir selbst nicht verzeihen.«

»Was können Sie sich denn nicht verzeihen?«

»Daß ich mir eine solche Beschämung, eine solche Kränkung zugezogen habe.«

»Ach, wenn alle so empfindlich sein wollten wie Sie«, erwiderte Warjenka. »Es gibt kein Mädchen, das nicht hätte so etwas durchmachen müssen. Und all das ist doch so unwichtig.«

»Ja, was ist denn dann aber wichtig?« fragte Kitty und blickte ihr mit neugieriger Verwunderung ins Gesicht.

»Ach, es gibt viel Wichtiges«, versetzte Warjenka lächelnd.

»Nun, was denn?«

»Ach, es gibt vieles, was weit wichtiger ist«, antwortete Warjenka, wußte aber nicht recht, was sie sagen sollte. Aber in diesem Augenblicke hörten sie aus dem Fenster die Stimme der Fürstin:

»Kitty, es wird kühl! Nimm ein Tuch um oder komm ins Zimmer!«

»Es ist wirklich Zeit, daß ich gehe«, sagte Warjenka und stand auf. »Ich muß auch noch zu Madame Berthe gehen; sie hat mich darum gebeten.«

Kitty hielt ihre Hand gefaßt, und ihr stummer Blick fragte bittend mit leidenschaftlicher Neugier: ›Was ist es denn, was ist denn dieses Wichtigste, das einem solche Ruhe des Gemütes verleiht? Sie wissen es; sagen Sie mir es doch!‹ Aber Warjenka verstand gar nicht, wonach Kittys Blick sie fragte. Sie dachte nur daran, daß sie heute noch Madame Berthe besuchen und sich so einrichten müsse, daß sie rechtzeitig um zwölf Uhr zu Hause bei maman zum Tee sei. Sie ging ins Zimmer, nahm ihre Noten, verabschiedete sich von allen und schickte sich an zu gehen.

»Erlauben Sie, ich werde Sie begleiten«, sagte der Oberst.

»Gewiß, Sie können doch jetzt bei Nacht nicht allein gehen«, stimmte ihm die Fürstin zu. »Oder wenigstens möchte ich meine Parascha mit Ihnen mitschicken.«

Kitty sah, daß Warjenka nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, als sie hörte, daß man für sie eine Begleitung als notwendig erachtete.

»Nicht doch; ich gehe immer allein, und es ist mir noch nie etwas zugestoßen«, sagte sie und griff nach ihrem Hute. Sie küßte Kitty noch einmal, und ohne gesagt zu haben, was denn nun jenes Wichtige sei, verschwand sie festen, flinken Schrittes, mit den Noten unter dem Arm, in dem Halbdunkel der Sommernacht und nahm ihr Geheimnis mit sich, was das Wichtige sei, dem sie diese beneidenswerte Ruhe und Würde zu verdanken hatte.