Anna Karenina | Krieg und Frieden

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27



Anna stand im oberen Stockwerk vor dem Spiegel und steckte mit Annuschkas Hilfe die letzte Schleife an ihr Kleid, als sie vor der Haustür das knirschende Geräusch von Rädern auf dem Kies hörte.



›Für Betsy ist es noch zu früh‹, dachte sie, sah durch das Fenster und erblickte den Wagen, aus dem eben Alexei Alexandrowitsch seinen Kopf mit dem schwarzen Hute und den ihr so wohlbekannten Ohren heraussteckte. ›Das kommt mir unerwünscht; er wird doch nicht die Nacht über hierbleiben?‹ dachte sie, und alle die Folgen, die das haben konnte, erschienen ihr so entsetzlich und furchtbar, daß sie, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit heiterem, strahlendem Gesichte aus dem Zimmer den beiden Herren entgegenging; sie fühlte, daß der ihr schon wohlbekannte Geist der Lüge und des Truges in ihr wieder lebendig wurde, überließ sich sofort seinen Eingebungen und begann zu reden, ohne selbst zu wissen, was sie sagen werde.



»Ah, das ist einmal nett!« sagte sie, reichte ihrem Manne die Hand und begrüßte Sljudin als einen Freund des Hauses mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, du bleibst über Nacht hier?« das waren die ersten Worte, die ihr der Geist des Truges zuflüsterte, »und jetzt wollen wir zusammen zum Rennen fahren. Nur schade, daß ich mich mit Betsy verabredet habe. Sie will mich abholen.«



Alexei Alexandrowitsch runzelte bei dem Namen Betsy die Stirn.



»Oh, ich werde die Unzertrennlichen nicht trennen«, antwortete er in seinem gewöhnlichen scherzenden Tone. »Ich werde mit Michail Wasiljewitsch zusammen fahren. Auch ist mir ärztlicherseits empfohlen worden, recht viel zu gehen; ich werde also unterwegs aussteigen und eine Strecke zu Fuß gehen und mir dabei vorstellen, daß ich noch im Badeort sei.«



»Wir haben noch viel Zeit«, sagte Anna. »Wünschen die Herren nicht eine Tasse Tee?«



Sie klingelte.



»Bringen Sie Tee und sagen Sie zu Sergei, daß Alexei Alexandrowitsch gekommen ist. Nun, wie steht es denn mit deiner Gesundheit? Michail Wasiljewitsch, Sie sind in diesem Jahre noch nie bei mir hier draußen gewesen; sehen Sie nur, wie schön es auf meiner Terrasse ist«, sagte sie, sich bald an den einen, bald an den andern wendend.



Sie sprach ungezwungen und natürlich, aber zu viel und zu schnell. Sie fühlte das selbst und um so mehr, da sie an dem forschenden Blicke, mit dem Michail Wasiljewitsch sie ansah, merkte, daß er sie beobachtete.



Michail Wasiljewitsch trat sogleich auf die Terrasse hinaus.



Sie setzte sich neben ihren Mann.





»Du siehst nicht recht wohl aus«, sagte sie zu ihm.



»Ja«, antwortete er, »heute ist der Arzt bei mir gewesen und hat mir eine Stunde Zeit geraubt. Es kommt mir vor, als hätte ihn einer meiner Freunde zu mir geschickt; so kostbar ist ihnen meine Gesundheit.«



»Und was hat er gesagt?«



Sie fragte ihn allerlei über seine Gesundheit und über seine Tätigkeit und redete ihm zu, sich mehr Erholung zu gönnen und zu ihr in die Sommerfrische herauszuziehen.



Alles dies sagte sie schnell und in heiterem Tone und mit einem besonderen Glanze in den Augen; aber Alexei Alexandrowitsch maß diesem Tone jetzt keine Bedeutung bei. Er hörte nur ihre Worte und faßte sie nur in ihrem natürlichen Sinne auf. Er antwortete ihr ungezwungen, wenn auch in seiner scherzhaften Art. Dieses ganze Gespräch hatte keine besondere Eigentümlichkeit; aber in der Folgezeit konnte Anna an diese kurze Begebenheit nie ohne ein schmerzhaftes, peinliches Gefühl der Scham zurückdenken.



Der kleine Sergei kam, von seiner Gouvernante geführt, herein. Hätte Alexei Alexandrowitsch es sich nicht zum Grundsatz gemacht gehabt, keine Beobachtungen anzustellen, so würde er den scheuen, verlegenen Blick bemerkt haben, mit dem der Knabe zuerst den Vater und dann die Mutter ansah. Aber er wollte nichts sehen und sah auch wirklich nichts.



»Ah, junger Mann! Er ist gewachsen. Wahrhaftig, er wird ordentlich schon ein Mann. Guten Tag, junger Mann!«



Er reichte dem erschrockenen Kinde die Hand.



Sergei hatte sich auch früher schon immer dem Vater gegenüber sehr schüchtern benommen; jetzt nun gar, wo Alexei Alexandrowitsch angefangen hatte, ihn »junger Mann« zu nennen, und wo er die Rätselfrage in seinem Kopfe herumwälzte, ob Wronski ein Freund oder ein Feind sei, jetzt hatte er sich dem Vater ganz und gar entfremdet. Wie schutzflehend sah er sich nach der Mutter um. Nur bei der Mutter fühlte er sich wohl. Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit der Gouvernante an und hielt währenddessen seinen Sohn an der Schulter gefaßt, was diesem entsetzlich unbehaglich war; Anna sah, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen.



Als Anna, die bei Sergeis Eintritt errötet war, jetzt bemerkte, wie unbehaglich sich der Knabe fühlte, sprang sie schnell auf, hob Alexei Alexandrowitschs Hand von der Schulter ihres Sohnes weg, küßte ihren Sohn, führte ihn auf die Terrasse und kehrte sofort wieder zurück.



»Nun wird es aber Zeit«, bemerkte sie nach einem Blicke auf ihre Uhr. »Warum nur Betsy nicht kommt? ...«



»Ja«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er aufstand, die Finger durcheinanderschob und knacken ließ. »Ich bin auch noch deshalb hergekommen, um dir Geld zu bringen, da nach dem Sprichworte auch eine Nachtigall vom bloßen Singen nicht satt wird. Ich denke, du wirst welches brauchen.«





»Nein, ich brauche noch kein Geld wieder ... oder doch, ja«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und errötete dabei bis an die Haarwurzeln. »Aber ich denke, du wirst nach dem Rennen doch noch wieder herkommen?«



»O gewiß!« erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Da ist ja auch die Zierde von Peterhof, die Fürstin Twerskaja«, fügte er hinzu, als er bei einem Blicke durch das Fenster ein englisches Geschirr mit außerordentlich hoch angebrachtem, winzigem Wagenkasten bemerkte. »Was für eine Pracht! Entzückend! Nun, dann wollen wir auch abfahren.«



Die Fürstin Twerskaja stieg nicht aus; nur ihr Lakai in Gamaschen, Pelerine und schwarzem Hut sprang an der Haustür ab.



»Ich gehe, auf Wiedersehen!« sagte Anna, küßte ihren Sohn, trat zu Alexei Alexandrowitsch hin und reichte ihm die Hand. »Es war sehr liebenswürdig von dir, daß du hergekommen bist.«



Alexei Alexandrowitsch küßte ihr die Hand.



»Nun, dann auf Wiedersehen! Du kommst also nachher noch einmal, um mit mir Tee zu trinken. Das ist ja prächtig!« rief sie heiter und strahlend beim Hinausgehen. Aber sobald sie ihn nicht mehr sah, fühlte sie auf ihrer Hand nach der Stelle, die seine Lippen berührt hatten, und zuckte wie vor Ekel zusammen.





28



Als Alexei Alexandrowitsch beim Rennen erschien, saß Anna bereits auf der Tribüne neben Betsy, in der Loge, wo sich die ganze höhere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Sie erblickte ihren Mann schon von weitem. Zwei Menschen, ihr Mann und ihr Geliebter, waren für sie die beiden Brennpunkte des Lebens, und ohne Hilfe der äußeren Sinnesorgane spürte sie deren Nähe. Schon von weitem hatte sie die Annäherung ihres Mannes gefühlt, und sie verfolgte ihn unwillkürlich mit den Augen in den Menschenwogen, durch die er sich hinbewegte. Sie sah, wie er der Loge näher kam, indem er bald untertänige Verbeugungen leutselig erwiderte, bald Gleichgestellte freundschaftlich und zerstreut begrüßte, bald eifrig bemüht war, einen Blick von den Mächtigen dieser Welt zu erhaschen, und dabei seinen großen, runden Hut abnahm, der ihm die oberen Ränder der Ohrmuscheln niederdrückte. Sie kannte alle diese Angewohnheiten, und sie waren ihr alle widerwärtig. ›Nur Ehrgeiz, nur der Wunsch, etwas in der Welt zu erreichen, das ist alles, was in seiner Seele vorhanden ist‹, dachte sie, ›aber jedes höhere Streben, Religiosität, Interesse für die Verbreitung der Bildung, das ist ihm alles nur Mittel, um etwas zu erreichen.‹



An den Blicken, die er nach der Damenloge richtete (er schaute gerade auf Anna hin, konnte sie aber in dem Meere von Tüll, Bändern, Federn, Sonnenschirmen und Blumen nicht erkennen), merkte sie, daß er sie suchte; aber sie tat absichtlich, als sähe sie ihn nicht.



»Alexei Alexandrowitsch!« rief ihn die Fürstin Betsy an. »Sie suchen gewiß Ihre Frau; hier ist sie!«



Er lächelte in seiner kühlen Art.



»Hier ist so viel Glanz, daß die Augen geblendet umherirren«, erwiderte er und trat in die Loge hinein. Er lächelte seiner Frau so zu, wie eben ein Ehemann lächeln muß, wenn er seiner Frau wieder begegnet, mit der er vor kurzem noch zusammengewesen ist, und begrüßte die Fürstin und seine anderen Bekannten, indem er einem jeden zukommen ließ, was ihm gebührte, also an die Damen Scherzworte richtete und mit den Männern Begrüßungen austauschte. Unten neben der Loge stand ein von Alexei Alexandrowitsch hochgeschätzter, durch seinen Verstand und seine Bildung bekannter Generaladjutant; Alexei Alexandrowitsch knüpfte ein Gespräch mit ihm an.



Es war gerade eine Pause zwischen zwei Rennen, und daher wurde die Unterhaltung durch nichts gestört. Der Generaladjutant äußerte sich mißbilligend über den Rennsport; Alexei Alexandrowitsch trat dem entgegen und verteidigte ihn. Anna horchte, ohne ein Wort zu verlieren, auf seine hohe, gleichmäßige Stimme, und jedes seiner Worte schien ihr unaufrichtig, und ihr Ohr empfand gleichsam einen physischen Schmerz davon.





Als das Vier-Werst-Rennen mit Hindernissen begann, beugte sie sich vor und blickte unverwandt zu Wronski hin, der zu seinem Pferde ging und es bestieg, und gleichzeitig hörte sie die widerwärtige, gleichmäßig weitersprechende Stimme ihres Mannes. Die Angst um Wronski peinigte sie; aber noch mehr peinigte sie die hohe Stimme ihres Mannes mit dem ihr so wohlbekannten Tonfall; es schien ihr, als wolle diese Stimme überhaupt nie verstummen.

 



›Ich bin eine schlechte Frau, ein verworfenes Weib‹, dachte sie. ›Aber ich verabscheue die Lüge, ich kann die Lüge nicht ausstehen; ihm hingegen ist die Lüge geradezu das tägliche Brot. Er weiß alles, er sieht alles; wie mag es mit seinem Gefühl, mit seiner Empfindung stehen, wenn er sich dabei mit solcher Ruhe unterhalten kann? Wenn er mich tötete, wenn er Wronski tötete, so würde ich ihn dafür achten. Aber nein, was er will, ist nur Unwahrhaftigkeit und Wahrung des äußeren Anstandes.‹ So sprach Anna bei sich, ohne recht zu überlegen, was für ein Verhalten sie denn eigentlich von ihrem Manne verlangte und welche Eigenschaften sie an ihm zu sehen wünschte. Auch das entging ihr, daß Alexei Alexandrowitschs jetzige besonders große Gesprächigkeit, die ihr so sehr mißfiel, lediglich ein Ausdruck seiner inneren Erregung und Unruhe war. Wie ein Kind, das sich gestoßen hat, durch Springen seine Muskeln in Bewegung setzt, um dadurch den Schmerz zu betäuben, so bedurfte auch Alexei Alexandrowitsch notwendig einer geistigen Bewegung, um jene Vermutungen über seine Frau zu betäuben, die sich ihm bei Anwesenheit seiner Frau und bei Anwesenheit Wronskis, und wenn er dessen Namen immer wieder hören mußte, gewaltsam aufdrängten. Und wie es dem Kinde die Natur eingibt, zu springen, so gab sie es ihm ein, ein hübsches, verständiges Gespräch zu führen. Er äußerte sich folgendermaßen:



»Die Gefährlichkeit ist bei militärischen Rennen, bei Kavallerierennen, eine notwendige Bedingung. Wenn England in der Kriegsgeschichte auf die glänzendsten Reitertaten hinweisen kann, so wird dies nur dem Umstande verdankt, daß dieses Land sowohl bei den Tieren wie bei den Menschen diese Kraft im Laufe der Zeit zielbewußt ausgebildet hat. Der Sport ist meiner Ansicht nach von hoher Bedeutung; aber wir sehen bei ihm wie bei allen Dingen eben nur das Alleräußerlichste.«



»Doch nicht bloß das Äußerliche«, warf die Fürstin Twerskaja dazwischen. »Ein Offizier soll sich soeben zwei Rippen gebrochen haben.«



Auf Alexei Alexandrowitschs Gesicht erschien das ihm eigentümliche Lächeln, das nur die Zähne sichtbar werden ließ, aber im übrigen völlig nichtssagend war.



»Allerdings, Fürstin«, versetzte er, »ist das nichts Äußerliches, sondern etwas Innerliches. Aber darum handelt es sich nicht«, hier wandte er sich wieder an den General, mit dem er das Gespräch in ernstem Tone fortsetzte; »Sie dürfen nicht vergessen, daß bei dem Rennen Offiziere reiten, die sich für diesen Beruf nach freier Wahl entschieden haben, und Sie werden zugeben müssen, daß ein jeder Beruf auch seine Kehrseite hat. Der gefährliche Sport gehört geradezu zu den Pflichten eines Offiziers. Der rohe Sport des Faustkampfes oder der spanischen Toreadors ist ein Zeichen von Barbarei. Aber der auf ein besonderes Ziel gerichtete Sport ist ein Zeichen kultureller Entwicklung.«





»Nein, ich komme ein andermal nicht wieder her; das regt mich doch gar zu sehr auf«, sagte die Fürstin Betsy. »Nicht wahr, Anna?«



»Aufregend ist es; aber man kann sich doch nicht davon losreißen«, meinte eine andere Dame. »Wäre ich eine Römerin gewesen, so hätte ich an keinem Kampftage im Zirkus gefehlt.«



Anna erwiderte nichts und blickte, ohne das Opernglas abzusetzen, immer nach einer Stelle hin.



In diesem Augenblick ging ein hoher General durch die Loge. Alexei Alexandrowitsch unterbrach seine Auseinandersetzung, stand eilig, aber dabei doch würdevoll auf und verbeugte sich tief vor dem vorübergehenden Offizier.



»Sie reiten das Rennen nicht mit?« fragte ihn der Offizier scherzend.



»Mein Rennen ist schwieriger«, antwortete Alexei Alexandrowitsch achtungsvoll.



Und obgleich diese Erwiderung eigentlich keinen rechten Sinn hatte, machte der hohe Offizier doch eine Miene, als habe er von einem geistreichen Manne ein geistreiches Wort vernommen und verstehe völlig la pointe de la sauce.



»Es sind da zwei Standpunkte zu unterscheiden«, fuhr Alexei Alexandrowitsch von neuem in seiner Darlegung fort, »der der aktiv Beteiligten und der der Zuschauer. Die Lust an solchen Schauspielen ist bei den Zuschauern, das muß ich zugeben, ein sicheres Zeichen eines niedrigen Bildungsgrades; aber ...«



»Nun, Fürstin, wollen wir wetten?« erscholl von unten her die Stimme Stepan Arkadjewitschs, der sich an Betsy wandte. »Auf wen halten Sie?«



»Anna und ich halten auf den Fürsten Kusowlew«, erwiderte Betsy.



»Ich auf Wronski. Um ein Paar Handschuhe!«



»Es gilt!«



»Wie hübsch das Rennen ist, nicht wahr?«



Alexei Alexandrowitsch hatte einen Augenblick geschwiegen, während dies dicht neben ihm gesprochen wurde; aber dann begann er sogleich wieder:



»Ich muß zugeben, daß unmännliche Spiele ...«



Aber er konnte nicht weiterreden, da in diesem Augenblicke die Reiter starteten und alle Gespräche abgebrochen wurden. Auch Alexei Alexandrowitsch verstummte. Alle waren aufgestanden und hatten sich nach dem Flüßchen hingewandt. Für das Rennen hatte Alexei Alexandrowitsch kein Interesse, und daher blickte er nicht nach den Reitern hin, sondern er ließ seine müden Augen durch die Reihen der Zuschauer wandern. Sein Blick blieb auf Anna haften.



Ihr Gesicht war blaß und tiefernst. Sie sah offenbar nichts und niemanden außer einem einzigen. Ihre Hand preßte sich krampfhaft um den Fächer zusammen, und sie atmete kaum. Er betrachtete sie einen Augenblick; dann wandte er sich eilig ab und sah nach anderen Gesichtern hin.



›Da, diese Dame da‹, sagte er zu sich selbst, ›und dort noch andere Damen sind auch sehr aufgeregt; das ist etwas sehr Natürliches.‹ Er wollte seine Frau nicht noch einmal ansehen; aber er fühlte seinen Blick unwillkürlich wieder dorthin gezogen. So schaute er denn von neuem in dieses Gesicht, bemüht, das nicht zu lesen, was doch so deutlich darauf geschrieben stand, und gegen seinen Willen las er darauf mit Entsetzen, was zu wissen er sich sträubte.



Der erste Sturz eines Reiters – Kusowlew war am Flüßchen gestürzt – setzte alle in Aufregung; aber an Annas blassem, triumphierendem Gesichte sah Alexei Alexandrowitsch deutlich, daß der, nach dem sie hinsah, nicht gestürzt war. Als dann Machotin und Wronski die große Hürde genommen hatten und darauf der ihnen folgende Offizier an dieser selben Stelle auf den Kopf stürzte und schwerverletzt besinnungslos liegenblieb und ein dumpfes Gemurmel des Schreckens durch die ganze Zuschauerschaft ging, da sah Alexei Alexandrowitsch, daß Anna diesen Vorfall gar nicht einmal bemerkt hatte und nur mit Mühe begriff, wovon um sie herum gesprochen wurde. Aber immer häufiger und häufiger und mit immer größerer Hartnäckigkeit betrachtete er sie. Obgleich Anna in den Anblick des dahinjagenden Wronski ganz versunken war, fühlte sie doch den Blick der kalten Augen ihres Mannes von der Seite her auf sich gerichtet.



Sie sah sich einen Augenblick um, blickte ihn fragend an, zog leicht die Brauen zusammen und wandte sich wieder von ihm ab.



Es war, als ob sie zu ihm sagte: ›Ach, mir ist alles gleich!‹ Und von nun an blickte sie kein einziges Mal mehr nach ihm hin.



Es war ein Unglücksrennen: von den siebzehn Reitern stürzten und verletzten sich mehr als die Hälfte. Am Schlusse des Rennens waren alle Zuschauer in großer Erregung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Kaiser sich mißfällig geäußert hatte.





29



Alle sprachen laut ihre Mißbilligung aus; alle wiederholten die von irgend jemand gebrauchte Wendung: ›Nun fehlt nur noch der Zirkus mit den Löwen‹, und alle waren dermaßen von Entsetzen erfüllt, daß, als Wronski stürzte und Anna laut aufstöhnte, darin nichts Auffallendes lag. Aber gleich darauf ging auf Annas Gesicht eine Veränderung vor, die denn doch unbedingt eine Verletzung des Anstandes bildete. Sie war vollständig außer sich; sie bewegte zuckend die Glieder wie ein ergriffener Vogel; mehrmals wollte sie aufstehen und weggehen, ohne selbst recht zu wissen, wohin; dann wieder wandte sie sich an Betsy.



»Wir wollen wegfahren, wir wollen wegfahren!« sagte sie.



Aber Betsy hörte nicht nach ihr hin. Sich über die Brüstung der Loge hinabbeugend, sprach sie mit einem General, der zu ihr herangetreten war.



Alexei Alexandrowitsch ging zu Anna hin und bot ihr höflich seinen Arm.



»Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen«, sagte er auf französisch; aber Anna horchte darauf hin, was der General sagte, und beachtete ihren Mann gar nicht.



»Wie es heißt, hat er sich ebenfalls das Bein gebrochen«, sagte der General. »Eine ganz unerhörte Geschichte!«



Anna hob, ohne ihrem Manne zu antworten, das Glas an die Augen und blickte nach der Stelle hin, wo Wronski gestürzt war; aber die Entfernung war so weit und das Menschengedränge dort so groß, daß sich nichts unterscheiden ließ. Sie setzte das Glas wieder ab und wollte gehen; aber in diesem Augenblicke galoppierte ein Offizier herbei und machte dem Kaiser eine Meldung. Anna beugte sich vor, um zu hören.



»Stiwa, Stiwa!« rief sie ihrem Bruder zu.



Aber dieser hörte sie nicht. Wieder wollte sie aus der Loge hinaus.



»Ich biete Ihnen noch einmal meinen Arm an, wenn Sie weggehen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er ihre Hand berührte.



Mit einer Miene des Widerwillens wich sie von ihm zurück und antwortete, ohne ihm ins Gesicht zu sehen:



»Nein, nein, lassen Sie mich nur; ich bleibe hier.«



Sie sah jetzt, daß von dem Orte, wo Wronski gestürzt war, ein Offizier quer durch die Bahn zu der Tribüne eilte. Betsy winkte ihm mit dem Taschentuche, daß er zu ihr herankommen möchte. Der Offizier brachte die Nachricht, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen.



Sobald Anna dies gehört hatte, setzte sie sich schnell wieder hin und verbarg das Gesicht hinter dem Fächer. Alexei Alexandrowitsch sah, daß sie weinte und nicht imstande war, ihre Tränen zurückzuhalten oder das Aufschluchzen zu unterdrücken, unter dem sich ihre Brust hob. Er stellte sich als Deckung vor sie hin und wollte ihr so Zeit geben, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen.





»Ich biete Ihnen zum dritten Male meinen Arm an«, sagte er nach einiger Zeit. Anna blickte ihn an und schwankte, was sie ihm erwidern sollte. Aber die Fürstin Betsy kam ihr zu Hilfe.



»Nein, Alexei Alexandrowitsch, ich habe Anna hergebracht, und ich habe versprochen, sie auch wieder zurückzubringen«, mischte sie sich ein.



»Verzeihen Sie, Fürstin«, versetzte er; er lächelte höflich, blickte ihr jedoch fest in die Augen. »Aber ich sehe, daß Anna nicht ganz wohl ist, und möchte daher, daß sie mit mir fährt.«



Anna blickte erschrocken um sich, erhob sich gehorsam und legte ihre Hand in den Arm ihres Mannes.



»Ich will zu ihm schicken und mich erkundigen lassen und sende Ihnen dann Nachricht«, flüsterte Betsy ihr zu.



Beim Hinausgehen aus der Loge sprach Alexei Alexandrowitsch genauso wie sonst immer mit Bekannten, auf die sie trafen, und auch Anna sah sich genötigt zu antworten und zu reden wie immer; aber sie war halb bewußtlos und schritt wie im Traume am Arme ihres Mannes dahin.



›Ist er verletzt oder nicht? Ist es wahr, daß er unbeschädigt ist? Wird er kommen oder nicht? Werde ich ihn heute wiedersehen?‹ dachte sie.



Schweigend setzte sie sich in Alexei Alexandrowitschs Wagen, und schweigend fuhren sie aus dem Gedränge der Wagen hinaus. Trotz allem, was Alexei Alexandrowitsch gesehen hatte, vermied er es auch jetzt, über den wahren Seelenzustand seiner Frau nachzudenken. Er hatte nur äußere Merkmale gesehen. Er hatte gesehen, daß sie sich unpassend benommen hatte, und hielt es für seine Pflicht, ihr dies zu sagen. Aber es wurde ihm sehr schwer, nicht noch mehr zu sagen, sondern nur ebendies. Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, wie unpassend sie sich benommen habe; aber unwillkürlich sagte er etwas ganz anderes.



»Es ist doch seltsam, wie wir alle uns zu diesen schrecklichen Schauspielen hingezogen fühlen«, sagte er. »Ich bemerke ...«



»Was? Ich verstehe nicht«, unterbrach ihn Anna in geringschätzigem Tone.



Er fühlte sich gekränkt und begann nun sogleich von dem, was er eigentlich zu sagen beabsichtigt hatte.



»Ich muß Ihnen sagen ...«, fing er an.



›Jetzt kommt es, jetzt kommt die Aussprache‹, dachte sie, und es wurde ihr bange zumute.



»Ich muß Ihnen sagen, daß Sie sich heute unpassend benommen haben«, sagte er zu ihr auf französisch.

 



»Inwiefern habe ich mich unpassend benommen?« fragte sie laut; sie wandte rasch den Kopf zu ihm und blickte ihm gerade in die Augen, aber ganz und gar nicht mehr mit der früheren heuchlerischen Heiterkeit, sondern mit einer entschlossenen Miene, unter der sie nur mit Mühe ihre Angst verbarg.





»Vergessen Sie nicht ...«, sagte er und deutete auf das offene Fenster hinter dem Rücken des Kutschers hin.



Er erhob sich halb und zog die Scheibe in die Höhe.



»Was haben Sie unpassend gefunden?« fragte sie noch einmal.



»Die Verzweiflung, die Sie bei dem Sturze eines der Reiter nicht zu verbergen vermochten.«



Er wartete, was sie wohl erwidern werde; aber sie schwieg und blickte vor sich hin.



»Ich habe Sie schon früher einmal gebeten, sich in Gesellschaft so zu benehmen, daß auch die bösen Zungen nichts Nachteiliges über Sie sagen können. Es hat eine Zeit gegeben, da ich von dem innerlichen Verhältnis zwischen uns beiden sprach; davon spreche ich jetzt nicht mehr. Ich rede jetzt nur noch von unserem äußeren Verhältnis. Sie haben sich unpassend benommen, und ich möchte wünschen, daß sich das nicht wiederholt.«



Sie hatte kaum die Hälfte von dem gehört, was er gesagt hatte; sie fürchtete sich vor ihm, auch waren ihre Gedanken damit beschäftigt, ob es wohl wahr sei, daß Wronski sich nicht beschädigt habe. Hatte sich das auf ihn bezogen, als gesagt wurde, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen? Als ihr Mann zu Ende gesprochen hatte, beschränkte sie sich auf ein gekünsteltes, spöttisches Lächeln und gab ihm keine Antwort, weil ihr das, was er gesagt hatte, gar nicht zum Verständnis gekommen war. Alexei Alexandrowitsch war, als er anfing zu sprechen, festen Mutes gewesen; aber als er sich dann in voller Klarheit bewußt wurde, worüber er eigentlich sprach, da teilte sich die Furcht, die sie empfand, auch ihm mit. Er sah ihr Lächeln und geriet in einen seltsamen Irrtum.



›Sie lächelt über meinen Verdacht. Ja, sie wird im nächsten Augenblick dasselbe sagen, was sie mir damals gesagt hat: daß mein Verdacht unbegründet ist, daß er lächerlich ist.‹



Jetzt, wo die Enthüllung der ganzen Wahrheit wie ein Schwert über ihm schwebte, wünschte er nichts so sehr, als daß sie, wie das erste Mal, ihm spöttisch antworten möge, sein Verdacht sei lächerlich und ermangle jeder Begründung. Das, was er wußte, war so furchtbar, daß er jetzt bereit war, sich zu stellen, als ob er alles glaube. Aber der Ausdruck ihres Gesichtes, das angstvoll und finster aussah, benahm ihm die Hoffnung, daß sie wieder zur Lüge greifen werde.



»Vielleicht irre ich mich«, sagte er. »In diesem Falle bitte ich um Verzeihung.«



»Nein, Sie irren sich nicht«, erwiderte sie langsam und blickte voll Verzweiflung in sein kaltes Gesicht. »Ich war wirklich in Verzweiflung, und auch jetzt kann ich mich vor der Verzweiflung nicht retten. Ich höre Sie reden und denke an ihn. Ich liebe ihn, ich bin seine Geliebte; Sie sind mir unerträglich, ich fürchte mich vor Ihnen, ich hasse Sie ... Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«





Sie lehnte sich in eine Ecke des Wagens zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Alexei Alexandrowitsch saß da, ohne sich zu regen, und blickte unverändert wie vorher geradeaus. Aber sein ganzes Gesicht nahm plötzlich die feierliche Starrheit einer Leiche an und behielt diesen Ausdruck während der ganzen Fahrt bis zum Landhause bei. Als sie sich dem Hause näherten, wendete er seinen Kopf, immer noch mit dem gleichen Ausdrucke, nach ihr hin.



»Nun wohl! Aber ich verlange die Beobachtung des äußeren Anstandes bis zu dem Zeitpunkte«, hier begann seine Stimme zu zittern, »wo ich die nötigen Maßnahmen zur Wahrung meiner Ehre getroffen und Ihnen mitgeteilt haben werde.«



Er stieg zuerst aus und war ihr beim Aussteigen behilflich. Mit Rücksicht auf die Dienerschaft drückte er ihr die Hand; dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr nach Petersburg.



Gleich nach seiner Abfahrt kam ein Diener von der Fürstin Betsy und überbrachte Anna eine Karte:



»Ich habe zu Wronski hingeschickt und mich nach seinem Befinden erkundigen lassen; er schreibt mir, er sei gesund und unverletzt, aber in Verzweiflung.«



›Also wird er kommen‹, sagte sie sich. ›Wie gut habe ich daran getan, dem andern alles zu sagen.‹



Sie blickte auf die Uhr. Es fehlten noch dr