Anna Karenina | Krieg und Frieden

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25

Es beteiligten sich an dem Rennen im ganzen siebzehn Offiziere. Das Rennen sollte auf der großen, vier Werst langen, elliptischen Bahn vor der Tribüne vor sich gehen. Auf dieser Bahn waren neun Hindernisse angebracht: das Flüßchen, eine große, anderthalb Meter hohe, feste Hürde unmittelbar vor der Tribüne, ein trockener Graben, ein Wassergraben, ein doppelter Abhang, ein irischer Wall, der eines der schwierigsten Hindernisse war, bestehend aus einem mit Reisig besteckten Walle, hinter dem sich noch ein dem Pferde nicht sichtbarer Graben befand, so daß das Pferd entweder beide Hindernisse überspringen oder stürzen und sich schwer beschädigen mußte; dann noch zwei nasse Gräben und ein trockener. Das Ende der Bahn war der Tribüne gegenüber. Aber das Rennen begann nicht auf der Bahn selbst, sondern ungefähr zweihundert Meter seitwärts davon, und auf dieser Strecke befand sich das erste Hindernis: das aufgestaute Flüßchen in einer Breite von etwas mehr als zwei Metern; dieses konnten die Reiter nach ihrem Belieben entweder überspringen oder in einer Furt durchreiten.

Dreimal stellten sich die Reiter in gerader Linie auf; aber jedesmal brach das eine oder das andere Pferd vorzeitig vor, und alle mußten wieder zum Ausgangspunkte zurückreiten. Der Oberst Sestrin, ein erfahrener Starter, war schon ganz ärgerlich geworden, als er endlich zum vierten Male »Los!« rief und die Reiter sich ordnungsmäßig in Bewegung setzten.

Alle Augen, alle Operngläser waren auf das bunte Häuflein der Reiter gerichtet, als diese sich in Linie aufstellten.

»Sie sind gestartet! Sie laufen!« erscholl es nun nach der erwartungsvollen Stille von allen Seiten.

Gruppen von Fußgängern, auch einzelne, begannen von einer Stelle zur anderen zu laufen, um besser sehen zu können. Gleich im ersten Augenblick zog sich die geschlossene Reiterschar auseinander, und man konnte sehen, wie sie zu zweien, zu dreien, auch einer hinter dem anderen sich dem Flüßchen näherten. Die Zuschauer hatten den Eindruck gehabt, daß sie alle zugleich davongaloppiert waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte.

Die aufgeregte und gar zu nervöse Frou-Frou hatte den ersten Augenblick verpaßt, und mehrere Pferde hatten gleich vom Start an einen Vorsprung vor ihr; aber noch ehe sie das Flüßchen erreicht hatten, überholte Wronski, der mit aller Kraft das sich in die Zügel legende Pferd zurückhielt, mit Leichtigkeit drei seiner Vordermänner, und vor ihm blieb nur noch Machotins Fuchs Gladiator übrig, dessen Hinterteil unmittelbar vor Wronski leicht und gleichmäßig auf und nieder ging, und dann allen voraus die entzückende Diana, die den halb lebenden, halb toten Kusowlew trug.

In den ersten Augenblicken hatte Wronski weder sich noch sein Pferd in seiner Gewalt. Bis zum ersten Hindernisse, dem Flüßchen, war er nicht imstande, die Bewegungen seines Pferdes zu bestimmen.

Gladiator und Diana kamen zusammen dort an; fast im gleichen Augenblick richteten sie sich an dem Flüßchen auf und flogen nach der anderen Seite hinüber; sanft und unmerklich, als wenn sie flöge, schwang sich hinter ihnen Frou-Frou in die Höhe; aber in demselben Augenblicke, da Wronski sich in der Luft fühlte, erblickte er plötzlich, fast unter den Füßen Frou-Frous, Kusowlew, der sich mit seiner Diana am anderen Ufer des Flüßchens auf dem Boden wälzte. Kusowlew hatte nach dem Sprunge die Zügel fahren lassen, und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheiten erfuhr Wronski erst später; jetzt sah er nur, daß gerade unter Frou-Frous Füße, da, wo sie hintreten mußte, ein Bein oder der Kopf von Diana zu liegen kommen mußte. Aber Frou-Frou machte wie eine fallende Katze während des Sprunges eine kräftige Bewegung mit den Beinen und dem Rücken, wodurch sie einen Zusammenstoß mit dem anderen Pferde vermied, und jagte weiter.

›O du mein liebes Tierchen!‹ dachte Wronski.

Hinter dem Flüßchen hatte Wronski sein Pferd völlig in der Gewalt und begann es zurückzuhalten, da er beabsichtigte, die große Hürde erst nach Machotin zu nehmen und erst auf der folgenden, hindernisfreien Strecke von etwa vierhundert Metern zu versuchen, ob er ihn nicht überholen könne.

Die große Hürde stand unmittelbar vor der kaiserlichen Loge. Der Kaiser, der ganze Hof und die Volksmenge blickten nach ihnen, nach ihm und dem eine Pferdelänge vor ihm dahinjagenden Machotin, als sie sich dem Teufel (so wurde die feste Hürde genannt) näherten. Wronski fühlte diese Blicke, die sich von allen Seiten auf ihn richteten, aber er sah nichts als die Ohren und den Hals seines Pferdes und den Erdboden, der ihm scheinbar entgegengelaufen kam, und die Kruppe und die weißen Füße Gladiators, die schnell und taktmäßig vor ihm auf und nieder gingen und immer in derselben Entfernung von ihm blieben. Gladiator hob sich in die Höhe, sprang, ohne anzuschlagen, schwenkte den kurzen Schweif und entschwand Wronskis Blicken.

»Bravo!« rief eine Stimme.

In demselben Augenblick tauchten vor Wronskis Augen, unmittelbar vor ihm, die Bretter der Hürde auf. Ohne die geringste Veränderung seiner Bewegung hob sich das Pferd unter seinem Reiter in die Höhe, die Bretter verschwanden, und nur hinter sich hörte Wronski etwas anschlagen. Aufgeregt durch den voransprengenden Gladiator, hatte sich das Pferd vor der Hürde zu früh gehoben und mit einem Hinterfuße dagegen geschlagen. Aber sein Tempo änderte sich nicht, und Wronski, der ein Schmutzklümpchen ins Gesicht bekommen hatte, nahm wahr, daß er sich wieder in derselben Entfernung von Gladiator befand. Er sah wieder dessen Kruppe und kurzen Schweif vor sich, wieder dieselben sich nicht entfernenden, in schneller Bewegung begriffenen weißen Füße.

In demselben Augenblicke, als Wronski dachte, daß es jetzt an der Zeit sein dürfte, Machotin zu überholen, beschleunigte Frou-Frou von selbst, als ob sie seine Gedanken erraten hätte, ohne jede Aufmunterung ihren Lauf erheblich und begann sich Machotin zu nähern, und zwar von der vorteilhaftesten Seite, von der Strickseite. Aber Machotin gab die Strickseite nicht frei. Kaum regte sich bei Wronski der Gedanke, daß es möglich wäre, ihn auch auf der Außenseite zu überholen, als Frou-Frou auch schon den Fuß wechselte und das Überholen gerade auf diese Weise versuchte. Frou-Frous Schulter, die schon vom Schweiße eine dunklere Färbung annahm, kam in gleiche Linie mit Gladiators Kruppe. Einige Sprünge liefen sie nebeneinanderher. Aber vor dem Hindernis, dem sie sich jetzt näherten, begann Wronski, um nicht einen großen Kreis beschreiben zu müssen, mit den Zügeln zu arbeiten und überholte Machotin schnell gerade auf dem Doppelabhang. Er sah für einen Augenblick dessen von Schmutz bespritztes Gesicht. Es kam ihm sogar vor, als ob er lächle. Wronski hatte Machotin überholt; aber er fühlte ihn sofort hinter sich und hörte unaufhörlich nahe hinter seinem Rücken den gleichmäßigen Galopp und die noch ganz frisch klingenden Atemstöße Gladiators.

Die beiden folgenden Hindernisse, der Graben und die Hürde, wurden mit Leichtigkeit genommen; aber Wronski hörte das Schnauben und die Sätze Gladiators aus noch größerer Nähe. Er trieb sein Pferd an und spürte mit Freude, daß es ohne Mühe seinen Lauf beschleunigte und der Schall der Hufschläge Gladiators wieder aus der früheren Entfernung kam.

Wronski führte das Rennen, genau wie es seine Absicht gewesen war und wie es ihm Cord geraten hatte, und jetzt fühlte er sich seines Erfolges sicher. Seine Erregung, seine Freude und seine Zärtlichkeit für Frou-Frou wuchsen immer mehr. Gern hätte er sich umgesehen; aber er wagte nicht, dies zu tun, und war darauf bedacht, seine Ruhe wiederzugewinnen und das Pferd nicht anzutreiben, um ihm einen ebenso großen Vorrat an Kraft zu erhalten, wie ihn nach seiner Überzeugung Gladiator noch besaß. Es blieb noch ein besonders schwieriges Hindernis übrig; nahm er dieses früher als die anderen, so kam er als erster ans Ziel. Er jagte dem irischen Walle zu. Gleichzeitig mit Frou-Frou erblickte er diesen Wall schon von fern, und im selben Augenblick stieg in ihnen beiden, in ihm und dem Pferde, ein kurzer Zweifel auf. Er merkte an den Ohren des Pferdes eine gewisse Unentschlossenheit und hob die Peitsche, fühlte aber sofort, daß sein Zweifel unbegründet war: das Pferd wußte, was es zu tun hatte. Es erhöhte sein Tempo, und im gleichen Takte, genau wie der Reiter es sich vorausgedacht hatte, hob es sich in die Höhe, stieß sich von der Erde ab und überließ sich dem Beharrungsvermögen, durch das es weit über den Graben hinweggetragen wurde; und in ganz demselben Takte, ohne Anstrengung, mit demselben Fuße, jagte Frou-Frou weiter.

»Bravo, Wronski!« riefen ihm mehrere Stimmen aus einer Gruppe von Herren zu (er wußte, daß es Freunde aus seinem Regimente waren), die sich an diesem Hindernisse aufgestellt hatten. Er hörte unverkennbar Jaschwins Stimme heraus, sah ihn aber nicht.

›O du mein prächtiges Tier!‹ sagte er in seinem Inneren zu Frou-Frou und horchte dabei auf das hin, was hinter ihm vorging. ›Er ist hinübergekommen!‹ dachte er, als er Gladiators Hufschläge wieder hinter sich hörte. Jetzt war nur noch der letzte, anderthalb Meter breite Wassergraben übrig. Wronski blickte nicht einmal danach hin; aber in dem Wunsche, mit einem erheblichen Vorsprunge Erster zu werden, begann er mit den Zügeln kreisförmig zu arbeiten, indem er im Takte der Sätze den Kopf des Pferdes hob und senkte. Er fühlte, daß Frou-Frou den Lauf aus ihrem letzten Kräftevorrat bestritt; nicht nur ihr Hals und ihre Schultern waren naß, sondern auch am Widerrist, am Kopfe und an den spitzen Ohren saßen dicke Schweißtropfen, und sie atmete scharf und kurz. Aber er wußte, daß dieser Kräftevorrat für die noch übrigen vierhundert Meter völlig ausreichte. Nur daran, daß er sich dem Erdboden näher fühlte, und an der besonderen Weichheit der Bewegung merkte Wronski, wie sehr die Stute ihre Geschwindigkeit gesteigert hatte. Den Graben überflog sie, als ob sie ihn gar nicht bemerkte. Sie flog darüber hin wie ein Vogel; aber im selben Augenblicke fühlte Wronski zu seinem Schrecken, daß er sich der Bewegung des Pferdes nicht angepaßt, sondern – er wußte selbst nicht, wie es zugegangen war – eine abscheulich ungeschickte, unverzeihliche Bewegung gemacht, sich in den Sattel hatte zurückfallen lassen. Plötzlich änderte sich die Lage seines Körpers, und er begriff, daß sich etwas Furchtbares ereignet hatte. Er war noch nicht imstande, sich über das Geschehene klare Rechenschaft zu geben, als bereits dicht neben ihm die weißen Füße des Fuchshengstes auftauchten und Machotin in schnellem Galopp vorbeiflog. Wronski berührte mit dem einen Fuß die Erde, und sein Pferd sank über diesen Fuß nieder. Kaum hatte er Zeit gehabt, den Fuß herauszuziehen, als Frou-Frou auch schon auf eine Seite fiel, schwer röchelte und mit ihrem feinen, schweißbedeckten Halse vergebliche Anstrengungen machte, sich aufzurichten; sie schlug auf der Erde zu seinen Füßen um sich wie ein angeschossener Vogel. Durch seine ungeschickte Bewegung hatte Wronski ihr das Rückgrat gebrochen. Aber zum Verständnis dieses Herganges kam er erst weit später. Jetzt sah er nur, daß Machotin sich schnell entfernte, er selbst aber taumelnd, allein, auf der schmutzigen, unbeweglichen Erde dastand und vor ihm, schwer atmend, Frou-Frou lag und, den Kopf zu ihm hin drehend, ihn mit ihrem wundervollen Auge ansah. Immer noch ohne Verständnis des Geschehenen, riß Wronski die Stute am Zügel. Von neuem machte sie mit dem ganze Leibe krampfhafte Bewegungen wie ein Fisch, so daß die Sattelflügel knarrten; die Vorderfüße bekam sie frei; aber nicht imstande, das Hinterteil in die Höhe zu heben, kam sie sofort ins Schwanken und fiel wieder auf die Seite. Das Gesicht von Leidenschaft ganz entstellt, bleich und mit zitterndem Unterkiefer, stieß Wronski sie mit dem Stiefelabsatz gegen den Leib und begann von neuem am Zügel zu zerren. Aber sie bewegte sich nicht, drückte die Nase gegen die Erde und sah nur mit ihrem sprechenden Blicke ihren Herrn an.

 

»Aaah!« kam es bei Wronski wie ein Gebrüll heraus, und er griff sich an den Kopf. »Aaah! Was habe ich getan!« schrie er. »Und das Rennen habe ich verloren! Und es ist meine Schuld, meine eigene, schmähliche, unverzeihliche Schuld! Und dieses unglückliche, liebe, zugrunde gerichtete Pferd! Aaah! Was habe ich getan!«

Eine Menge Zuschauer, auch ein Arzt und ein Heilgehilfe sowie viele Offiziere seines Regiments kamen herbeigelaufen. Zu seinem Unglück fühlte er, daß er heil und unverletzt war. Das Pferd hatte sich den Rücken gebrochen und mußte erschossen werden. Wronski war nicht imstande, auf Fragen zu antworten und konnte mit niemandem sprechen. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze aufzuheben, die ihm vom Kopfe gefallen war, ging er aus der Rennbahn weg, er wußte selbst nicht, wohin. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er ein schweres, schweres Unglück durchzumachen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück und ein Unglück, an dem er selbst schuld war.

Jaschwin holte ihn mit der Mütze ein, begleitete ihn nach Hause, und nach einer halben Stunde erlangte Wronski seine Fassung wieder. Aber die Erinnerung an dieses Rennen blieb lange in seiner Seele die drückendste und quälendste seines Lebens.

26

Alexei Alexandrowitschs äußeres Verhältnis zu seiner Frau war dasselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er durch seine amtliche Tätigkeit noch stärker in Anspruch genommen war als früher. Wie in den vorhergehenden Jahren war er auch diesmal beim Beginn des Frühjahrs in ein ausländisches Bad gereist, um seine Gesundheit wiederherzustellen, die durch die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende winterliche Arbeit angegriffen war. Und wie gewöhnlich war er im Juli zurückgekehrt und hatte sich sofort mit doppelter Tatkraft wieder an seine gewohnte Arbeit gemacht. Und wie gewöhnlich war seine Frau in die Sommerfrische übergesiedelt, während er in Petersburg geblieben war.

Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nie wieder von seinem Verdachte und von seiner Eifersucht geredet, und sein gewöhnlicher Ton, durch den er andere Menschen nachahmte und verspottete, paßte in der denkbar besten Weise zu seinem jetzigen Verhältnis zu seiner Frau. Er benahm sich etwas kühler gegen sie. Es schien, als wäre er nur ein klein wenig unzufrieden mit ihr wegen jenes ersten nächtlichen Gespräches, das sie abgelehnt hatte. In der Art, wie er mit ihr verkehrte, lag eine leise Spur von Verdrossenheit, aber nicht mehr. ›Du hast dich mit mir nicht aussprechen wollen‹, sagte er gleichsam in Gedanken zu ihr, ›nun hast du davon den Schaden. Jetzt wirst du bald kommen und mich bitten; aber dann werde ich auf keine Aussprache mehr eingehen. Nun, wie du willst!‹ sagte er in Gedanken, wie wenn jemand nach vergeblichen Versuchen, einen Brand zu löschen, über die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen ärgerlich würde und zu dem brennenden Gegenstande sagte: ›Na, da hast du's; nun verbrennst du durch deine Schuld!‹

Er, dieser kluge und in dienstlichen Angelegenheiten so scharfsinnige Mann, begriff nicht, wie sinnlos ein solches Verhältnis zu seiner Frau war. Er begriff das nicht, weil er sich geradezu davor fürchtete, seine jetzige Lage zu verstehen, und in seiner Seele den Schubkasten, in dem sich sein Familiensinn befand, das heißt seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn, zugemacht, verschlossen und versiegelt hatte. Er, sonst ein so sorgsamer Vater, war seit dem Ende dieses Winters sehr kühl gegen seinen Sohn geworden und bediente sich ihm gegenüber desselben höhnischen Tones wie seiner Frau gegenüber. ›Nun, junger Mann?‹ pflegte er ihn anzureden.

Alexei Alexandrowitsch glaubte und sprach das auch aus, daß er noch in keinem Jahre amtlich so viel zu tun gehabt habe wie in diesem; aber er gestand sich nicht ein, daß er in diesem Jahre sich allerlei mühsame Geschäfte selbst erst aussann und daß dies eines der Mittel war, um jenes Fach nicht öffnen zu müssen, in dem seine Gefühle für seine Frau und seinen Sohn und seine Gedanken über diese beiden lagen und ihm, je länger sie dort lagen, um so furchtbarer wurden. Hätte jemand das Recht gehabt, Alexei Alexandrowitsch zu fragen, was er über das Betragen seiner Frau denke, so würde der sanfte, friedliche Alexei Alexandrowitsch nichts darauf geantwortet haben, wohl aber sehr zornig auf den Menschen geworden sein, der eine solche Frage an ihn gerichtet hätte. Aus ebendiesem Grunde nahm auch Alexei Alexandrowitschs Gesicht eine Miene stolzer, strenger Ablehnung an, wenn sich jemand bei ihm nach dem Befinden seiner Frau erkundigte. Er wollte an das Verhalten und an die Gefühle seiner Frau nicht denken und dachte auch wirklich nicht daran.

Das Landhaus, das Alexei Alexandrowitsch dauernd gemietet hatte, lag in Peterhof, und gewöhnlich verlebte auch die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer an demselben Orte, in Annas Nachbarschaft und in beständigem Verkehr mit ihr. Aber in diesem Jahre hatte die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, in Peterhof zu wohnen, war auch nicht ein einziges Mal bei Anna Arkadjewna zu Besuch gewesen und hatte Alexei Alexandrowitsch gegenüber auf die Unschicklichkeit von Annas engem Verkehr mit Betsy und Wronski andeutend hingewiesen. Alexei Alexandrowitsch hatte sie in scharfem Tone unterbrochen, seine Ansicht dahin ausgesprochen, seine Frau stehe über jedem Verdachte, und war seitdem einem Zusammentreffen mit der Gräfin Lydia Iwanowna aus dem Wege gegangen. Er wollte nicht sehen und sah wirklich nicht, daß in der Gesellschaft bereits viele Leute scheel auf seine Frau blickten; er wollte nicht begreifen und begriff wirklich nicht, warum seine Frau mit so besonderem Eifer gewünscht hatte, lieber nach Zarskoje Selo überzusiedeln, wo Betsy wohnte und von wo das Lager des Wronskischen Regiments nicht weit entfernt war. Er gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, und dachte auch wirklich nicht darüber nach; aber obgleich er es in seinem tiefsten Innern niemals gegen sich selbst aussprach und keinerlei Beweise, ja nicht einmal Verdachtsgründe dafür hatte, war er doch mit zweifelloser Sicherheit davon überzeugt, daß er ein betrogener Ehemann war, und war darüber tief unglücklich.

Wie oft hatte Alexei Alexandrowitsch während seines achtjährigen glücklichen Zusammenlebens mit seiner Frau im Hinblick auf fremde treulose Ehefrauen und betrogene Ehemänner bei sich selbst gesagt: ›Wie kann man es nur so weit kommen lassen? Wie kann man nur eine so greuliche Lage fortdauern lassen, statt ihr mit starker Hand ein Ende zu machen?‹ Aber jetzt, wo dieses Unglück sein eigenes Haupt betroffen hatte, dachte er nicht daran, dieser Lage ein Ende zu machen, ja, er wollte sie überhaupt nicht kennen, wollte sie ebendeshalb nicht kennen, weil sie gar zu schrecklich, gar zu widernatürlich war.

Seit seiner Rückkehr aus dem Auslande war Alexei Alexandrowitsch zweimal im Landhause gewesen. Das eine Mal hatte er dort zu Mittag gegessen, das andere Mal einen Abend mit Gästen dort verlebt; aber übernachtet hatte er dort nie, was er doch in früheren Jahren zu tun gewohnt gewesen war.

Der Tag des Rennens war für Alexei Alexandrowitsch besonders stark besetzt; er hatte sich schon am Morgen einen genauen Tagesplan entworfen und beschlossen, gleich nach einem frühen Mittagessen zu seiner Frau nach dem Landhause zu fahren und von dort zum Rennen, für welches das Erscheinen des ganzen Hofes angesagt war und bei dem er daher auch anwesend sein mußte. Zu seiner Frau wollte er deswegen heranfahren, weil er sich vorgenommen hatte, sie des Anstandes wegen einmal in der Woche zu besuchen. Außerdem mußte er ihr an diesem Tage, als dem fünfzehnten des Monats, der eingeführten Ordnung gemäß das Wirtschaftsgeld einhändigen.

Wie gewöhnlich hielt er seine Gedanken in strenger Zucht und gestattete ihnen, während er das alles in bezug auf seine Frau überlegte, nicht, sich über diese Grenze hinaus mit Dingen, die seine Frau betrafen, zu beschäftigen.

Den Vormittag über hatte Alexei Alexandrowitsch außerordentlich viel zu tun. Tags zuvor hatte ihm die Gräfin Lydia Iwanowna eine Schrift eines berühmten, zur Zeit sich in Petersburg aufhaltenden Chinareisenden zugesandt, nebst einem Briefe, in dem sie ihn bat, den Reisenden, als einen in vieler Hinsicht interessanten und wertvollen Mann, persönlich zu empfangen. Alexei Alexandrowitsch hatte am Abend nicht mehr Zeit gehabt, die Schrift ganz durchzulesen, und las sie nun am Morgen zu Ende. Dann erschienen Bittsteller; es begannen die Vorträge, die Empfänge, die Beschlußfassung über Ernennung und Absetzung von Beamten, über zu erteilende Gratifikationen, Pensionen, Gehälter; dann mußte mancherlei Briefwechsel erledigt werden: lauter Handwerksarbeit, wie Alexei Alexandrowitsch sich ausdrückte, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Darauf folgte eine persönliche Angelegenheit: der Besuch seines Arztes und der seines Geschäftsführers. Dieser nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Der Geschäftsführer übergab ihm nur die nötigen Gelder und erstattete einen kurzen Rechenschaftsbericht über den Stand der Vermögensangelegenheiten; dieser Stand war nicht besonders erfreulich, da im letzten Jahre infolge der häufigen Reisen die Ausgaben ungewöhnlich groß gewesen waren, so daß sich ein Fehlbetrag ergab. Dagegen nahm der Arzt, der einer der angesehensten in Petersburg und mit Alexei Alexandrowitsch persönlich befreundet war, recht viel Zeit in Anspruch. Alexei Alexandrowitsch hatte ihn an diesem Tage gar nicht erwartet und war über sein Erscheinen erstaunt und noch mehr darüber, daß der Arzt ihn sehr eingehend über seinen Gesundheitszustand ausfragte, seine Brust behorchte und seine Leber beklopfte und befühlte. Alexei Alexandrowitsch wußte nicht, daß seine Freundin Lydia Iwanowna auf Grund ihrer Wahrnehmung, daß Alexei Alexandrowitschs Gesundheit in diesem Jahre gar nicht gut sei, den Arzt gebeten hatte, doch einmal zu ihm zu fahren und den Kranken zu untersuchen. ›Tun Sie es um meinetwillen!‹ hatte die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt.

›Ich werde es um Rußlands willen tun, Gräfin‹, hatte der Arzt erwidert.

›Ja, er ist ein unschätzbarer Mann!‹ hatte die Gräfin ausgerufen.

Der Arzt war mit Alexei Alexandrowitsch sehr unzufrieden. Er fand, daß die Leber bedeutend vergrößert, die Ernährung vermindert und der Erfolg der Badekur gleich Null sei. Er verordnete ihm möglichst viel körperliche Bewegung und möglichst wenig geistige Anstrengung und vor allen Dingen Vermeidung aller Aufregung, also gerade etwas, was für Alexei Alexandrowitsch ebenso unmöglich war wie die Unterlassung des Atemholens. Und als der Arzt sich entfernt hatte, blieb Alexei Alexandrowitsch mit dem unangenehmen Bewußtsein zurück, daß irgend etwas mit ihm nicht richtig sei und daß es dafür keine Heilung gebe.

 

Als der Arzt von Alexei Alexandrowitsch weggegangen war, stieß er auf den Stufen vor der Haustür mit dem ihm wohlbekannten Herrn Sljudin, dem Subdirektor Alexei Alexandrowitschs, zusammen. Sie kannten sich von der Universität her, und obgleich sie jetzt nur selten miteinander zusammenkamen, schätzten sie sich doch wechselseitig sehr und waren gute Freunde; und darum sprach der Arzt zu Sljudin seine Meinung über den Patienten offenherziger aus, als er es irgendeinem anderen gegenüber getan haben würde.

»Wie freue ich mich, daß Sie bei ihm gewesen sind«, sagte Sljudin. »Er ist nicht recht gesund, und mir scheint ... Nun, wie steht es?«

»Die Sache ist die«, antwortete der Arzt und winkte über Sljudins Kopf hinweg seinem Kutscher zu, er möchte vorfahren, »die Sache ist die«, sagte er noch einmal, indem er einen Finger eines seiner Glacéhandschuhe mit seinen beiden weißen Händen faßte und straff zog, »wenn Sie eine Saite nicht spannen und sie in diesem Zustand zu zerreißen versuchen, so ist das sehr schwer; aber spannen Sie sie bis zum äußersten Grade der Möglichkeit an und üben Sie dann nur einen mäßigen Druck mit dem Finger aus, so wird sie reißen. Und er bei seiner unausgesetzten Tätigkeit, bei seiner Gewissenhaftigkeit im Arbeiten, er ist bis zum äußersten Grade angespannt, und ein anderweitiger Druck ist vorhanden, und zwar ein recht schwerer Druck«, schloß der Arzt und zog dabei die Brauen bedeutsam in die Höhe. »Werden Sie bei dem Rennen sein?« fügte er hinzu, während er in den Wagen stieg, der inzwischen vorgefahren war. »Ja, ja, selbstverständlich, es raubt einem viel Zeit«, antwortete er noch auf etwas, was Sljudin gesagt, er selbst aber nicht mehr deutlich verstanden hatte.

Nach dem Arzte, dessen Besuch soviel Zeit gekostet hatte, erschien der berühmte Reisende, und Alexei Alexandrowitsch, der sowohl seine früheren Kenntnisse von diesem Gegenstande wie auch die soeben beim Lesen der Schrift neugewonnenen im Gespräche verwertete, überraschte den Reisenden durch sein tiefes Wissen auf diesem Gebiete und durch seinen weitreichenden, klaren Blick für diese Dinge.

Zugleich mit dem Reisenden wurde ihm auch der Besuch eines Gouvernements-Adelsmarschalls gemeldet, der nach Petersburg gekommen war und mit dem er verhandeln mußte. Nachdem dieser wieder gegangen war, mußte die ›Handwerksarbeit‹ mit dem Subdirektor zu Ende geführt werden, und dann mußte sich Alexei Alexandrowitsch noch wegen einer sehr ernsten, wichtigen Sache zu einer hochgestellten Persönlichkeit begeben. Er brachte es nur mit Mühe fertig, um fünf Uhr, der von ihm für das Mittagessen festgesetzten Zeit, zurück zu sein, und nachdem er mit seinem Subdirektor zusammen gespeist hatte, lud er diesen ein, mit ihm nach dem Landhause und zum Rennen zu fahren.

Ohne sich selbst über den Grund dieser Handlungsweise Rechenschaft abzulegen, suchte Alexei Alexandrowitsch es jetzt immer so einzurichten, daß er mit seiner Frau nur in Gegenwart eines Dritten zusammen war.