Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Nachdem die Fürstin Mjachkaja so Annas Freundin gebührendermaßen abgestraft hatte, stand sie auf und ging zusammen mit der Frau des Gesandten zum Tische hin, wo ein allgemeines Gespräch über den König von Preußen im Gange war.

»Wer ist denn da bei Ihnen eben verlästert worden?«

»Die Karenins. Die Fürstin hat uns ein Charakterbild von Alexei Alexandrowitsch entworfen«, antwortete die Frau des Gesandten und setzte sich lächelnd an den Tisch.

»Schade, daß wir das nicht gehört haben!« erwiderte die Hausfrau und blickte nach der Eingangstür. »Ah, da sind Sie ja endlich!« rief sie lächelnd dem eintretenden Wronski zu.

Wronski war nicht nur mit allen, die er da vorfand, bekannt, sondern kam auch täglich mit ihnen allen zusammen, und darum trat er mit jener ruhigen Haltung ein, mit der man in ein Zimmer zu Leuten hereinkommt, die man soeben erst für einen Augenblick verlassen hat.

»Wo ich herkomme?« antwortete er auf die Frage der Frau des Gesandten. »Da hilft nun schon nichts, ich muß es gestehen: aus der komischen Oper im Französischen Theater. Ich bin wohl schon hundertmal dort gewesen und immer mit neuem Vergnügen. Es ist ein wahrer Genuß! Ich weiß, ich sollte mich schämen; aber in der Oper schlafe ich ein, während ich in der komischen Oper bis zum letzten Augenblick aushalte und mich himmlisch unterhalte. Heute ...«

Er nannte eine französische Schauspielerin und wollte etwas über sie erzählen, aber die Frau des Gesandten unterbrach ihn mit scherzhaft geheucheltem Entsetzen: »Bitte, erzählen Sie uns nichts von diesen abscheulichen Sachen!«

»Nun, dann will ich es unterlassen, und das kann ich ja um so eher, da diese abscheulichen Sachen Ihnen allen bekannt sind.«

»Und alle würden die komische Oper genauso besuchen wie jetzt die Oper, wenn es nur Mode wäre«, fügte die Fürstin Mjachkaja hinzu.

7

An der Eingangstür wurden Schritte vernehmbar, und die Fürstin Betsy, die wußte, daß es Frau Karenina war, warf einen Blick auf Wronski. Er sah nach der Tür hin, und sein Gesicht zeigte einen neuen, seltsamen Ausdruck. Freudig, unverwandt und doch auch zugleich schüchtern blickte er die Eintretende an und erhob sich langsam. Anna trat in den Salon. Sie hielt sich, wie immer, sehr gerade und legte, ohne die Richtung ihres Blickes zu ändern, mit ihrem schnellen, leichten, festen Schritte, durch den sie sich von dem Gange anderer vornehmer Damen unterschied, die kleine Entfernung zurück, die sie von der Hausfrau trennte, drückte ihr die Hand, lächelte und sah sich mit diesem selben Lächeln nach Wronski um. Wronski verbeugte sich tief und schob ihr einen Stuhl heran.

Sie antwortete nur mit einer Neigung des Kopfes, errötete und machte ein strenges Gesicht. Aber im nächsten Augenblick nickte sie auch schon rasch ihren Bekannten zu, drückte die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, und wandte sich zur Hausfrau:

»Ich war bei der Gräfin Lydia und wollte schon früher zu Ihnen kommen, habe mich aber dort etwas zu lange aufgehalten. Sir John war bei ihr. Ein sehr interessanter Mann.«

»Ah, das ist der Missionar?«

»Ja, er erzählte in fesselnder Weise von dem Leben in Indien.«

Das Gespräch, das durch Annas Ankunft unterbrochen war, flackerte wieder auf wie die Flamme einer im Zugwinde stehenden Lampe.

»Sir John! Jawohl, Sir John. Ich habe ihn gesehen. Er spricht sehr gut. Frau Wlasjewna ist ganz verliebt in ihn.«

»Ist das denn wahr, daß das jüngste Fräulein Wlasjewna Herrn Topow heiratet?«

»Ja, es heißt, das sei beschlossene Sache.«

»Ich wundere mich über die Eltern. Es wird gesagt, es sei eine Liebesheirat.«

»Eine Liebesheirat? Was haben Sie für vorsintflutliche Ideen! Wer spricht heutzutage noch von Liebe?« sagte die Frau des Gesandten.

»Was ist zu machen? Diese dumme alte Mode will immer noch nicht abkommen«, bemerkte Wronski.

»Schlimm für die, die sich noch nach dieser Mode richten. Ich kenne nur solche glückliche Ehen, die aus Vernunftgründen geschlossen wurden.«

»Aber wie oft verweht doch auch das Glück solcher Vernunftehen wie Staub eben deswegen, weil jene Leidenschaft auf den Plan tritt, der man vorher keine Berechtigung zugestehen wollte«, erwiderte Wronski.

»Aber Vernunftehen nennen wir diejenigen, bei denen schon beide Teile sich ausgetobt haben. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Scharlachfieber. Man muß es durchgemacht haben.«

»Dann müßte man ein Verfahren ausfindig machen, jemandem künstlich die Liebe einzuimpfen wie die Pocken.«

»Ich bin in meiner Jugend in einen Küster verliebt gewesen«, sagte die Fürstin Mjachkaja. »Ich weiß nicht, ob mir das geholfen hat.«

»Nein, ohne Scherz, ich glaube, um zu wissen, was Liebe ist, muß man sich erst einmal irren und dann den Irrtum richtigstellen«, meinte die Fürstin Betsy.

»Auch noch nach der Eheschließung?« fragte die Frau des Gesandten scherzhaft.

»Sich zu bessern, dazu ist es nie zu spät«, zitierte der Diplomat ein englisches Sprichwort.

»Ja, so ist es«, fiel Betsy ein, »man muß sich zuerst irren und dann den Irrtum berichtigen. Wie denken Sie darüber?« wandte sie sich an Anna, die mit einem kaum wahrnehmbaren, starren Lächeln auf den Lippen dieses Gespräch mit anhörte.

»Ich denke«, antwortete Anna, mit dem einen ausgezogenen Handschuh spielend, »ich denke ... wie man sagt: wieviel Köpfe, soviel Sinne, so kann man auch sagen: wieviel Herzen, soviel Arten von Liebe.«

Wronski hatte Anna angesehen und mit Herzbeklemmung gewartet, was sie wohl sagen werde. Als sie diese Antwort gegeben hatte, seufzte er auf wie nach einer überstandenen Gefahr.

Anna wandte sich plötzlich an ihn:

»Ich habe einen Brief aus Moskau erhalten. Man schreibt mir, daß Kitty Schtscherbazkaja sehr krank sei.«

»Wirklich?« erwiderte Wronski stirnrunzelnd.

Anna sah ihn mit strengem Blicke an.

»Interessiert Sie das nicht?«

»O doch, sehr. Was schreibt man Ihnen denn Näheres, wenn ich danach fragen darf?« entgegnete er.

Anna stand auf und trat zu Betsy hin.

»Wollen Sie mir eine Tasse Tee geben?« sagte sie, indem sie hinter ihrem Stuhle stehen blieb.

Während Betsy ihr Tee eingoß, kam Wronski wieder zu Anna heran.

»Was schreibt man Ihnen denn?« fragte er noch einmal.

»Ich denke oft, daß die Männer kein Verständnis dafür haben, was unedel ist, obwohl sie soviel davon reden«, sagte Anna, ohne auf seine Frage zu antworten. »Ich wollte Ihnen das schon lange sagen«, fügte sie hinzu; dann ging sie einige Schritte weiter und setzte sich an einen Ecktisch mit Albums.

»Ich verstehe den Sinn Ihrer Worte nicht ganz«, sagte er, indem er ihr die Tasse dorthin brachte.

Sie blickte nach dem freien Platze auf dem Sofa neben dem ihrigen, und er setzte sich sogleich hin.

»Ja, ich wollte Ihnen das sagen«, wiederholte sie, ohne ihn anzusehen. »Sie haben schlecht gehandelt, schlecht, sehr schlecht.«

»Weiß ich das denn etwa nicht selbst, daß ich schlecht gehandelt habe? Aber wer ist die Ursache, daß ich so gehandelt habe?«

»Warum sagen Sie mir das?« erwiderte sie und sah ihn mit einem strengen Blicke an.

»Sie wissen, warum«, antwortete er kühn und freudig, indem er ihrem Blicke begegnete, ohne die Augen niederzuschlagen.

Nicht er, sondern sie wurde verlegen.

»Das beweist nur, daß Sie kein Herz haben«, versetzte sie. Aber ihr Blick sagte, daß sie wisse, er habe ein Herz, und daß sie ihn deshalb fürchte.

»Das, wovon Sie soeben gesprochen haben, war der Irrtum und nicht die Liebe«, sagte Wronski.

»Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen verboten habe, dieses Wort, dieses häßliche Wort auszusprechen«, versetzte Anna zusammenzuckend; aber im gleichen Augenblicke merkte sie, daß sie schon durch die bloße Verwendung des Ausdruckes »ich habe Ihnen verboten« gezeigt habe, daß sie ein gewisses Recht über ihn für sich in Anspruch nehme, und sie sagte sich, daß sie ihn gerade dadurch dazu ermutige, von seiner Liebe zu reden. »Ich habe Ihnen das schon längst sagen wollen«, fuhr sie fort, während sie ihm entschlossen in die Augen blickte und von einer brennenden Glut über das ganze Gesicht errötete, »und heute bin ich absichtlich hierhergekommen, weil ich wußte, daß ich Sie hier träfe. Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß dies ein Ende nehmen muß. Ich habe noch nie vor jemand zu erröten brauchen; aber Sie erwecken in mir eine Art von Schuldbewußtsein.«

Er sah sie an und war überrascht von der neuen seelischen Schönheit ihres Gesichtes.

»Was verlangen Sie von mir?« fragte er in schlichtem, ernstem Tone.

»Ich verlange, daß Sie nach Moskau reisen und Kitty um Verzeihung bitten«, antwortete sie.

»Das verlangen Sie in Wirklichkeit nicht«, erwiderte er.

Er sah, daß sie etwas gesagt hatte, wozu sie sich selbst erst hatte zwingen müssen und was ihrer wahren Meinung nicht entsprach.

»Wenn Sie mich lieben, wie Sie ja sagen«, flüsterte sie, »so geben Sie mir meine Ruhe wieder.«

Sein Gesicht leuchtete auf.

»Wissen Sie denn nicht, daß Sie für mich das ganze Leben bedeuten? Aber Ruhe kenne ich nicht und kann ich Ihnen nicht geben. Mein ganzes Ich, meine Liebe, – ja. Ich kann mir Sie und mich nicht mehr getrennt denken. Sie und ich sind für mich eines. Und ich sehe in der Zukunft keine Möglichkeit der Ruhe, weder für mich noch für Sie. Ich sehe die Möglichkeit des Unglücks, der Verzweiflung, – und ich sehe die Möglichkeit des Glückes, und welch eines Glückes! – Ist denn etwa dieses Glück nicht möglich?« fügte er nur durch Bewegungen der Lippen hinzu, aber sie glaubte die Worte zu hören.

 

Sie strengte alle Kräfte ihres Geistes an, um das zu sagen, was zu sagen ihre Pflicht war; aber statt dies zu tun, richtete sie ihren Blick auf ihn, einen Blick voll Liebe, und antwortete gar nichts.

›Da ist es!‹ dachte er voll Jubel. ›In dem Augenblick, da ich schon verzweifelte und alles aussichtslos schien, – nun ist es auf einmal da! Sie liebt mich! Sie gesteht es selbst!‹

»So tun Sie eines um meinetwillen: Sprechen Sie nie wieder solche Worte zu mir, und dann wollen wir gute Freunde sein«, so sprach ihr Mund, aber ihr Blick redete etwas ganz anderes.

»Freunde können wir nicht sein; das wissen Sie selbst. Aber ob wir die glücklichsten oder die unglücklichsten aller Menschen sein werden, das hängt von Ihnen ab.«

Sie wollte etwas sagen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen:

»Ich bitte ja nur um dies: ich bitte nur um das Recht, weiter hoffen, weiter leiden zu dürfen wie jetzt; aber wenn auch das unmöglich ist, so befehlen Sie mir, zu verschwinden, und ich werde verschwinden. Sie sollen mich nicht mehr sehen, wenn meine Gegenwart Ihnen lästig ist.«

»Ich will Sie nicht vertreiben.«

»Dann lassen Sie, bitte, einfach alles, wie es ist; ändern Sie nichts«, sagte er mit zitternder Stimme. »Da kommt Ihr Mann.«

In der Tat trat in diesem Augenblick Alexei Alexandrowitsch mit seinem ruhigen, plumpen Gang in den Salon.

Nachdem er einen Blick nach seiner Frau und Wronski hin geworfen hatte, ging er zur Hausfrau, setzte sich zu einer Tasse Tee nieder und begann mit seiner langsamen, stets laut vernehmlichen Stimme zu reden, in seinem gewöhnlichen Tone ironischer Neckerei.

»Ihr Rambouillet scheint ja vollzählig versammelt zu sein«, bemerkte er, indem er seinen Blick über die ganze Gesellschaft schweifen ließ. »Die Grazien und die Musen.«

Aber die Fürstin konnte diesen Ton an ihm nicht ausstehen, dieses sneering, wie sie es nannte, und verwickelte ihn daher als kluge Wirtin sofort in ein ernsthaftes Gespräch über die allgemeine Wehrpflicht. Alexei Alexandrowitsch geriet bei diesem Gegenstande sogleich in Eifer und begann, nunmehr ganz ernst, das neue Gesetz gegen die Fürstin Betsy zu verteidigen, die es lebhaft bekämpfte.

Wronski und Anna waren an dem kleinen Tisch sitzen geblieben.

»Das fängt aber an, unschicklich zu werden«, flüsterte eine der Damen und wies mit den Augen auf Wronski, Frau Karenina und ihren Mann.

»Nun, was habe ich Ihnen gesagt?« antwortete Annas Freundin.

Aber nicht diese beiden Damen allein, sondern fast alle Gäste, die im Salon waren, sogar die Fürstin Mjachkaja und Betsy selbst, blickten immer wieder nach den beiden hin, die sich von dem allgemeinen Kreise abgesondert hatten, als ob das Zusammensein mit allen sie störe. Nur Alexei Alexandrowitsch sah nicht ein einziges Mal nach jener Seite hinüber und ließ sich von dem interessanten Gespräche, in das er sich eingelassen hatte, nicht ablenken.

Als Betsy bemerkte, welchen unangenehmen Eindruck jene Absonderung auf alle machte, veranlaßte sie jemand anderes, an ihrer Statt die Auseinandersetzungen Alexei Alexandrowitschs anzuhören, und trat zu Anna hin.

»Ich staune immer von neuem über die klare, bestimmte Ausdrucksweise Ihres Mannes«, sagte sie. »Die transzendentalsten Begriffe werden mir verständlich, wenn er über sie spricht.«

»O ja«, antwortete Anna; ihr ganzes Gesicht strahlte von einem glücklichen Lächeln, aber sie hatte auch nicht ein Wort verstanden von dem, was Betsy zu ihr gesagt hatte. Sie ging zu dem großen Tische hinüber und nahm an der allgemeinen Unterhaltung teil.

Nachdem Alexei Alexandrowitsch eine halbe Stunde gesessen hatte, trat er zu seiner Frau und schlug ihr vor, mit ihm zusammen nach Hause zu fahren; aber sie antwortete, ohne ihn anzublicken, sie wolle zum Abendessen dableiben. Alexei Alexandrowitsch verabschiedete sich und ging weg.

Der Kutscher der Frau Karenina, ein alter dicker Tatar in glanzledernem Mantel, hielt an der Ausfahrt nur mit Mühe den linken der beiden Grauen zurück, der frierend sich bäumte. Der Diener stand an dem geöffneten Wagenschlag. Der Pförtner stand gleichfalls an der Außentür, die Hand an der Klinke. Anna Arkadjewna nestelte mit ihrer kleinen, flinken Hand den Spitzenbesatz ihres Kleiderärmels von einem Haken ihres Pelzes los und hörte mit vorgebeugtem Kopf voll Entzücken auf die Worte des sie hinausbegleitenden Wronski.

»Sie haben allerdings nichts gesagt, und ich verlange auch nichts«, sagte er; »aber Sie wissen, daß ich Freundschaft nicht brauchen kann. Für mich ist nur ein Glück im Leben möglich, eben jenes Wort, das Sie so gar nicht leiden mögen, – ja, die Liebe.«

»Die Liebe«, wiederholte sie langsam, wie aus tiefster Brust, und fügte plötzlich in dem Augenblicke, da sie ihre Spitzen los bekommen hatte, hinzu: »Ich mag dieses Wort deshalb nicht leiden, weil es nach meiner Auffassung gar zuviel bedeutet, weit mehr, als Sie sich vorstellen können.« Sie blickte ihm voll ins Gesicht: »Auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm die Hand, ging mit schnellem, elastischem Schritte an dem Pförtner vorbei und verschwand im Wagen.

Ihren Blick und die Berührung ihrer Hand empfand er wie ein sengendes Feuer. Er küßte seine eigene Hand an der Stelle, wo Anna sie berührt hatte, und fuhr hochbeglückt nach Hause in dem Bewußtsein, daß er an dem heutigen Abende größere Fortschritte in der Richtung auf sein Ziel zu gemacht hatte als in den letzten beiden Monaten.

8

Alexei Alexandrowitsch hatte nichts Auffälliges und Unschickliches darin gefunden, daß seine Frau mit Wronski an einem besonderen Tisch gesessen und mit ihm ein lebhaftes Gespräch über irgendwelchen Gegenstand geführt hatte; aber er hatte gemerkt, daß dies den anderen Anwesenden eigentümlich und unpassend erschienen war, und darum erschien es ihm gleichfalls unpassend. Er kam zu der Überzeugung, daß er mit seiner Frau darüber sprechen müsse.

Nach Hause zurückgekehrt, ging er, wie er das regelmäßig tat, in sein Arbeitszimmer und setzte sich in seinen Lehnstuhl, schlug ein Buch über das Papsttum an der Stelle auf, wo das Papiermesser eingelegt war, und las wie gewöhnlich bis ein Uhr, aber ab und zu fuhr er sich mit der Hand über die hohe Stirn und schüttelte mit dem Kopfe, wie wenn er etwas wegscheuchen wollte. Zur gewohnten Stunde stand er auf und machte seine Nachttoilette. Anna Arkadjewna war noch nicht heimgekehrt. Mit dem Buche unter dem Arme ging er hinauf; aber während seine Gedanken und Überlegungen sich sonst um dienstliche Angelegenheiten zu drehen pflegten, beschäftigten sie sich am heutigen Abend mit seiner Frau und mit irgend etwas Unangenehmem, das sich mit ihr zugetragen hatte. Gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht zu Bett, sondern begann, die Hände mit zusammengehakten Fingern auf dem Rücken haltend, durch die Zimmerreihe hin und her zu wandern. Er konnte sich nicht hinlegen, da er fühlte, daß er vorher unbedingt diesen neu aufgetauchten Umstand nach allen Richtungen durchdenken müsse.

Als Alexei Alexandrowitsch bei sich zu dem Entschlusse gelangt war, mit seiner Frau zu reden, war ihm dies als etwas sehr Leichtes und Einfaches erschienen; aber jetzt, da er diesen neu aufgetauchten Umstand zu durchdenken begann, erschien er ihm als etwas recht Verwickeltes und Schwieriges.

Alexei Alexandrowitsch war nicht eifersüchtig. Eifersucht war nach seiner Anschauung eine Beleidigung für die Gattin; zur Gattin mußte man Vertrauen haben. Warum er Vertrauen haben müsse, das heißt die volle Zuversicht haben müsse, daß seine junge Frau ihn immer lieben werde, das hatte er sich nie gefragt; aber er empfand nie Mißtrauen, daher hatte er eben Vertrauen und sagte sich, daß man es haben müsse. Jetzt nun war seine Überzeugung, daß Eifersucht ein unwürdiges Gefühl sei und daß man Vertrauen haben müsse, allerdings in keiner Weise erschüttert, aber er hatte doch das Gefühl, daß er etwas Unlogischem und Unvernünftigem gegenüberstehe, und wußte nicht, wie er sich zu verhalten habe. Alexei Alexandrowitsch stand jetzt dem wirklichen Leben gegenüber, stand der Möglichkeit gegenüber, daß seine Frau noch jemand anderes als ihn liebe, und dies erschien ihm ganz sinnlos und unbegreiflich, weil es eben das wirkliche Leben war. Von jungen Jahren an hatte Alexei Alexandrowitsch in der Amtsluft gelebt und gearbeitet und es dort immer nur mit einem matten Abglanze des Lebens zu tun gehabt. Und jedesmal, wenn er mit dem wirklichen Leben zusammengestoßen war, war er ihm ausgewichen. Jetzt machte er ein Gefühl durch, ähnlich dem, wie es wohl jemand haben würde, der ruhig auf einer Brücke über einem Abgrunde dahinwandert und auf einmal sieht, daß vor seinen Füßen die Brücke abgebrochen ist und daß dort ein tiefer Schlund gähnt. Dieser tiefe Schlund war das wirkliche Leben, die Brücke jenes künstliche Leben, das Alexei Alexandrowitsch bis jetzt gelebt hatte. Zum ersten Male kam ihm ein Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Frau einen anderen lieben könne, und er erschrak tief vor dieser Möglichkeit.

Er kleidete sich nicht aus, sondern ging mit seinem gleichmäßigen Schritte hin und her, über den schallenden Parkettfußboden des Eßzimmers, das nur durch eine Lampe erleuchtet war, über den Teppich des dunklen Salons, wo ein Lichtschimmer nur von seinem eigenen großen Bilde widergespiegelt wurde, das, erst kürzlich angefertigt, über dem Sofa hing, und durch das Zimmer seiner Frau, wo zwei Kerzen brannten und ihr Licht über die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen und über die hübschen, ihm längst wohlbekannten Sächelchen auf ihrem Schreibtische verbreiteten. Durch ihr Zimmer ging er bis an die Tür des Schlafzimmers und kehrte dann wieder um.

Bei jeder Wiederholung dieser Wanderung, und zwar meistenteils auf dem Parkett des erleuchteten Eßzimmers, blieb er stehen und sagte zu sich selbst: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber und meinen Entschluß mitteilen.‹ Er wandte sich um und ging zurück. ›Aber was soll ich ihr denn eigentlich sagen? Was für einen Entschluß soll ich ihr mitteilen?‹ fragte er sich im Salon und fand darauf keine Antwort. ›Aber schließlich‹, fragte er sich, ehe er in das Zimmer seiner Frau einbog, ›was ist denn eigentlich geschehen? Nichts. Sie hat lange mit ihm gesprochen. Was ist dabei? Warum soll nicht eine Dame in Gesellschaft mit jemandem reden dürfen? Und deswegen eifersüchtig zu sein, das heißt sie und sich selbst erniedrigen‹, sagte er zu sich, während er in ihr Zimmer eintrat. Aber diese Erwägung, die früher bei ihm so stark ins Gewicht gefallen war, hatte jetzt für ihn gar kein Gewicht und gar keine Bedeutung mehr. An der Tür des Schlafzimmers wandte er sich wieder um nach dem Salon zu; aber kaum kam er wieder in den dunklen Salon hinein, so war es, als ob ihm eine Stimme zuflüstere, die Sache verhalte sich doch anders, und wenn es anderen Leuten aufgefallen sei, so folge daraus, daß da doch etwas vorliege. Und dann im Eßzimmer sagte er wieder zu sich: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber sagen.‹ Und wieder im Salon, ehe er in Annas Zimmer einbog, fragte er sich: ›Welchen Entschluß soll ich denn fassen?‹ Und dann fragte er sich: ›Was ist denn geschehen?‹ und antwortete darauf: ›Nichts‹, und erinnerte sich daran, daß die Eifersucht ein Gefühl sei, durch das man seine Frau herabwürdige; aber wenn er dann wieder im Salon war, kam er doch zu der Überzeugung, daß irgend etwas vorgefallen sei. Seine Gedanken bewegten sich, ebenso wie sein Körper, in einem geschlossenen Kreise, ohne auf etwas Neues zu stoßen. Er bemerkte das, rieb sich die Stirn und setzte sich in Annas Zimmer.

Während er dort auf ihren Tisch blickte, auf dem ein Löscher von Malachit und ein angefangener Brief lagen, nahmen seine Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Er begann an Anna selbst zu denken und daran, was sie wohl denken und empfinden möge. Zum ersten Male stellte er sich ihr persönliches Leben, ihre Gedanken, ihre Wünsche vor Augen, und der Gedanke, daß sie ein eigenes, besonderes Leben haben könne und müsse, erschien ihm so furchtbar, daß er sich beeilte, ihn wieder zu verscheuchen. Das war eben jener Abgrund, in den hineinzublicken ihn graute. Sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Wesens zu versetzen, diese geistige Tätigkeit war ihm völlig fremd. Er hielt die geistige Tätigkeit für ein schädliches und gefährliches Spiel der Phantasie.

 

›Und das Peinlichste ist‹, dachte er, ›daß diese sinnlose Aufregung gerade jetzt auf mich einstürmt, gerade jetzt, da sich mein Werk dem Abschluß nähert (er dachte an ein Unternehmen, an dem er jetzt arbeitete) und da ich vollständiger Ruhe und meiner gesamten geistigen Kräfte bedarf. Aber was ist zu machen? Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Unruhe und Aufregung geduldig ertragen und nicht die Kraft haben, ihnen ins Gesicht zu blicken.‹

»Ich muß gründlich überlegen, einen Entschluß fassen und mit der Sache zu Ende kommen«, sagte er laut vor sich hin.

›Nach ihren Gefühlen zu fragen, danach zu fragen, was in ihrer Seele vorgegangen ist und vielleicht noch vorgehen kann, das ist nicht meine Sache; das ist eine Angelegenheit ihres Gewissens und gehört in das Gebiet der Religion‹, sagte er bei sich und empfand eine Art von Erleichterung bei dem Bewußtsein, daß er nun gleichsam die Abteilung des Gesetzbuches gefunden habe, unter die der neu aufgetauchte Umstand falle.

›Somit‹, sagte Alexei Alexandrowitsch zu sich selbst, ›sind die Fragen nach ihren Gefühlen und so weiter Fragen, die nur ihr eigenes Gewissen angehen, mit dem ich naturgemäß nichts zu tun habe. Meine eigene Obliegenheit ist mir klar vorgeschrieben. Als Haupt der Familie bin ich der, der verpflichtet ist, sie, die Ehefrau, zu leiten, und trage daher auch einen Teil der Verantwortung; es liegt mir ob, auf die Gefahr, die ich sehe, hinzuweisen, zu warnen und sogar von der mir zustehenden Macht Gebrauch zu machen. Es ist meine Pflicht, mit ihr zu sprechen.‹

Und nun ordnete sich in seinem Kopfe alles klar und übersichtlich, was er seiner Frau jetzt sagen wollte. Während er so überlegte, was er ihr sagen werde, überkam ihn ein Bedauern, daß er so nur zum Hausgebrauche, ohne damit die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und öffentliche Anerkennung zu finden, seine Zeit und seine Geisteskräfte aufwenden müsse; aber trotzdem bildeten sich in seinem Kopfe klar und bestimmt, wie zu einem amtlichen Vortrage, die Form und der logische Gang der bevorstehenden Rede heraus. ›Folgendes sind die zu erwähnenden und zu erörternden Stücke: erstens: Darlegung der hohen Bedeutung der gesellschaftlichen Meinung und des gesellschaftlichen Anstandes; zweitens: religiöse Darlegung der Bedeutung der Ehe; drittens: wenn nötig, Hinweis auf das möglicherweise für unseren Sohn daraus hervorgehende Unglück; viertens: Hinweis auf ihr eigenes Unglück.‹ Und dabei schob Alexei Alexandrowitsch, mit den Handflächen nach unten, die Finger durcheinander, und die Finger knackten in den Gelenken.

Diese Bewegung, eine schlechte Gewohnheit, die Hände zusammenzulegen und mit den Fingern zu knacken, übte auf ihn immer eine beruhigende Wirkung aus und verhalf ihm zu jenem seelischen Gleichgewicht, das er gerade jetzt so notwendig brauchte. Vor der Haustür ließ sich das Geräusch eines vorfahrenden Geschirrs vernehmen. Alexei Alexandrowitsch blieb mitten im Salon stehen.

Weibliche Schritte kamen die Treppe herauf. Alexei Alexandrowitsch stand da, bereit, seine Rede zu beginnen, drückte seine verschränkten Finger gegeneinander und wartete, ob noch einer knacken werde. Ein Gelenk knackte noch.

Schon bei dem Geräusche der leichten Schritte auf der Treppe hatte er die Nähe seiner Frau gefühlt, und wiewohl er mit seiner Rede zufrieden war, war ihm doch vor der bevorstehenden Auseinandersetzung bange.