Offenbarung

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Als mich der Erste von ihnen entdeckte, verstummte er augenblicklich, und die anderen taten es ihm sofort gleich. Sie schauten mich verschämt an, und ihre schulderfüllten Blicke ließen mich ohne Mühe darauf schließen, dass ich in irgendeiner Weise Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen sein muss. Unter ihnen befand sich auch Bruder Celestio, der sich als Einziger traute, auf mich zuzukommen.

Mein fragender Blick sagte im schwachen Licht der Kerzen mehr als tausend Worte, und so kam er ganz nahe an mein Ohr und beteuerte im Flüsterton:

»Es geschehen zurzeit sehr merkwürdige und furchterregende Dinge in dieser Stadt, Bruder Tomás. Das ist der Grund, warum die Brüder so aufgeregt sind.« Seine Stimme schwankte deutlich bei den letzten Worten, und ich hörte eine deutliche Unsicherheit, gar Zaghaftigkeit heraus.

»Habt ihr Brüder mir etwas zu sagen?«, fragte ich und blickte ganz fest in die Runde.

Celestio wandte verlegen den Blick von mir ab.

»Ich finde es sehr seltsam, dass überall, wo ich erscheine, die Leute sich sonderbar verhalten. Ich bin gerne bereit, neben meiner eigenen, auch fremde Schuld auf mich zu nehmen, genauso wie es unser Herr Jesus Christus getan hat, so wahr mir Gott helfe. Ich möchte aber zumindest wissen, um welche Art von Schuld es sich handelt. Ich bin nur ein bescheidener Fußsoldat des Herrn«, fuhr ich mit beherrschter Stimme fort, »aber auch Fußsoldaten haben das Recht zu erfahren, wo hin marschiert wird. Seit meiner Ankunft in Rom bin ich ständig gegen unsichtbare Mauern gestoßen und werde obendrein das Gefühl nicht los, in einer sonderbaren, beinahe angsterfüllten Umgebung gefangen zu sein. Das ist allerdings nur ein Gefühl und kann zugegebenermaßen täuschen, aber die Geheimniskrämerei ist wahrhaftig und offensichtlich wie im jetzigen Fall.«

Celestio hatte während meiner Rede die ganze Zeit den Blick auf den Steinboden gerichtet, und die anderen Brüder hatten es ebenfalls gemieden, mir in die Augen zu sehen.

»Da ich in dieser Stadt offensichtlich niemandem mehr nützlich sein kann, werde ich heute noch Bruder Claudio ersuchen, mich unverzüglich nach Cuenca zu entlassen.«

Ich nickte allen Anwesenden kurz zu, drehte mich um und eilte davon.

Zurück in der wohltuenden Einsamkeit meiner Zelle, kniete ich vor dem Kreuz des Erlösers nieder und sprach mein Frühgebet, wobei ich am Ende den Herrn darum bat, mir baldmöglichst die Rückreise zu segnen und mir meine Sünden zu vergeben.

Keine zwei Stunden später, gerade als ich im Begriff war mich bei Bruder Claudio zu melden, klopfte es leise an meine Tür.

Als ich öffnete, stand ein verschüchterter junger Bruder mit gesenktem Haupt vor mir.

»Bruder Claudio möchte dich sofort sehen, Bruder Tomás.«

»Endlich!«, dachte ich voller Freude. »Der Herr hat meine Gebete erhört.« Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, folgte ich leichten Schrittes meinem Begleiter, der sich beinahe geräuschlos fortbewegte.

Als wir uns schließlich vor der Tür unseres Generals einfanden, klopfte der junge Bruder kurz an. Zunächst kam keine Antwort, und ich dachte schon, dass das Klopfen doch zu leise gewesen sein muss, als ganz unerwartet die schwere Eichentür schwungvoll aufgerissen wurde. Als ich hineinblickte, muss die Überraschung in meinem Gesicht so augenfällig gewesen sein, dass Bruder Claudio, der wie immer an seinem Tisch saß, ein Lächeln kaum unterdrücken konnte. Neben ihm stand mit ernster, ja gar finsterer Miene, Bruder Luca, der Privatsekretär des Kardinalinquisitors. In seinem Gesicht war etwas zu lesen, das ich als Enttäuschung und tiefe Kränkung deutete, während mich seine Augen, einem hungrigen Reptil gleich, aufmerksam anstarrten.

Ich beschloss, auf der Hut zu sein und zu schweigen, weil ich ein ganz und gar ungutes Gefühl hatte. Meine Freude über die Rückkehr nach Cuenca war dahingeschmolzen, und ich konnte nur noch hoffen, dass diese Unterredung meine Erwartungen bestätigen würde.

Claudio Aquaviva sprach als Erster:

»Bruder Tomás, wir haben dich rufen lassen, weil eine neue Entwicklung stattgefunden hat, deren Aufklärung keinerlei Verzögerung mehr duldet.«

Ich atmete innerlich erleichtert auf. Es ging also doch nur um den Molinismus und um meine Auseinandersetzung mit Bruder Luca am Sitz des Heiligen Offiziums. So gesehen war ich gerne bereit, diese Frage des Dogmas ein weiteres Mal zu erörtern, hatte ich doch meinen Standpunkt dazu bereits in aller Deutlichkeit offen gelegt. Es gab keinen vernünftigen Grund davon abzuweichen, auch wenn ich ihn jetzt vor Bruder Claudio hätte erneut vortragen müssen.

Der Ordensgeneral räusperte sich. Es war das erste Mal, dass er mir bei der Anrede nicht in die Augen schaute.

»Bruder Tomás, du wirst noch eine Weile in Rom verbleiben müssen.«

Seine Worte fielen wie ein Blitz aus heiterem Himmel und hatten eine derart verheerende Wirkung, dass mein sonst äußerst beherrschter Gesichtsausdruck mich unweigerlich im Stich ließ.

»Hast du Bedenken, Bruder?«, hakte Aquaviva mit zusammengezogenen Augenbrauen nach. Er war für seine Strenge und seine Forderung nach unbedingter Disziplin allseits bekannt, so dass ich mühsam versuchte, mich so schnell wie irgend möglich wieder zu fangen.

»Ich bin ein Soldat Gottes und meine Aufgabe ist, Anweisungen zu folgen, um mich als würdiger Diener unseres Herrn zu erweisen«, warf ich hastig ein.

Die Gesichtszüge Bruder Claudios entspannten sich sichtlich, aber sein Gast, der Dominikaner Luca, starrte mich weiterhin mit versteinertem Angesicht an.

»Da du, Bruder Tomás, unserer Kenntnis nach der Einzige bist, der sowohl unbefangen als auch auf dem Gebiet der okkulten Wissenschaften bewandert ist, haben wir entschieden, dich in diesem Falle für die Gerichtsbarkeit arbeiten zu lassen.«

Ich hatte meine Fassung mit Mühe und Not wiedererlangt und schaute ihn demütig, aber mit unverhohlener Neugier an.

»Ich muss gestehen Bruder, dass wir diese Wahl nur ungern getroffen haben«, mischte sich unversehens Bruder Luca ein. »Du bist aber nun einmal der Einzige, den wir dazu gebrauchen können, auch wenn das Heilige Offizium mit deinen Ansichten keineswegs übereinstimmt.«

Es entging mir nicht, wie ihn Aquaviva bei diesen Worten mit einem vernichtenden Blick bestrafte, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

»Der Heilige Vater hat entschieden, dass die Gesellschaft Jesu und das Heilige Offizium in dieser Angelegenheit zusammenzuarbeiten haben, und wir fügen uns selbstverständlich seinem Wunsch«, fuhr Bruder Luca bekümmert fort. »Du wirst mit der weltlichen Gerichtsbarkeit zusammenarbeiten und sie federführend anleiten, denn hier geht es um schwere Verbrechen, die die Grundfesten unseres christlichen Glaubens erschüttern könnten.«

Es war das erste Mal, dass ich eine Andeutung davon bekam, was mit dieser ganzen Geheimniskrämerei gemeint war.

»Du wirst außerdem einen Amtsgehilfen zur Seite gestellt bekommen, der dich in Fragen der Organisation, der Kommunikation und der Glaubensfestigung gegenüber der weltlichen Behörde unterstützen wird«, beschied der Dominikaner.

Ich schaute Bruder Claudio mit einem flehenden Blick an, aber er wandte sich wortlos ab, so als könne er für mich nichts mehr tun. Ich glaubte zu wissen was Luca mit »Glaubensfestigung« meinte, enthielt mich jedoch jeden Kommentars.

»Du kennst den Mann bereits. Er heißt Bruder Gioacchino und er hat dich nach Rom begleitet.«

Ich ließ langsam den Kopf sinken, als Zeichen, dass ich ihn verstanden hatte.

»Die Ermittlungen leitet Ser Niccolò Guarnieri vom Gericht des Statthalters von Rom, und er wird dir die nötigen Einzelheiten des Falles beibringen. Finden wirst du ihn im Gebäude der Stadtpräfektur. Er erwartet dich bereits.«

»Wie finde ich zu diesem Gebäude, Bruder?«, fragte ich mit unsicherer Stimme.

»Gioacchino wird dich begleiten«, antwortete er.

Ich schaute erneut zu meinem Ordensgeneral hinüber, und diesmal nickte er mir kaum merklich zu, was ich als Zeichen dafür deutete, dass diese Unterredung beendet war. Ich verbeugte mich und wollte den Raum verlassen, als Bruder Luca mir hinterherrief:

»Sobald du ausreichenden Überblick über diesen Fall hast, wirst du dich im Heiligen Offizium melden, um das weitere Vorgehen mit mir zu besprechen«, sagte der Dominikaner mit eisigem Lächeln.

Ich nickte als Zeichen dafür, dass ich die Anweisungen verstanden hatte, und schickte mich erneut zum Gehen an, als mein Ordensgeneral überraschenderweise einschritt.

»Da wir den Auftrag gleichberechtigt vom Heiligen Vater erhalten haben, sehe ich mich in der Pflicht, den Fall mit der gleichen Aufmerksamkeit zu verfolgen wie das Heilige Offizium, Bruder Luca.« Seine Stimme, obwohl sehr leise und gefasst, schnitt wie ein Messer in die eisige Stimmung, die auf dem Raum lastete. Ich merkte, wie der Dominikaner plötzlich noch steifer wurde und sich schließlich mühsam ein angedeutetes Nicken abrang.

Das reichte Aquaviva allemal, und er wandte sich mit väterlicher Stimme an mich:

»Du wirst erneut hier erscheinen, Bruder Tomás, und Bruder Luca wird ebenfalls zu uns stoßen, nicht wahr?«

Der Angesprochene versuchte das Nicken zu wiederholen, aber diesmal gelang es ihm eindeutig schlechter.

Ich warf Aquaviva einen fragenden Blick zu, aber er entließ mich wortlos, mit knapper Geste.

Draußen wartete bereits Bruder Gioacchino, und nachdem die Tür hinter mir zufiel, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass sein Grinsen einen unmissverständlich hämischen Beiklang hatte.

Als wir im zunehmenden Tageslicht schweigend nebeneinander schritten, erwachte auf der Straße das alltägliche Leben.

 

»Hast du jemals ermittelt, Bruder Tomás?«, fragte plötzlich mein Begleiter.

»Nein«, erwiderte ich knapp und versuchte keinerlei Anlass zu einer Unterhaltung zu geben. Der Dominikaner hatte aber nicht die Absicht, mich in Ruhe zu lassen.

»Hast du wirklich nie an der Verfolgung von Ketzern und Sündern teilgenommen?«, wiederholte er seine Frage mit anderen Worten, in der Hoffnung, mich irgendwie zur Stellungnahme zu bewegen.

»Nein«, sagte ich im gleichen Ton und versuchte meine Gedanken auf den Weg zu richten, um mir die Topographie der Stadt einzuprägen. Diesmal war es klar, dass mein Aufenthalt längere Zeit in Anspruch nehmen würde, und ich wollte bei der Orientierung nicht auf Gedeih und Verderb meinem aufgezwungenen Begleiter ausgeliefert sein.

»Es ist unheimlich beeindruckend, wie redselig sogar die hartnäckigsten Ketzer werden, wenn sie die Folterwerkzeuge erblicken«, fuhr er mit einer Genugtuung fort, die mich zutiefst erschreckte.

Du redest auch ohne Folterwerkzeuge, dachte ich, verkniff mir aber jedwede Bemerkung und lief stur weiter. Ich begann, den Herrn im Gebet anzuflehen, mich vor diesem Menschen irgendwie zu schützen, aber so wie es aussah, schien er meine verzweifelte Bitte nicht zu erhören.

Bruder Gioacchino machte indes unerbittlich weiter.

»Ich war dabei, als dieser niederträchtige Ketzer Bruno befragt wurde. Er wurde mehrmals vorgeladen und aufgefordert, seine ketzerischen Thesen zu widerrufen.«

Da ich keine Anstalten machte darauf zu antworten, setzte er seine Ausführungen unbeirrt fort.

»Als er fortwährend stur blieb, musste man zu guter Letzt die Folter anwenden, und das half. Er widerrief, wenn auch nur teilweise. Du hättest ihn schreien hören sollen, Bruder! Er brüllte, als sei der Leibhaftige in ihm gewesen.«

»Was waren seine Thesen?«, fragte ich, von der verzweifelnden Gewissheit verfolgt, dass es vor diesem aufdringlichen Mönch kein Entrinnen gab. So hatte ich in meiner Not beschlossen, den Gesprächsfaden an mich zu reißen, da ich keineswegs bereit war, mir die Einzelheiten der Grausamkeiten anzuhören, die Bruder Gioacchino so genüsslich auszubreiten versuchte.

Auf meine Frage hin änderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck, und seine enttäuschte Miene verriet, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

»Er leugnete die unverrückbare Tatsache, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und er hielt bis zuletzt daran fest, dass es kein Jüngstes Gericht gebe.«

Ich runzelte die Stirn.

»Wie begründete er das?«

Gioacchino verdrehte die Augen, und ich wusste nicht, ob er es wegen meiner Unwissenheit tat, oder aus Überdruss über ein solch langweiliges Thema reden zu müssen.

»Er behauptete, es gebe ein Universum, man stelle sich das vor, welches unendlich sei. Darin gebe es wiederum eine Unendlichkeit von Welten, die alle von intelligenten Wesen bevölkert seien. Das ist mehr als Ketzertum, das ist reiner Unsinn!«

Ich nickte schweigend, da mir diese letzte These bereits aus Bruder Celestios Erzählung am Campo dei Fiori bekannt war. Mein Begleiter aber dachte irrigerweise, ich stimmte uneingeschränkt mit seinen Ansichten überein und setzte voller Eifer nach.

»Es ist an der Zeit, dass wir endlich reinen Tisch mit diesen ketzerischen Glaubensverleugnern machen, zu denen auch dieser unsägliche Galilei gehört.«

»Was behauptet der denn?«, fragte ich und hoffte insgeheim bald das Gebäude der Präfektur zu erreichen.

»Stell dir vor, Bruder«, entgegnete mein Begleiter, »der ist der felsenfesten Überzeugung, dass sich die Erde dreht.«

Ich wollte gerade fragen, was dieser Galilei, dessen Name mir nicht gänzlich unbekannt war, sonst noch für Ketzereien von sich gegeben hatte, als Gioacchino unversehens innehielt. Ich hob den Blick und fand mich vor einem dreistöckigen Gebäude wieder, dessen vergitterte Fenster und dunkelgraue Front einen noch bedrohlicheren Eindruck machten als das unheimliche Haus des Heiligen Offiziums.

»Wir sind da«, sagte Gioacchino und ging auf das mächtige Tor zu, dessen Flügel weit aufgeschlagen waren. Wir liefen an den beiden Hellebardieren vorbei, die geflissentlich über uns hinwegblickten und bogen nach rechts ab, um eine breite Steintreppe zu erklimmen. Mein zugewiesener Begleiter ging selbstsicher voraus, was mich darauf schließen ließ, dass er nicht zum ersten Mal in diesem Gebäude war. Im ersten Stock folgten wir schweigend dem langen Flur, der um die Tageszeit noch leer und verlassen war. Mir fiel auf, dass das Gebäude, obwohl aus ebenso dickem Stein erbaut wie unser Haus an der Kirche Jesu, wesentlich mehr Kälte ausstrahlte, und das ließ mich unwillkürlich frösteln. Wir blieben vor einer verschlossenen Tür stehen, vor der eine einsame Wache stand.

»Ich bin Bruder Gioacchino vom Heiligen Offizium. Ser Niccolò erwartet uns«, sagte mein Begleiter in beinahe militärischem Ton. Ich konnte mir nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen, hatte er meinen Namen doch gar nicht erwähnt.

Die Wache klopfte einmal kurz und öffnete die schwere Tür, ohne das Gesicht von uns zu wenden. Ich folgte Gioacchino, der mit selbstsicherem Schritt den großen dunklen Raum betrat.

Ich entdeckte einen Tisch nahe der Wand, mindestens zwanzig Schritte rechts von der Eingangstür entfernt. Er quoll über vor lauter Papieren und Dokumenten. Eine einsame Kerze in einem hohen verwachsten Ständer flackerte ihr gespenstisches Licht auf die Papierberge, die sich, einer Krankheit gleich, überall ausbreiteten. Hinter dem Tisch, in einem breiten hochlehnigen Stuhl, saß oder vielmehr lag eine kleine, in Purpur gehüllte Gestalt, deren Kopf von einer weichen Samtmütze bedeckt war.

Das schwache Licht störte mich erheblich, und ich hatte große Mühe die Gesichtszüge des Mannes zu erkennen. So hielt ich mich in gebührender Entfernung, während mein Begleiter entschieden zum Tisch schritt.

»Ser Niccolò, ich bin Bruder Gioacchino vom Heiligen Offizium«, sagte er mit Nachdruck, und mir kam es vor, als ob er sich besonders gern in der Rolle des wichtigen Menschen sah. »Wir sind hier auf Geheiß unserer heiligen Behörde, um dich bei den Ermittlungen zu unterstützen.«

Nach seinen Worten herrschte für einen Augenblick vollkommene Ruhe, und ich dachte bereits Gioacchino habe sich an eine Statue gewandt.

Plötzlich regte sich die Gestalt, und eine tiefe, kraftvolle Stimme hallte durch den großen Raum:

»Wer ist wir, Bruder?«

Obwohl die Frage in neugierigem, beinahe freundlichem Ton gestellt wurde, schwang eiserne Bestimmtheit mit. Dies war meinem Begleiter ebenfalls nicht entgangen, und seine Selbstsicherheit schien sich im Nu aufzulösen.

»Ich habe vergessen, Euch Bruder Tomás vorzustellen, der auf Wunsch unserer Oberen diese Untersuchung aktiv begleiten soll.«

»Aktiv begleiten?«, hallte es von dem Lehnstuhl herüber.

Der Dominikaner fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut und begann, sich verlegen zu räuspern.

»Ja. Er sollte in alle Einzelheiten des Falles eingeweiht werden, weil er besondere Kenntnisse auf dem betreffenden Gebiet besitzt.«

Er holte tief Luft und fuhr mit leicht zitternder Stimme fort:

»Bruder Tomás soll Euch bei den Ermittlungen ständig zur Seite stehen und sie federführend leiten.«

Die Gestalt aus dem Lehnstuhl schwang sich plötzlich mit ungeheurer Leichtigkeit auf die Beine und stand auf einmal neben uns. Das ermöglichte mir den Mann näher in Augenschein zu nehmen, obwohl er zwischen mir und der Kerze stand.

Er war kleingewachsen und leicht beleibt, wobei die helle Kniebundhose seinen gedrungenen Körperbau besonders unvorteilhaft betonte. Ich konnte seine Gesichtszüge im schwachen, unsteten Licht nicht in jeder Einzelheit erkennen, aber das, was ich sah, ließ mich auf eine gepflegte, wenn auch leicht verlebte Erscheinung schließen.

Er schritt gemächlich um mich her, als wäre ich eine Ware, die er sich nicht entschließen könne zu kaufen. Anschließend blieb er vor mir stehen, und obschon ich ihn um mehr als einen Kopf überragte, konnte ich mich des unangenehmen Eindrucks nicht erwehren, als wären wir gleich groß. Er musterte mich aufmerksam, fast akribisch, indem er den Kopf langsam von einer Seite zur anderen neigte, ohne auch nur einen Moment den Blick von meinem Gesicht zu lösen.

Mir kam das nicht sonderlich angenehm vor, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. So mühte ich mich, seinen Blick mit der gleichen misstrauischen Neugier zu erwidern.

»Ich bin ein folgsamer Diener der Heiligen Mutter Kirche«, sagte er völlig unerwartet, »und erledige auch gerne jede Drecksarbeit, wenn sie zum Glanze Jesu Christi beiträgt.«

Er muss mit der Überraschung, die er damit bei mir auslöste, gerechnet haben, denn er setzte im gleichen sanften Ton nach.

»Ich will damit nur sagen, dass ich stolz darauf bin, diese niederen Arbeiten für einen so erhabenen Zweck verrichten zu dürfen.«

Ich versuchte die Ironie oder den Sarkasmus, die erwartungsgemäß mit diesen Worten einhergingen, aus seinem Tonfall herauszuhören, aber es war mir schlichtweg unmöglich, auch nur die geringste Spur davon auszumachen.

»Mir ist vor kurzem berichtet worden, dass jemand kommen würde, Pater Tomás, aber ich hatte, ehrlich gesagt, nicht so schnell mit Euch gerechnet.«

»Ihr habt eine scharfe Zunge, Ser Niccolò«, tönte es auf einmal von der Seite meines dominikanischen Begleiters. »Gebt Acht, dass sie Euch nicht zum Verhängnis wird.«

»Man hat mir erzählt, Ihr hättet besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der okkulten Wissenschaften, falls Ihr der Mann seid, von dem man spricht«, sagte Ser Niccolò und sah mich durchdringend an, während er Bruder Gioacchino vollkommen ignorierte. »Es könnte sogar sein, dass Eure Hilfe uns wesentlich weiterbringt«, bemerkte er und kehrte mit langsamen Schritten zu seinem überladenen Tisch zurück.

»Was wisst Ihr von diesem Fall?«, fragte Ser Niccolò plötzlich.

Das war gerade die Frage, die ich am meisten gefürchtet hatte.

Ich räusperte mich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, war aber beinahe sicher, dass er mich durchschaut hatte.

»Nicht viel«, sagte ich knapp und bat den Herrn um Vergebung für diese Halblüge, zu der ich mich durch die Begleitumstände genötigt sah. Ich konnte diesem Mann keineswegs eingestehen, wie unwissend ich bezüglich der Ermittlung war, weil ich dadurch die Glaubwürdigkeit meiner Oberen und die der Heiligen Mutter Kirche aufs Spiel gesetzt hätte.

»Was ist Euer genauer Wissensstand, Pater?«, hakte Ser Niccolò unerbittlich nach, und seine Augen durchbohrten mich wie Feuerlanzen.

Ich hoffte inständig auf Hilfe von Bruder Gioacchino, aber der schwieg wie ein Grab. Ich wagte nicht, den Kopf in seine Richtung zu wenden, aus Angst mich dabei zu verraten.

»Wie ist der jetzige Stand der Dinge?«, erwiderte ich mit der einzigen Gegenfrage, die mir einfiel.

Ser Niccolò musterte uns beide scharf, und ich meinte im schwachen Licht der flackernden Kerze einen ironischen Glanz in seinen Augen erkannt zu haben.

»Wir haben einen weiteren Mord zu verzeichnen, und er scheint sich von seinem Muster ebenfalls in die Serie einzufügen«, bekundete er.

Ich merkte, wie das Blut aus meinem Gesicht wich und betete zu Gott, das müde Kerzenlicht möge meinen Schwächeanfall nicht preisgeben. Ich nickte und wartete geduldig darauf, dass Ser Niccolò fortfuhr.

»Ich schlage vor, dass wir den Tatort gemeinsam besichtigen«, sagte er in meine Richtung, ohne Bruder Gioacchino auch nur eines Blickes zu würdigen.

Ich nickte erneut, aber das flaue Gefühl, das sich hartnäckig in meinem Magen hielt, wollte unter keinen Umständen von mir weichen.

Ich weiß es, als wäre es erst gestern gewesen, wie ich an diesem 26. Februar im Dienstzimmer von Ser Niccolò Guarnieri stand und durch das verschmutzte Fensterglas hinausschaute.

Das erstarkende Tageslicht war inzwischen ziemlich weit in den sonst düsteren Raum eingedrungen, und das ermöglichte mir endlich die Gesichtszüge meines Gegenübers deutlicher auszumachen. Der Mann wirkte müde und erschöpft, und die Ringe unter seinen Augen verliehen ihm beinahe gespenstische Blässe. Die schmalen, schwarzen Augenbrauen bildeten in der Waagerechten eine annähernd makellose Gerade, die zu den beiden seitlichen Enden mit einem leichten Knick nach unten endete. Die längliche, zum Kinn spitz zulaufende Gesichtsform wurde nur von den allzu auffallenden Tränensäcken und dem schlaffen Fleisch unterhalb der Mundwinkel gestört. Das Lebendigste an diesem Gesicht waren jedoch die Augen, die, ständig unruhig und misstrauisch, keine Ruhe fanden.

 

Ser Niccolò trat hinter seinem Tisch hervor und ging hastig, ohne uns weiter zu beachten, auf die Tür zu. Er riss sie mit einer energischen Bewegung auf und war im Nu im Flur verschwunden. Ich brauchte einige Augenblicke, bis ich merkte, was geschah, dann rannte ich ihm hinterher. Kurz darauf vernahm ich den schweren Atem von Bruder Gioacchino, der mir hinterher hechtete.

Ehe wir’s uns versahen, waren wir auf der Straße und eilten im grauen Licht, durch enge Gassen, auf ein unbekanntes Ziel zu.

Was ich während dieses Eilmarsches beiläufig wahrnahm, war das andere Rom, das ich in dieser Gestalt noch nicht erlebt hatte. Die Gassen waren fast allesamt dunkel, und das nicht nur, weil die Sonne noch nicht hoch genug am Himmel stand.

Die Häuser dieser Gegend waren sehr eng aneinander gebaut und noch dazu standen sie sich besonders nah gegenüber, so dass ihre zahlreichen Stockwerke so etwas wie zwei mehr oder weniger parallel verlaufende Mauern bildeten, die überall von kleinen Fenstern durchbrochen waren. Zuerst verstand ich nicht, warum wir so hasteten und schob es auf eine mit dem Mord zusammenhängende Ursache. Erst als mir der erste Haufen Unrat mit einem satten Platsch vor den Füßen landete, ging mir das Licht auf. Dann erst merkte ich, wie dreckig und übelriechend die Gassen in Wirklichkeit waren und wie sich der Abfall an jeder Ecke türmte. Endlich begriff ich die Eile der anderen. Sie kannten allzu gut diese schmutzige, stinkende Gefahr und wollten um jeden Preis Müll oder Fäkalien auf ihren Häuptern vermeiden. So betrachtet erschien mir der Weg auf einmal unendlich lang.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir durch das Labyrinth der römischen Gassen gewandert waren, aber als wir schließlich vor einem durch zwei Gardisten bewachten, unscheinbaren Haus hielten, war ich völlig außer Atem und hechelte wie ein gejagter Hund.

Ser Niccolò öffnete die Tür, und wir betraten einen leeren, niedrigen Raum, in dem ein einsamer Soldat müde und gelangweilt an einem der hölzernen Stützpfeiler lehnte. Durch die zwei winzigen Fenster, die zur Straße blickten, drang ein mattes, gräuliches Licht herein, und ich blinzelte, um meine Augen an die bescheidenen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Ser Niccolò war währenddessen in der dunkelsten Ecke, unter einer altersschwachen, schmalen Treppe verschwunden.

»Licht!«, rief er barsch in die Richtung des Soldaten, der von unserem Hereinstürmen überrascht, nunmehr in aller Eile versuchte, seine Kleidung zu ordnen. Der gebieterische Ton seines Vorgesetzten ließ ihn sofort mit einem dreiarmigen Kerzenhalter herbeieilen.

Mit ihm kam auch das von Ser Niccolò gewünschte Licht. Es drang über meine Schulter in die dunkle Ecke unter der Treppe und breitete sich über ein ehemals weißes Laken aus. Ich starrte auf die Erhebungen, die das Leinentuch verbarg, und ballte die Fäuste, denn ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen unsicher wurde.

Der Soldat schaute fragend zu seinem Vorgesetzten, worauf Ser Niccolò knapp nickte.

Das Laken wurde mit einem kräftigen Ruck zur Seite gerissen, und ich fühlte, wie alles um mich her in tiefe Dunkelheit versank. Ich wollte fragen, was vor sich gehe, brachte aber keinen einzigen Laut heraus. Zu Tode erschrocken versuchte ich zu erraten, warum diese Dunkelheit so unerwartet über uns hereingebrochen war, als eine Stimme, die mir bekannt erschien, aus weiter Ferne erklang. Ich versuchte fieberhaft, sie einzuordnen, als es unvermittelt um mich her wieder hell wurde und ich Ser Niccolòs besorgtes Gesicht erblickte.

»Geht es Euch gut, Pater Tomás? Ihr seht kreidebleich aus.«

Ich wollte mit der Gegenfrage antworten, wer denn das Licht und vor allem warum so plötzlich ausgelöscht habe, besann mich aber eines Besseren und nickte ihm wortlos zu.

»Seid Ihr sicher, dass alles in Ordnung ist?«, wiederholte er seine Frage mit großem Nachdruck.

»Ja, Ser Niccolò. Ich bin bloß durch das schnelle Gehen etwas außer Atem geraten.«

Er beäugte mich einen Augenblick voller Misstrauen, und ich spürte, wie mir auf einmal an Stelle des Schwindels Schamesröte ins Gesicht stieg.

»Ich würde jetzt gerne die Leiche in Augenschein nehmen, wenn Ihr nichts dagegen habt«, fuhr ich gereizt fort.

Er trat schweigend zur Seite und gab mir das Blickfeld frei.

Vor mir lag, wie in tiefen Schlaf versunken, ein Mann mittleren Alters, dessen zerfurchtes Gesicht mich auf Anhieb an ein schweres Schicksal denken ließ. Sein kräftiger Körperbau erinnerte an jemanden, der sein Dasein mit Hilfe körperlicher Fähigkeiten bestritten hatte. Der Mann war bis auf einen Lendenschurz gänzlich nackt und wies auf den ersten Blick keinerlei Spuren von Gewalt auf.

Was mich allerdings sogleich stutzig machte, war die Art, wie er da lag. Ich sah noch mal genau hin, aber es war mir unmöglich an etwas anderes zu denken, und ich bekreuzigte mich unwillkürlich, was wiederum allen Anwesenden nicht entging.

»Ist er ausgeraubt worden?«, fragte ich verlegen, weil ich nicht wusste, wie ich anfangen sollte. Schließlich hatte ich noch nie in meinem Leben ermittelt und wollte den Eindruck vermeiden, dass ich nicht wüsste, wonach ich fragen sollte.

»Nein, allem Anschein nach nicht«, erwiderte Ser Niccolò trocken.

Von der Seite beobachtete ich, wie sich Bruder Gioacchino zu mir herüber beugte.

»Woran denkst du, Bruder, wenn du diesen Mann dort liegen siehst?«, wollte er wissen.

Ich schaute unsicher von meinem Begleiter zum Zivilbeamten hinüber, der mich seinerseits mit unverhohlener Neugier musterte.

»Ihr habt Euch bekreuzigt, Pater. Ist es, weil vor Euch ein toter Mensch liegt, oder gibt es einen anderen Grund?«, erkundigte sich Ser Niccolò. Ich spürte, wie mich seine Blicke durchbohrten.

Es gab kein Ausweichen, und so lenkte ich ein.

»Er liegt da wie Jesus Christus am Kreuze, Gott vergib mir«, stieß ich heiser hervor.

Ser Niccolò nickte zustimmend.

»Ja, so ist es. Er liegt mit seitlich ausgestreckten Armen und mit geradem Körper da wie Jesus am Kreuz.«

»Seid Ihr sicher, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben ist?«, erkundigte ich mich ungläubig.

Bruder Gioacchino richtete seinen Blick auf den Boden, während sich Ser Niccolò ärgerlich das Kinn rieb.

»Dem äußeren Anschein nach gibt es keine Spuren von Gewalt, das stimmt«, gab er unumwunden zu. »So bleibt nur die Frage, warum sich ein scheinbar gesunder kräftiger Mann mittleren Alters fast vollständig entkleidet, um sich in die Leidenshaltung Jesu Christi auf den kalten Boden zu legen und ganz einfach zu sterben, was ihm anscheinend ohne besondere Mühe gelang. Kommt Euch das vernünftig vor, Pater?«

»Nein, da gebe ich Euch recht«, sagte ich, weil mir seine Argumentation untadelig erschien.

»Dann hat der Teufel seine Hand im Spiel«, meldete sich ungefragt Bruder Gioacchino in donnerndem Ton, und ich zuckte vor Schreck zusammen. »Ihr als leitender Untersuchungsbeamter solltet alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und damit meine ich alle!«, sagte der Dominikaner fordernd und starrte streng auf Ser Niccolò.

Der Beamte biss die Lippen zusammen, und ich konnte sogleich die Mühe erkennen, die es ihn kostete, eine passende Antwort zu unterdrücken. Schließlich sprach er beherrscht:

»Nehmen wir an, der Teufel hätte ihn dazu verleitet, dies zu tun, um ihm die Seele zu rauben«, sagte er. »Klingt das glaubhaft genug?«

Bruder Gioacchino nickte zufrieden.

»Weshalb hat er dann das Gleiche in sechs anderen Fällen getan? Und warum sind es nur insgesamt sieben Leute und nicht etwa siebenhundert? Oder meint Ihr vielleicht, in dieser Stadt wären in sieben Monaten nicht mehr als sieben Sündige für einen wie den Satan aufzutreiben?«

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