Offenbarung

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In Gedanken vertieft erreichte ich das Haus unseres Konvents und klopfte kräftig an das mir wohl bekannte Tor. Ich musste mehrere Male klopfen, bis mir schließlich jemand öffnete. Die gebückte Gestalt, die sich zeigte, ließ mich plötzlich erschaudern. Er lebt noch immer, dachte ich.

Der kleine Mann versuchte den Kopf in meine Richtung zu heben, indem er seinen ganzen Oberkörper nach links und leicht nach oben schraubte. Seine Sehkraft musste sich sehr verschlechtert haben, denn seine Züge verzogen sich zu einer Grimasse, als er versuchte, mein Antlitz zu erkennen.

»Ja?«

»Ich bin Bruder Tomás aus dem Hause unserer Gesellschaft in Cuenca«, begann ich unsicher. »Ich wollte euch bitten, mir den Schutz eurer Mauern für ein oder zwei Nächte zu gewähren, da ich auf der Durchreise bin, Bruder.«

Statt einer Antwort zog er die Augenbrauen zusammen und versuchte mein Gesicht noch eingehender zu studieren. Schließlich schritt er zur Seite und schob mit dem Rücken das Tor auf.

»Komm herein, Bruder«, sagte er mit dünner, krächzender Stimme. »Ich kann nicht mehr so gut sehen, aber deine Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Wie heißt du noch mal?«

»Tomás«, wiederholte ich.

Er runzelte erneut die Stirn und ging leicht humpelnd voraus.

Wir liefen durch die dunklen Gänge, die genauso feucht und modrig rochen wie früher, und hielten endlich vor einer grob gezimmerten Tür. Der alte Mann klopfte kurz und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Drinnen genügte mir ein kurzer Blick, um zu erkennen, dass sich in dem Raum seit Jahren nichts geändert hatte. Einzig und allein der Mann, der am Tisch saß, war ein anderer. Ich schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre, obwohl der erste Blick bestimmt täuschte. Er war mit Gewissheit nicht so alt, wie er aussah, aber die tiefen Furchen in seinem Gesicht deuteten auf ein von Leid geprüftes Leben hin.

»Bruder Andrés, ich habe ein Mitglied der Gesellschaft, das Aufnahme in unser Haus begehrt, mitgebracht«, sagte der Alte pflichtbewusst.

Der Angesprochene hob den Blick, und seine Züge schienen sich im Licht der einzigen brennenden Kerze zu verhärten. Seine Augen musterten mich neugierig und aufmerksam.

»Er kommt aus unserem Konvent in Cuenca«, sagte der Alte weiter, als hätte er sich dafür entschuldigen müssen, dass er mir Einlass gewährt hatte.

»Danke, Bruder Eusebio, aber ich glaube unser Gast kann selbst reden, nicht wahr?« Seine Stimme war warm und tief und kontrastierte auffallend mit seiner strengen Erscheinung.

Ich räusperte mich.

»Vielen Dank für eure Großherzigkeit, Brüder«, begann ich und zog ein zerknittertes Schreiben unter meinem Kleid hervor. »Ich habe hier einen Brief von unserem Prior, Bruder Javier, in dem er euch in meinem Falle um Hilfe ersucht.« Ich streckte Andrés das Schreiben entgegen, der aber winkte kurzerhand ab.

»Dein Wort genügt mir, Bruder. Wie ist dein Name?«

»Tomás«, sagte ich.

»Bruder Eusebio, gib unserem Gast alles, was er benötigt, und weise ihm eine Zelle zu, damit er sich ausruhen kann. Falls du etwas brauchst, melde dich einfach, Bruder«, schloss der Prior und verzog die Mundwinkel zu etwas, das wie ein Lächeln aussehen sollte.

Ich bedankte mich für die Güte von Bruder Andrés und folgte Eusebio durch den Kreuzgang zum Speisesaal. Glücklicherweise gab es noch etwas Warmes zu essen, und ich verschlang die dünne Fleischsuppe und das Brot mit dem kleinen Stück Käse, das ich dazu bekam, mit einer Gier, die mich selbst beschämte.

Während der Mahlzeit saß mir Eusebio schweigend gegenüber und beäugte mich aufmerksam. Er wartete, bis ich das Mahl beendet hatte, und fragte mich dann gezielt:

»Warst du schon mal früher in unserem Haus, Bruder?«

Am liebsten hätte ich gelogen, aber mein Gelübde erlaubte es mir leider nicht. Stattdessen erwiderte ich mit erschöpfter Stimme:

»Ja, Bruder.«

»Bist du etwa der Sohn von Don Esteban de Villaruiz aus Sagunto?«

Er hatte mich wiedererkannt, und ich hoffte inständig, er würde damit endlich Ruhe geben. Mein Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung, denn Eusebio dachte gar nicht daran, von mir abzulassen.

»Ja, Bruder, ich bin der Sohn von Esteban«, sagte ich mit einem leisen Seufzer, den er geflissentlich überging.

»Du bist aber gewachsen«, fuhr er fort, wobei ich darauf nichts zu antworten wusste. »Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie dich dein Vater als Zehnjährigen ins Kolleg gebracht hat. Du warst ein ganz schön ungezogener und rebellischer Junge.«

Natürlich war ich rebellisch, denn ich konnte nicht mit ansehen, wie mein Vater so kaltherzig und grausam die armen Bauern, die auf seinen gepachteten Ländereien um das nackte Überleben kämpften, bis aufs Blut ausbeutete. Die Erinnerung an die Bestrafungen, die ich zu erleiden hatte, wenn ich den Bedürftigsten ein kleines Stückchen Maispolenta brachte, kam wieder. Ich tat es immer wieder, und er bestrafte mich immer wieder. Als er nach einer Weile merkte, dass man mit Gewalt bei mir nichts erreichen konnte, schickte er mich von zu Hause weg, um mich und den damit verbundenen Ärger loszuwerden. Er gab mich in die Obhut der Jesuiten, wo nach meiner Aufnahme ins Kolleg Bruder Eusebio als Lehrer mein zeitweiliger Wegbegleiter wurde. Er war nicht gewalttätig wie mein Vater, neigte aber erheblich zu seelischer Grausamkeit, was ich letztlich als mindestens ebenso schlimm empfand. Die Rache, die ich an ihm nahm, war viel subtiler als alles, was er erwartet hätte: Ich bat um Aufnahme in die Gesellschaft. Das erzürnte Bruder Eusebio so sehr, dass er hartnäckig versuchte, mich mit allen erdenklichen Mitteln daran zu hindern.

Nun saßen wir da, als wäre zwischen uns nie etwas Böses geschehen und schwiegen einander an. Insgeheim wunderte es mich, wie er es geschafft hatte, alles zu verdrängen, ohne auch nur ein Wort der Reue über sein bösartiges Verhalten zu verlieren.

Die Erinnerung an diese schmerzhaften Erlebnisse ließ mir einen Kloß im Magen wachsen, und der ganze Hunger, den ich zuvor als beinahe schmerzhaft empfunden hatte, wich einem Gefühl zunehmender Übelkeit.

»Entschuldige Bruder«, sagte ich mit belegter Stimme, »aber ich würde mich mit deiner Erlaubnis gerne zurückziehen, da die Strapazen der Reise mir arg zugesetzt haben und ich noch eine lange Reise vor mir habe.«

»Wo musst du denn hin, Tomás?«, erkundigte er sich mit ungespielter Neugier.

Er nannte mich wieder nur Tomás, als wäre ich noch immer sein Schüler. Ich beschloss diese Unverschämtheit zu übergehen.

»Nach Rom, zu Bruder Claudio«, sagte ich knapp.

Eusebios Augen wurden glasig und ich sah zum ersten Mal nach vielen Jahren diesen wohlbekannten bösen Blick wieder, der so bezeichnend für ihn war. Bruder Eusebio war schon immer ein eitler und selbstsüchtiger Mann gewesen, und daran hatten weder die Vorsätze unserer Gesellschaft noch der Zahn der Zeit etwas geändert. Sein größter Traum war, selbst nach Rom berufen zu werden, um dort eine leitende Stellung innerhalb des Ordens zu bekleiden. Er war felsenfest davon überzeugt, dass seine Fähigkeiten weit über dem lägen, was er in Valencia seit Jahrzehnten zu verrichten hatte.

»Das freut mich aber sehr, Tomás«, erwiderte der Alte und versuchte seiner Stimme einen normalen Tonfall zu verleihen. »Und warum musst du dahin?«, hakte er nach.

»Entschuldige Bruder, aber ich darf darüber nicht sprechen«, sagte ich in Anlehnung an die Wahrheit und bat heimlich um Vergebung für diese kleine Lüge.

Eusebio nickte nachdenklich.

»Verstehe. Dann hoffe ich, dass du eine gute Reise haben wirst«, bekundete er ohne Überzeugung.

Wir standen auf, und er begleitete mich zu meiner Zelle, die er schweigend aufschloss. Danach verschwand Eusebio, und wir wechselten nie wieder ein Wort miteinander.

In der Stille und Dunkelheit meines Gemachs kniete ich vor dem kleinen Kreuze Jesu nieder, das an der Wand hing und dankte dem Herrn für seine Güte und Gnade, mich heil nach Valencia gebracht zu haben. Ich betete ebenfalls für die arme Pilar und für die Seele ihres zu früh verstorbenen Sohnes. Zu guter Letzt bat ich noch den Herrn um Vergebung für meine mörderische Tat gegenüber Bruder Pedro. Es lastete noch immer wie Blei auf meiner Seele, dass ich, wenn auch in Notwehr, das Leben eines Menschen auf mein Gewissen geladen hatte.

Trotz tiefer Dankbarkeit gegen den Herrn, den Allmächtigen, spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mir die Inbrunst, die ich sonst bei solchen außergewöhnlichen Erlebnissen spürte, einfach fehlte. Dieses Mal war alles irgendwie anders, und ich merkte es am deutlichsten, als ich für die Vergebung der Sünden von Bruder Eusebio betete, denn ich tat es ohne jegliche Überzeugung und mehr aus einer gut eingespielten Gewohnheit denn aus Demut und Gottesliebe.

Nach dem Gebet richtete ich mich erschöpft auf und ging in den Hof, um mich von Kopf bis Fuß zu waschen und den Dreck und Schweiß dieser grausamen Reise ein für alle Mal loszuwerden.

Als ich später in die Zelle zurückkehrte, lag auf meiner Pritsche ein neues, sauberes Gewand sowie frisch gewaschene Unterwäsche. Ich legte hastig das Allernötigste an, schlüpfte unter die kratzige, grobe Decke und schlief alsbald ein.

Viel später, als ich benebelt und orientierungslos aufwachte, schien draußen das helle Tageslicht, und ich brauchte eine ganze Weile um mich zurechtzufinden. Ich kleidete mich in aller Hast an und lief, so schnell mich die Beine trugen, zum Zimmer von Bruder Andrés. Zwei Mal musste ich kräftig an die Tür klopfen, bevor dahinter ein gedämpftes »Herein« erklang.

Bruder Andrés saß hinter dem Tisch und starrte mich wortlos an.

»Entschuldige die Störung, Bruder«, begann ich verlegen, »aber ich muss verschlafen haben. Das ist mir noch nie widerfahren«, sagte ich wahrheitsgemäß und merkte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg.

 

»Die Morgenandacht hat schon längst stattgefunden, aber wegen der besonderen Umstände deiner Reise will ich dir keinen Vorwurf machen.«

»Danke, Bruder«, erwiderte ich erleichtert, »aber ich wollte dich bitten, mir die Beichte abzunehmen, denn ich habe ungerechte Gedanken gehegt und eine schwere Sünde auf mich geladen.«

Andrés musterte mich aufmerksam.

»Bevor ich das tue, sag mir doch wohin du reist, Bruder.«

Ich erzählte ihm alles, was ich über meine Mission wusste, und bat ihn schließlich um Hilfe, ein Schiff zu finden, das mich nach Porto Ercole bringen würde.

»Warum segelst du nicht nach Ostia, wenn du schon nach Rom musst?«, wollte er wissen.

Die Frage überraschte mich, denn er muss gewusst haben, dass Porto Ercole der Anlaufpunkt der meisten italienreisenden Spanier war, seitdem die spanische Krone den größten Teil des Landes besetzt hielt.

»Ich werde dort erwartet«, erwiderte ich unsicher.

»Was Rom anbelangt, sind bereits einige Gerüchte im Umlauf«, sagte mein Gegenüber nachdenklich. »Aber wann gab es denn keine?«, bekannte er und erhob sich.

Wir gingen schweigend in die Kapelle, und ich schüttete im Beichtstuhl mein Herz aus.

Es vergingen einige Tage voller Erwartung, bis ich endlich erfuhr, dass ein Schiff im Hafen bereitstand, um nach Porto Ercole zu segeln, und mein Herz schlug plötzlich höher.

Am 6. Februar ging ich an Bord der Esperanza, einer spanischen Galeone, die verschiedene Waren für Italien geladen hatte.

Als ich an jenem Morgen in aller Frühe zum Hafen eilte, bemerkte ich, wie das schwache Morgenlicht durch den aufkommenden Nebel in alle Richtungen verstreut wurde. Sein matter Schein ließ den mächtigen Schiffsrumpf wie einen riesigen gestrandeten Wal erscheinen. Das Licht, das von überall her zu kommen schien, warf beständig wechselnde Farbspiele auf alles, was mich umgab. Ich hatte noch nie zuvor eine derartige Sonneneinstrahlung erlebt, und so hinterließ mir diese Szene einen unvergesslichen Eindruck.

Zum damaligen Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, welche Bedeutung das Licht im späteren Verlauf meiner Reise spielen würde. Hätte ich es geahnt, wäre mir keine Mühe zu groß gewesen, um diese Mission zu verhindern.

Als das Schiff endlich auslief, starrte ich noch lange auf die Konturen der Stadt, die in dem gespenstischen Licht, wie eine riesige Geistersiedlung vom Nebel nach und nach verschluckt wurde. Eine Weile später vernahm ich kein Geräusch mehr vom Hafen, und eine unerwartete, bedrückende Stille legte sich über das Schiff. Der Wind war leicht und das Plätschern der Wellen wurde immer lauter, während sich der Nebel zusehends verdichtete. Hätte es nicht die Nebelglocke gegeben, die in regelmäßigen Abständen mahnend erklang, wäre ich beinahe der Vorstellung erlegen, mich auf einem Geisterschiff zu befinden. Ich erwog wegen dieser unheimlichen Atmosphäre in meine Kajüte hinabzusteigen, aber die salzige, frische Meeresluft hielt mich mit ihrem unverwechselbaren Duft zurück, und so entschied ich, noch eine Weile an Deck zu verweilen.

Der Nebel war inzwischen derart dicht geworden, dass man die Hand vor den Augen nicht mehr erkennen konnte, und das vermittelte mir merkwürdigerweise ein seltenes Gefühl der Geborgenheit. Ich ließ meine Gedanken schweifen und war soeben im Begriff diese neuartige Freiheit auszukosten, als mich plötzlich der Klang von Stimmen aus den Träumereien riss.

Sie hörten sich so nah an, als wären sie nur wenige Schritte von mir entfernt. Sie gehörten offenbar zwei Männern, die sich eigentlich leise unterhielten, doch der tückische Nebel ließ sie so deutlich erklingen, als hätten sie gerade in Armlängenweite von mir entfernt gesprochen.

Mein erster Impuls war sofort den Rückzug anzutreten, denn ich lauschte nur ungern anderen beim Gespräch, aber eine plötzliche Angst entdeckt zu werden lähmte mich, und so blieb ich regungslos stehen.

»Es ist eine Schande, dass wir uns noch immer unter diesem fremden Stiefel quälen und nichts dagegen unternehmen«, begann der erste Mann mit tiefer, tönender Stimme. Sein Italienisch war mundartlich gefärbt, und ich hätte ihn auf Anhieb der Toskana zugeordnet.

»Ja, in der Tat, wir sind nichts weiter als Vasallen dieser hochnäsigen Bande, die ich hier nicht näher nennen will, weil wir sonst Ärger bekommen. Es werden bald sechzig Jahre sein, dass uns die Franzosen an die … verkauft haben, und seither haben wir im eigenen Land nichts mehr zu bestimmen«, erwiderte die zweite Stimme, die nach einem alten Mann klang.

»Meinst du, mit den Franzosen wäre es uns besser ergangen? Die hätten genauso ihre Truppen bei uns abgestellt, wie es die anderen tun. Du bist im Irrtum, alter Freund, wenn du glaubst, dass es einen Unterschied macht.«

»Du magst wohl recht haben. Es wird schwer sein, diesen Besatzer zu verjagen, solange er das Wohlwollen des Papstes genießt. Und der ist nun mal in unserem Land das Maß aller Dinge …«

»Ich fürchte, da irrst du gewaltig«, widersprach der erste Mann entschieden. »Seit Philipp II. tot ist, wackelt auch der Heilige Stuhl. Vergiss nicht, dass Philipp der größte Unterstützer des Papsttums in den letzten hundert Jahren war.«

»Nein, verehrter Freund, da muss ich dir entschieden widersprechen. Bereits sein Vater, Karl V., hatte sich angeschickt, das alte Reich Karls des Großen wieder zu beleben. Hätte er Erfolg gehabt, würden wir womöglich unsere Unabhängigkeit genießen und müssten nicht unter fremder Herrschaft ächzen.«

»Das ist ein Traum, eine Illusion, nichts weiter«, gab der andere beleidigt zurück. »Im Augenblick sind nur zwei große Mächte auf unserem Kontinent von Bedeutung, mit Ausnahme der Engländer im Westen und der Türken im Osten. An Frankreich und Spanien kommt zurzeit niemand vorbei.«

»Und gerade diese beiden sind bankrott und zwar mit Brief und Siegel. Das ist der einzige Grund, warum wir heutzutage noch immer Frieden haben. Diese Könige haben ihre Länder derart heruntergewirtschaftet, dass sie nicht einmal mehr Kriege führen können, weil ihnen das Geld dazu fehlt. Das ist die Wahrheit und sonst nichts! Würden wir unsere Geschäfte auch so führen wie diese Herrschaften ihre Länder, dann würden wir schon längst im Schuldnerkerker schmoren …«

»Wohl wahr, mein Bester. Das sehe ich auch so. Hätte man sich darauf beschränkt, diese lutherischen Ketzer mit Schlauheit statt mit Gewalt zu bekehren, hätte das Abenteuer in den Niederlanden mit den Gemetzeln des Herzogs von Alba und dem übrigen Elend nie stattgefunden.«

»… und eine Menge Geld hätte für nützliche Zwecke verwendet werden können.«

»Du sagst es, Verehrtester. Man hätte für uns arme Kaufleute die See und Landwege sicherer machen können, und allen wäre das zugute gekommen.«

»Ja. So müssten wir jetzt nicht die türkischen Piraten fürchten, wenn wir nach Hause segeln …«

»Gemach, gemach. Die Türken brauchen wir nicht mehr so sehr zu fürchten«, gab der andere zu bedenken, »denn seit mehr als dreißig Jahren ist ihr Stern am Sinken.«

»Du meinst nach 1571 bei Lepanto?«

»Ja, seit dieser verlorenen Seeschlacht haben sie auf den Weltmeeren kaum noch etwas zu melden.«

»Sie sind aber noch immer eine Bedrohung im Osten«, wandte der Erste ein.

»Wie man’s nimmt. Letztlich brauchen sie uns und wir brauchen sie, denn jeder hat etwas zu verkaufen, was der andere nicht besitzt.«

»Ich mache mir am meisten Sorgen über die Zukunft unserer Heimat, denn ich sehe durch diese Besatzung keinerlei Hoffnung für unser geschundenes Land.«

»Stimmt. Damit hast du den wunden Punkt getroffen, verehrter Freund«, pflichtete der Mann mit der klangvollen Stimme bei. »Solange der Papst an der Leine dieses Landes hängt, du weißt schon welches ich meine, werden wir nie unabhängig sein. Und statt die Interessen Italiens auch nur im Entferntesten zu achten, verprasst der Vatikan Unsummen für den Bau dieses Ungeheuers.«

»Du meinst St. Peter, nicht wahr?«

»Genau. Sie bauen schon seit über hundert Jahren daran, und es ist noch immer kein Ende in Sicht. Kein Wunder, dass das Luthertum und der Calvinismus uns heutzutage das Leben schwer machen.«

»Ssssch, nicht so laut sonst hört uns noch jemand, und wir enden auf dem Scheiterhaufen.«

»Ich kann mich bald nicht mehr beherrschen! Wir werden bis zum letzten Scudo ausgepresst, nur um etwas zu errichten, was kein Mensch braucht. Als wären wir keine guten Christen, wenn wir die Errichtung dieses Baus nicht unterstützen würden.« Der Mann hatte sich endgültig in Wut geredet.

»Übrigens, hast du schon das neueste Gerücht gehört?«, versuchte ihn der andere abzulenken.

»Nein. Was für ein Gerücht?«

»In Rom soll der Teufel selbst zu Gange sein. Es geschehen derart seltsame und abscheuliche Dinge, dass die Leute es nicht wagen, offen darüber zu sprechen.«

»Tatsächlich?«, fragte der Mann mit der lauten Stimme. »Was ist da los?«

»Ich weiß es selbst nicht genau, aber die ganze Stadt scheint in Aufruhr zu sein. Ich habe es aus einem Brief meines Neffen erfahren, der mir vor kurzem nach Spanien schrieb. Er wohnt in der Nähe von Rom und konnte mir deshalb keine Einzelheiten nennen.«

»Ich hoffe nur, dass er sie alle holt«, erwiderte der Erste.

»Wer, mein Neffe?«

»Nein, der Teufel.«

Ich hörte, wie sich die Schritte entfernten, und plötzlich war alles um mich her wieder still. Ich drehte mich um und lief an der Brüstung entlang bis zum Heck, wo ich mich unsicher zu meiner Kajüte hinabtastete.

Dort, in der Abgeschiedenheit des winzigen Raumes, begann ich über das Gespräch der beiden Männer nachzudenken. Die Probleme Europas, die sie angesprochen hatten, waren mir sehr wohl bekannt, und obwohl ich einem Großteil ihrer Ansichten nicht zustimmen konnte, hatten sie in mancherlei Hinsicht doch recht. Mit Wohlwollen und Überzeugungsarbeit hätte man die Gefolgschaft von Leuten wie Luther und Calvin bestimmt niedrig halten und dadurch viel Leid und Blutvergießen vermeiden können. Etwas mehr Bescheidenheit hätte unserer Mutter Kirche gut gestanden, aber das war ein Gedanke, den ich niemals offen geäußert hätte.

Was mich aber an diesem mitgelauschten Gespräch am meisten beunruhigte, waren die letzten Worte dieser Männer, denn ich war sicher, dass sie in irgendeiner Form meine Mission berührten.

Während der ganzen elf Tage, die meine Reise in Anspruch genommen hatte, versuchte ich mich von den Gedanken über das, was mich in Rom erwarten würde, loszulösen, indem ich die Zeit mit Gebeten und Exerzitien verbrachte.

Als schließlich am frühen Morgen des elften Tages die Küste Italiens am Horizont erschien, stieß ich ein leidenschaftliches Gebet gen Himmel und bat unseren Herrn um Kraft und Mut, alles, was mich in nächster Zukunft erwarten würde, in seinem Sinne zu vollbringen. Ich hatte damals keine Vorstellung davon, wie trefflich ich um das Richtige gebetet hatte.

Am Vormittag des 17. Februar setzte ich zum ersten Mal den Fuß auf italischen Boden. Bevor ich von Bord ging, musterte ich aufmerksam die kleine Stadt, die sich vor mir ausbreitete, aber meine Augen suchten eigentlich nach einem ferneren Ziel, welches von Porto Ercole aus nicht zu sehen war.

Rom, die Welthauptstadt unseres christlichen Glaubens, weckte meine Sehnsucht. Ich klemmte den Lederbeutel mit den wenigen Habseligkeiten fest unter den Arm und ging zögerlichen Schrittes die Brücke hinunter.

Porto Ercole, obwohl bedeutend kleiner als der Hafen von Valencia, schien nicht minder geschäftig zu sein. Unzählige Menschen kamen und gingen in rastloser Betriebsamkeit, als verfolgten sie alle ein genaues Ziel. Ihre Eile und Zielstrebigkeit weckten in mir auf Anhieb den Eindruck, als nähmen sie sich und ihre Handlungen ausgesprochen wichtig.

Der Geruch von Seewasser und Fisch drang mir in die Nase und vermengte sich fast augenblicklich mit unzähligen anderen Düften und Gerüchen zu einem einmaligen Gemisch, dem man nur in einer Hafenstadt begegnen konnte.

Mein Blick schweifte über die vielen Garküchen und Marktstände, die sich bis weit nach hinten zur Häuserfront erstreckten, und plötzlich befiel mich eine regelrechte Panik, da ich nicht wusste, nach wem ich Ausschau halten sollte. Bruder Javier hatte mich vor der Abreise darüber in Kenntnis gesetzt, dass man mich bei der Ankunft erwarten würde, aber mehr hatte er nicht gesagt. So stand ich hilflos da, am Fuße der Schiffsbrücke und hielt Ausschau nach jemandem, der meine suchenden Blicke erwidern würde.

 

»Bruder Tomás?«

Die Stimme erklang dicht hinter mir, und ich machte vor Schreck beinahe einen Satz nach vorne. Blitzschnell drehte ich mich um und fand mich plötzlich vor einem großgewachsenen, beleibten Mönch mit länglichem Gesicht wieder, der mich auf Anhieb an ein Pferd erinnerte. Seine unruhigen blauen Augen musterten mich voller Ironie, als hätte es ihm regelrecht Spaß gemacht mich zu erschrecken.

Ich versuchte, so gut ich konnte, meine Verlegenheit zu verbergen, aber ich glaube es misslang mir gründlich, denn der Mönch, den ich auf Ende Zwanzig schätzte, fuhr, ohne meine Antwort abzuwarten, vorwurfsvoll fort:

»Ich warte seit über einer Woche auf deine Ankunft, Bruder.«

»Entschuldige vielmals«, erwiderte ich, noch immer eingeschüchtert, »aber die Straße in Spanien war schwer zu bewältigen. Wie ist dein Name, Bruder?«

»Ich heiße Gioacchino und habe die Aufgabe, dich nach Rom zu begleiten.«

Es war nicht gerade der typische Italiener, der vor mir stand, nicht nur wegen seiner großgewachsenen Gestalt, die mich um mehr als einen Kopf überragte, sondern auch, weil mich seine kurz geschorenen blonden Haare und seine kantige Art stutzig machten. Und da war noch dieser kaum merkbare fremde Akzent, den ich zunächst nicht einzuordnen vermochte. Ich hatte zwar einen Verdacht, verzichtete aber darauf, Fragen zu stellen, denn ich spürte, dass die Zeit dafür bald kommen würde.

Ich nickte Gioacchino kurz zu, als Zeichen, dass ich seine Worte vernommen hatte, und folgte ihm schweigend. Es brachte mich in große Verwirrung, dass ein Mönch von einem anderen Orden zu meinem Empfang entsandt wurde, und es fiel mir schwer das zu verbergen.

»Ich danke für deine Geduld, Bruder Gioacchino, und freue mich auf die gemeinsame Reise nach Rom. Darf ich fragen, welchem Orden du angehörst?« erkundigte ich mich vorsichtig.

»Ich diene im Orden des Heiligen Dominikus«, sagte er Stolz erfüllt.

Seine Worte ließen mich heimlich erstarren. Da ich mir aber nichts anmerken lassen wollte, fragte ich zur Ablenkung:

»Wie weit ist es bis Rom, Bruder Gioacchino?«

»Wenn der Herr uns gnädig ist, sind es nicht mehr als drei bis vier Tagesmärsche«, entgegnete der blonde Mönch.

So setzten wir unseren Weg schweigend fort, und ich überlegte warum meine Mission immer rätselhafter und geheimnisvoller wurde, je mehr ich mich Rom näherte. Ich hatte eher das Gegenteil erwartet und mich der hehren Hoffnung hingegeben, sobald ich italischen Boden betreten habe, der Aufklärung meiner Mission einen großen Schritt näher zu kommen.

Ergeben beabsichtigte ich, die Reise geduldig durchzustehen, da die Stimme der Vernunft mir sagte, dass all diese Geheimniskrämerei irgendwo eine nachvollziehbare Ursache haben musste. Der Wunsch, meinen Weg schweigend und in mich gekehrt zurücklegen zu dürfen, erwies sich jedoch als allzu anspruchsvoll, denn nach kurzer Zeit hob Bruder Gioacchino unvermittelt an:

»Wie hältst du es mit dem Molinismus, Bruder Tomás?« Sein pockennarbiges Gesicht verzog sich zu einem hinterhältigen Grinsen, und sein Mund enthüllte eine Reihe großer gelblicher Zähne.

Die Angst vor dieser Frage war der Grund, warum ich insgeheim erstarrt war, als er mir sagte, dass er Dominikaner sei. Gioacchino hatte es mit Bedacht darauf abgesehen, mich in schwere Verlegenheit zu bringen, und das ließ mich an der Gutmütigkeit seines Charakters ernsthaft zweifeln.

Der Molinismus wurde zu einem Stein des Anstoßes zwischen Dominikanern und Jesuiten und führte zu erheblicher Spannung innerhalb der Kirche. Es kam soweit, dass offene Anfeindungen gegenüber der Gesellschaft Jesu beinahe alltäglich wurden und dadurch unser Orden zeitweilig in die Missgunst der Kirchenoberen geriet.

»Du kommst doch aus Cuenca«, fuhr Gioacchino unbeirrt fort und tat es in einem Tonfall, der eindeutig eine Kriegserklärung an meine Person darstellte.

»Ja«, entgegnete ich und versuchte mich, so gut es ging, zurückzunehmen.

»Dort hat dieser unselige Molina den Rest seines unwürdigen Lebens verbracht, nicht wahr?«

»Bruder Luis hat in der Tat seinen Lebensabend in Cuenca beschlossen, aber das ist kein Grund sein Andenken zu beschmutzen. Ihn zu beschimpfen ist wahrhaft kein christliches Verhalten«, antwortete ich beherrscht.

Der Konflikt zwischen Jesuiten und Dominikanern entzündete sich an der Theorie von Luis de Molina, nach der der Mensch über einen freien Willen verfüge und Gott seine Geschicke so lenke, dass dieser freie Wille nach seiner gottgewollten Vorstellung in die Tat umgesetzt werden könne. Molinas These stellte den Versuch dar, die Spannung zwischen freiem Willen und göttlicher Fügung zu lösen, was schließlich unzählige Kritiker hervorrief, von denen die Dominikaner die erbittertsten waren. Diese vertraten nun die Ansicht, der Mensch sei ein hilfloses Werkzeug in der Hand Gottes und hielten diese von ihnen verkündete Wahrheit für unumstößlich.

Nun hatte ich nach allen Widrigkeiten dieser langen und beschwerlichen Reise von Cuenca einen Mönch als Wegbegleiter, der mir alles andere als wohlgesinnt war und mich mit hartnäckiger Böswilligkeit in eine dogmatische Falle zu locken versuchte.

»Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet, Bruder Tomás«, forderte er mich heraus.

»Entschuldige vielmals, Bruder«, erwiderte ich. »Aber es war mir nicht klar, dass ich gleich bei der Ankunft eine Befragung über mich ergehen lassen muss.«

»Ich befrage dich gar nicht, Bruder. Ich will nur wissen, wie du dazu stehst«, erwiderte der Dominikaner, und ich merkte zum ersten Mal seit unserer Begegnung, wie seine Stimme leicht unsicher wurde. Das ließ Hoffnung in mir aufkeimen, und ich ging zum Gegenangriff über.

»Woher kommst du, Bruder? Ich rätsle die ganze Zeit darüber, weil ich deinen Akzent nicht einordnen kann. Du bist bestimmt kein Italiener, nicht wahr?!«

Er legte die Stirn in Falten und warf mir einen misstrauischen Blick zu.

»Was hat das mit unserem Thema zu tun?«, wollte Gioacchino wissen.

»Ich frage nur, weil ich deine hervorragenden Italienischkenntnisse bewundere«, gab ich sanft zurück.

Das verunsicherte ihn noch mehr, und er ging blindlings in meine Falle.

»Aus Teutschland«, erwiderte der Dominikaner.

»Ach so, das hätte ich nie gedacht. Du besitzt ja gar keinen germanischen Akzent.«

Er sah mich fragend an.

»Es verwundert mich, dass gerade du, der du aus Teutschland kommst, mich so harsch zu Molina befragst«, fuhr ich nun schneidend fort, »denn gleichviel, welche Verfehlungen Bruder Luis vorgeworfen werden, er war stets ein treuer Diener des Herrn und ein folgsamer Soldat unserer Heiligen Mutter Kirche. Deshalb glaube ich nicht, dass die großen Probleme, die unsere Welt im Allgemeinen und die Kirche im Besonderen plagen, von ihm herrühren, sondern viel eher vom gottlosen Ketzer Luther und seinen sündigen Nachfolgern. Sie allein haben unsere Welt in Krieg, Elend und Zerstörung gestürzt und nicht die Thesen von Luis de Molina.«

Der Schlag war zwar niederträchtig, aber er saß. Bruder Gioacchino erstarrte, als hätte ihn der Blitz getroffen, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Sein runder, ausladender Bauch fing mächtig an zu zittern, und ich erschrak, weil ich befürchtete, er würde womöglich ohnmächtig. Sein Mund öffnete sich, aber kein einziger Laut kam heraus. Er rang nach Worten, und seine Reaktion bestätigte mir die Vermutung, dass mir dieser Mann rhetorisch bei weitem nicht gewachsen war. Diese Feststellung löste bei mir weder Freude noch Stolz aus, einzig Scham, denn ich fand es peinlich zu solchen Mitteln greifen zu müssen, um mich und meine Ansichten zu verteidigen. Insgeheim bat ich den Herrn um Vergebung und fuhr fort, meinem Gegner den endgültigen Schlag zu versetzen.

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