Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Aus der Reihe: edition lendemains #42
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1.4 Skandal
1.4.1 Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs

Der Versuch einer Definition des Bösen hat erwiesen, dass seine Funktionalität als kategorialer Begriff problematisch ist. Er bezeichnet weder ein rein ethisches Konzept (mit all seinen philosophischen und theologischen Implikationen), noch ein ästhetisches. Dementsprechend schwer objektivierbar gestaltet sich eine Klassifikation eines Textes/Kunstwerks oder auch eines dargestellten Inhalts als »böse«. Es bleibt demgemäß stets zu differenzieren, ob der Text selbst eine provokante Wirkung hat (und ihm damit eine subver­sive, normenzersetzende Kraft eignet) oder ob jener Reflexionen über das Wesen des Bösen anstellt. Bezieht sich der Text auf ethisch-moralische Vorstellungswelten, die dem Leser bekannt sind oder setzt er diese außer Kraft? Kurz: Gibt es in der Kunst überhaupt noch ein Böses und wenn ja, welcher Art? Im gegenwärtigen Zeitalter des anything goes, der ultima­tiven Abstumpfung, drängt sich die Frage nach dem Status des Bösen bzw. nach dem ethischen Wert dieses Begriffs nahezu auf. Ohne dabei die im Vorfeld angestellten Überlegungen zum Bösen und der Literatur als nichtig erklären zu wollen, soll im Folgenden jedoch ein weiterer Begriff eingeführt werden, der Aspekte ethischer Natur (Reflexion über Normen und Werte, gesellschaftlicher Status und Wert der Kunst) mit jenen ästhetischer (Schaulust, ästhetische Erfahrung und Emotionen) zu subsumieren vermag: der Skandal.

Wörtlich bedeutet der Begriff zunächst »Ärgernis«, »Aufsehen« und wurde dem Franzö­sischen scandale entlehnt, das wiederum auf das Lateinische scandalum zurückgeht. Dieses leitet sich jedoch von griechisch skándalon (σκάνδαλον) ab, was so viel bedeutet wie »Fall­strick«, »Ärgernis«, »Anstoß«, und von dem ebenfalls griechischen Begriff skandalēthron (σκάνδάληθρου), welcher eine »Auslösevorrichtung in einer Tierfalle« bezeichnet.1 Skandalon meint dabei den Stein des Anstoßes, der dem ursprüng­lichen Wortsinn nach die Tierfalle zuschnappen lässt und an dem sich im übertragenen Sinne die (öffentliche) Empörung ent­zündet. Wie Steffen Burkhardt erläutert, dehnte sich der ursprüngliche Wort­sinn »Stellhölzchen einer Falle« qua pars pro toto zunächst auf den der Falle aus, um gleichsam metaphorisch gebraucht zu werden, wie eine Komödie des Aristophanes (um 445–385 v. Chr.) belegt. Im religiösen Bereich (zwar auch in der altgriechischen Bibelüber­setzung des Alten Testaments, aber vor allem im Neuen Testament) wird der Begriff in seiner lateinischen Übersetzung scandalum gleichfalls in der Bedeutung »Falle« verwendet. Diese wird jedoch erweitert auf »Hindernis« und ferner »Ursache des Verderbens«.2 In der Tat ist der Konnex von religiösen Konno­tationen des Begriffs »Skandalon« mit einer religiös-theologischen Konzeption des Bösen augen­scheinlich:

So fungiert das σκάνδαλον (skandalon) als Stein des Anstoßes, Fels des Strauchelns, zur Bezeichnung von Verderblichem, Anstößigem, Schädlichem wie der Anbetung von Götzenbildern und Götzendienst oder wird in einem weiteren Sinne auch als Anlass zum Fall durch eigene Schuld und Verführung zur Sünde verwendet – kurzum: das σκάνδαλον (skandalon) bezeichnet Gesetzesübertretungen aller Art und die Ursache allen Unheils per se. Es wird zu einem leeren Signifikanten, zu einem vereinheitlichenden Zeichen für alles, was das System gefährdet. Das σκάνδαλον (skandalon) wird zu einem Platzhalter für das der Ideologie der religiösen Gruppe im Weg Stehende. Es ist der Weg in die Verdammnis und bildet eine Art biblische Achse des Bösen, die zu überschreiten mit göttlicher Bestrafung geahndet wird. 3

Das Skandalon wird hier explizit mit dem Bösen in Beziehung gesetzt.4 Analog verhält es sich dann mit den moralischen Implikationen, über die der Begriff verfügt: »Der Skandal ist das, woran die Moral Anstoß nimmt«.5 Bösch zufolge bezeichnet der Skandal damit zweierlei, und zwar zum einen das Ärgernis erregende Moment als solches (also das Skandalon) sowie den »Vorgang der Erregung selbst«.6 In der Tat handelt es sich bei einem Skandal bzw. bei der Skandalisierung um einen »Kommunikationsprozess«, dem ein mehrschrittiger Mechanismus zugrunde liegt,7 der in der Regel durch einen Norm­bruch8 initiiert wird.

In Anlehnung an die Forschungsliteratur kann »von einem Skandal im analytischen Sinne« dann die Rede sein, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind: a) Ein »prakti­zierter oder angenommener Normbruch« wird von einer Person, einer Gruppe oder einer Institution begangen; b) in der Folge wird eben dieser Normbruch an die Öffent­lichkeit gebracht und c) erregt Ärgernis bei einem breiten Publikum.9 In der Tatsache, dass ein Skandal ohne Öffentlichkeit quasi nicht existieren kann, manifestiert sich denn auch seine Theatralität: Der publik gemachte Skandalruf drängt den Skanda­lierten in das Schein­werferlicht des öffentlichen Diskurses, welcher sich vor dem empörten, in seinen Werten gekränkten Publikum zu verantworten hat. Betrachtet man die Rollen, die in einem Skandal­prozess besetzt werden, in Hinblick auf ihre Funktionalität, lassen sich diese mit Sighard Neckel in seiner Studie zum politischen Skandal auf insgesamt drei, die sogenannte Skandal-Triade, bringen:

Denn schiebt man nur die jeweils besonderen Kulissen des Skandals zur Seite, entkleidet man die Darsteller ihrer historischen Kostüme, bleiben immer dieselben Aktoren auf der Bühne zurück: der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öffentlich denunziert) sowie ein, oder besser: mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen. 10

Die von Neckel betonte Analogie zum Theater stellt auch Wagner-Egelhaaf heraus, wenn sie aufzeigt, dass der Skandal in seinen Grundstrukturen der Poetik des klassischen Dramas in wesentlichen Punkten entspricht:

Im I. Akt wird die Normalität überraschend gestört – das wäre im klassischen Drama die Exposition. Im II. Akt zeigen sich die Normbrecher und deren Opfer in Person – im klassischen Drama entspräche dies der Steigerung. Im III. Akt, auf dem Höhepunkt, der Peripetie, explodiert das Geschehen, indem es in die interaktive, symbolische Sphäre eintritt. Im IV. Akt findet ein Prozess der Reinigung und der Selbstver­gewisserung statt; der Transgressor wird bestraft und Reformen werden beschlossen. Im klassischen Drama käme diese Phase dem retardierenden Moment gleich. Im V. Akt schließlich kehrt Normalität in Gestalt reformierter Normvorgaben ein, die das System vor zukünftigen Störungen schützen sollen, bis sich der nächste Skandal ankündigt. Dramentechnisch wäre das ironischerweise die Katastrophe.11

Eine solche Analogie lässt sich sogar gewissermaßen bis zum Wirkziel der Tragödie aufrechterhalten. Während die durch das Dramenstück effektuierte Katharsis den Zu­schauer von Negativaffekten reinigt, dient auch der Skandal einer Art Säuberung, denn:

Skandale machen sichtbar, was in einer Gesellschaft problematisch ist, indem sie Normverstöße und Verletzungen von Werten offen legen. Sie scheinen anzuzeigen, dass es mit einer Gesellschaft nicht zum Besten steht. Dass Skandale als solche überhaupt entstehen können und nicht vielmehr unter den Teppich gekehrt werden, zeigt jedoch an, dass Selbstreinigungskräfte am Werk sind.12

Damit wären gleichermaßen die Funktionen des Skandals benannt: Er kann einerseits als Normenbarometer13 fungieren, indem er zunächst aufzeigt, dass in irgendeiner Form ein Normverstoß vorliegt, und weiterhin indiziert, welche Normen dies betrifft. In historischer Perspektive kann die Anzahl und Natur von Skandalisierungen gleichermaßen Aufschluss über »Moralisierungswellen«14 geben, und damit über Schwellenmomente und Umbruch­pha­sen innerhalb einer Gesellschaft, die Werte in einem öffentlichen Diskurs thematisiert, diskutiert, Normverstöße sanktioniert und gleichermaßen neue Werte erschließt und alte aktualisiert.15 Es ist dabei nicht von der Hand zu weisen, dass der Skandal mitunter ein soziales Ritual darstellt, in dem sich durch »eruptive[n] Entladung angestauter Span­nungen« die Gesellschaft selbst reinigt.16 Und diese Energie richtet sich auf den Skandalisierten, der gleichsam als Sündenbock17 fungieren kann. Ein Sündenbock, der per definitionem erst qua Projektion und Transfer zu einem solchen wird,18 kann dabei völlig unschuldig der Sünden sein, die er repräsentiert; der Skandal fußt jedoch in der Regel auf einem realen Verstoß, auch wenn dieser erst durch Zuschreibung seitens des Skandalierers publik bzw. problematisierend zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht wird. Doch wird ein Skandal im öffentlichen Raum über die Medien ausgetragen, welche als Kommunika­tionsorgane entscheidend zur Gestaltung der »Geschichte« bei­tragen. Dabei fungieren sie quasi als impliziter Autor, der bestimmte Fakten bzw. Aspekte selektiert, hyperbolisch ausschmückt, stärker gewichtet als andere und insgesamt prägend auf die Darstellung einwirkt. Dabei kann die öffentliche Abstrafung des Skandalierten »durch Moralisierung, Verkürzung oder Negativismus« deutlich harscher ausfallen, als dies der ursprüngliche Regelverstoß tatsächlich erfordern würde.19

Dass die Medien in diesem Zusammenhang eine solche Einflussmacht haben, verweist auf die Funktion des Skandals als sogenanntes »Mediennarrativ«: »Eine multidimensionale Ereignissequenz wird auf eine spezifische Form gebracht und dabei zum einen um einzelne Elemente verkürzt, zum anderen mit Sinn angereichert.«20 In diesem Sinne lassen sich durch Skandalforschung gleichfalls die »Definitionsmacht«21 von Medien erkennen und ferner ihre »Funktionslogiken« und inneren Arbeitsmechanismen erschließen. Somit ist eine Geschichte des Skandals gleichsam eine Geschichte der Medien einerseits und der Öffentlichkeit22 andererseits, wie Bösch feststellt.23 Skandalisierungen können dabei in verschiedenen Kontexten stattfinden, besonders häufig in den Medien vertreten sind dabei Skandale im Bereich der Politik, der Religion, aber auch der Massenkultur und natürlich der Kunst24 (einschließlich der Literatur).25 Im Folgenden soll der spezifische Fall des Litera­tur­skandals näher beleuchtet werden.

 

1.4.2 Literaturskandale

Der Literaturskandal ist für die vorliegende Studie natürlich von besonderem Interesse und soll nun in Anlehnung an aktuelle Forschungsliteratur näher ausdefiniert werden. Dass Literatur es vermag, Skandale zu produzieren, ist nicht schwer nachzuweisen. Nicht zuletzt die Texte, die im Folgenden besprochen werden sollen, belegen genau dies. Ladenthin geht so weit, den Konnex zwischen (moderner) Literatur und Skandal als einander bedingend zu bezeichnen:

[D]er Skandal in der alteuropäischen Vormoderne [war] ein Sündenfall der Literatur […], während er in der Moderne der Ernstfall ist. Zugespitzt kann man formulieren, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist. Der Skandal ist notwendiges Wesensmerkmal moderner Literatur, liegt im Begriff der Moderne eingeschlossen und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur.1

In der Tat scheint dies insofern nachvollziehbar, als der Blick auf die Historie von Skandalisierungen in und rund um die Kunst bzw. Literatur zu belegen scheint, dass die für die Moderne charakteristischen Avantgarde-Poetiken vor allen Dingen auf Provokation, Regelbrüchen mit konventionell gewordenen Kunstzwängen und Innovation beruhen (Dada, Expressionismus, Futurismus, Surrealismus, etc.). Dass er dies historisch in der Moderne lokalisiert, hängt natürlich mit der allgemeinen Emanzipation der Kunst im 19. Jahrhundert zusammen, die ausgehend von der Romantik nunmehr ihre Autonomie von moralisch-didaktischen Zwängen behauptet.2 Eine »Regelpoetik«, wie sie noch das 17. und 18. Jahrhundert kennt, wird mitunter zum ›Stein des Anstoßes‹ für eine Kunst, die sich modern wissen will.3 Sei dies in der Romantik, im l’art pour l’art oder auch im Symbolismus und der Dekadenzliteratur: Es gilt stets, das Konventionelle zu überwinden. Damit wird die Literatur­geschichte im Prinzip auf die Opposition von »opting in« und »opting out«4 formelhaft verkürzt, d.h. also um das Leitprinzip der Anpassung einerseits und der Differenz andererseits.

Diese Differenz kann dabei unterschiedlicher Natur sein. Zunächst kann sie den Stil und die technè des literarischen Kunstbetriebs als solchen betreffen. Es werden damit Streit­fragen um die Möglichkeiten und die Regeln der Kunst berührt, so z.B. kann man Flauberts Roman Madame Bovary anführen, der laut Auerbach insofern revolutionär scheinen muss, als er (und so auch die realistische Kunst im Allgemeinen) »breitere[r] und sozial tieferstehender[r] Menschen­gruppen zu Gegenständen problematisch-existentieller Darstel­lung« promoviert und damit bis dato gültige Stilgrenzen überschreitet.5 Der Skandal berührt also Normen innerhalb des literarisch-künstlerischen Felds und fällt damit in die von Friedrich etablierte Kategorie des autonomen Literaturskandals, d.h. also von Skandalen, die die Streitfrage über die Grenzen und die Natur der Kunst betreffen.6 Zu dieser Kategorie zählt er darüber hinaus auch den Autorenstreit, der nicht selten einem Geltungsbedürfnis entspringt und nicht zwangsläufig rein literarische Streitpunkte betreffen muss. Als weiteres Beispiel mag dabei sicherlich auch bereits die Querelle des Anciens et des Modernes im 17. Jahrhundert gelten, bei der die rückwärts­gewandte Poetik der französischen Klassik unter Beschuss durch die an Stoffen der Gegenwart interes­sierten Modernen geriet. Hier wurde auch nicht zuletzt die Literatur selbst instru­mentalisiert, um die eigene Position deutlich zu machen: Stein des Anstoßes im wahrsten Sinne des Wortes war ohne Zweifel die Verlesung Charles Perraults Lehrgedichts »Le siècle de Louis le Grand« (1687). Darüber hinaus lassen sich mit Friedrich gleichfalls Werke zu dieser Kategorie rechnen, die den Skandal als Sujet thematisieren,7 so z.B. Fontanes Effi Briest oder auch ein relativ aktuelles Beispiel aus der italienischen Literatur: Persecuzione von Alessandro Piperno. Ein gesonderter Fall des autonomen Litera­tur­skandals ist weiterhin der Autorenskandal, d.h. die »öffentliche Inszenierung von Künstlern als Skandalon«.8 Dies betrifft vor allen Dingen auch Autoren, die im Folgen­den besprochen werden, so natürlich einerseits Pier Paolo Pasolini und andererseits Michel Houellebecq, die ebenfalls als Personen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt des Interesses stehen.9 Dass dabei die bewusste Selbstinszenierung als Skandalfigur gleichermaßen zu einer kalkulierten Marketingstrategie werden kann, ist einleuchtend.

Dem autonomen stellt Friedrich dann den heteronomen Literaturskandal gegenüber, welcher vorliegt, »wenn Normkonflikte zwischen dem literarischen Feld und anderen unterschiedlichen Feldern, seien es Religion, Politik, Wirtschaft oder Justiz, zu Skandalen führen«.10 Zu dieser Kategorie zählen also all jene Werke, die aufgrund von Verstößen gegen sittlich-moralische Normen in Verruf geraten sind. Welche Aspekte im Spezifischen dies betrifft, vermögen die Zensur, wenn nicht gar die Klageschriften der Justiz zu indizieren. Paradebeispiele für diese Form des Literaturskandals stellen dabei natürlich de Sades 120 Journées de Sodome, Lautréamonts Les Chants de Maldoror, Baudelaires Fleurs du mal, Flauberts Madame Bovary usf. dar; es handelt sich um Werke, denen entweder faktisch (also durch die Justiz) oder im öffentlichen Diskurs (in der Literatur­kritik, im Zeitungswesen, öffentlichen Foren etc.) der Prozess gemacht wurde. Vornehm­lich gerät die Literatur dabei mit der sittlichen Moral in Konflikt, d.h. der Skandalruf ging und geht nicht selten mit dem Vorwurf der Obszönität einher. So lässt sich Ludwig Marcuses historische Kulturgeschichte des Obszönen (Obszön. Geschichte einer Entrüstung, Erstausgabe 1962) gleichermaßen als Skandalgeschichte des Literaturbetriebs lesen. Besonders konfliktgeladen ist sicherlich auch die Konstellation von Literatur und Religion oder Politik.11 Es fällt nicht schwer, Beispiele zu nennen, die demonstrieren, wie die Literatur mit Vorstellungen und Werten religiöser Natur kollidiert. Besonders brisant ist dabei wohl der Skandal um den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, auf den wegen seines Werkes The Satanic Verses 1989 durch den iranischen Geistlichen Ajatollah Chomeini ein Kopfgeld für dessen Tötung ausgesetzt wurde.12 Bei musli­mischen Fundamentalisten geriet er wegen Gotteslästerung in Verruf; ein Verbot des vermeintlich blasphemischen Textes wurde gefordert. Jedoch zeigt – dies hebt auch Wagner-Egelhaaf hervor – der Skandal um Rushdie und die Satanic Verses gleichermaßen auf, wie die Rollen neu verteilt werden können: So wurden die Skandalierer, also die extremistischen Muslime, im Anschluss an die Affäre wiederum selbst zu Skandalisierten: Es organisierte sich das Salman Rushdie Defence Committee, welches sich öffentlich für Artikel 19 des Grundrechts, d.i. das Recht der freien Meinungsäußerung, stark machte.13 Damit wurde Rushdie zu einer Symbol- und Märtyrerfigur, deren Schicksal an die Autonomie der Literatur und eines der grundlegenden Menschenrechte gemahnt. Es wiederholt sich quasi ein bereits im 19. Jahrhundert ausgefochtener Kampf um die Unabhängigkeit der Kunst: eine Schlacht, die man sicherlich bereits gewonnen glaubte.

Beide Formen, d.h. sowohl autonome als auch heteronome Literaturskandale, lassen sich sowohl vor als auch nach der 1800-Schwelle nachweisen. Und so wie der Skandal im Allgemeinen als Normbarometer zu fungieren vermag, so kann auch der Literaturskandal auf Funktionen und Potenzen der Literatur verweisen. Zum einen verweist die potentielle Skandalträchtigkeit der Literatur auf ihre Wirkmacht und Stellung in der Gesellschaft. Es leuchtet ein, dass sie, um in der Lage dazu zu sein, die Leserschaft zu skandalisieren, überhaupt erst rezipiert und für relevant erachtet werden muss.14 Zudem ist es notwendig, dass sie dabei einen relativ autonomen Status innehat und nicht durch beispielsweise Zensur »weichgespült« und konsensfähig gemacht wird. Friedrich verweist darauf, dass paradoxer­weise totalitär ausgerichtete Gesellschaften besonders skandalfrei sind: Dies liege aber vor allen Dingen daran, dass öffentliche Medienorgane der Propaganda und Konservierung totalitären Gedankenguts dienen und es damit von höchster Priorität sei, die Ideologien möglichst unhinterfragt zu lassen.15 Zum anderen kann Literatur selbst gesellschaftliche Nor­men »reflektier[en], »bestätig[en], »bekäm­pf[en]« und damit aktiv zu deren Transfor­mation beitragen.16 Dies setzt natürlich gleicher­maßen voraus, dass ein starker Bezug von Literatur zur gesellschaftlichen Realität des Le­sers als gegeben betrachtet wird.

Ein solches Vermögen der Literatur, Skandale zu produzieren, wird in der Postmoderne nunmehr in Frage gestellt. Airaksinen17 und auch Ladenthin gehen soweit zu behaupten, dass der Literaturskandal theoretisch tot sei:

Die Postmoderne war der Grabstein beim Tod des Skandals. Sie erklärte die repressive Toleranz nicht zum Faktum […] sondern zum Gebot. Die Verweigerung von jeglichem Normativen nahm der Literatur den Gegenstand. Denn wenn kein Weltbild Geltung hat, ist auch keines mehr zu zerbrechen. Wenn jede Moral kulturell relativ ist, kann man keine mehr der Unsittlichkeit überführen.18

Im »Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste« sei ein Skandal aufgrund von Normenplu­ralität, dem Toleranzimperativ und Quasi-Totalabstumpfung gar nicht mehr möglich. Doch die Praxis widerlegt dies augenscheinlich. So räumt er ein: »Allerdings ist die Postmoderne eben nur ein begrenztes Konstrukt. Global sind die kulturellen Konstrukte nicht so plural, wie Relativitätstheoretiker es behaupten«.19 In der Tat scheint es fast so, als hätten sich Skandale gerade in den letzten Jahren nahezu multipliziert, nicht zuletzt durch Sensations­berichterstattung und bewusst provokantes Marketing.20 Aus dem literarischen Bereich seien dabei nur ein paar Namen genannt: Thomas Bernhard, Martin Walser, Bret Easton Ellis, Catherine Millet, Christine Angot, Charlotte Roche und natürlich Michel Houelle­becq. Hiergeist löst das Paradoxon von Gesellschaften, die trotz vermeintlicher (Werte-)Liberalität besonders viele Skandale produzieren, indem sie den (Literatur-)Skan­dal als anachro­nistisches Kollektivritual identifiziert, das trotz historisch wandelbarer Grundbe­dingungen gemeinschaftsstiftende Funktionen übernimmt. In einem Vergleich von Flau­berts Madame Bovary und Catherine Millets L’Histoire sexuelle des Catherine M. (2001) arbeitet sie folgende Invarianten heraus:

1. Der Skandaldiskurs zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ab. 2. Ihm wohnt mit seiner Anlehnung an die Sündenbockstruktur eine starke symbolische Aufladung inne. 3. Er perpetuiert längst überholte Werte einer vormo­dernen Gesellschaftsstufe, ohne dass die Akteure hierin eine Zeitwidrigkeit erkennen würden. 4. Er ist durch einen hohen Grad an Emotionalität gekenn­zeich­net.21

Und während im 19. Jahrhundert dieser Ritus noch der Behauptung der Autonomie des Literaturbetriebs diente, setzt sich dieser Kampf in der Postmoderne symbolisch fort, obgleich er de facto obsolet erscheint. Wie der bereits erwähnte Fall Rushdie bereits zeigte, kann dabei das Rollenspiel neu besetzt werden: Der vormals Skandalierte wird zur Galions­figur eines Freiheitskampfes erkoren, steht nunmehr für den Erhalt eines mühsam erkämpften Rechts.22 Ob die Bedrohung der Kunstautonomie in einem solchen Fall real ist oder nicht, das Skandalritual mache vielmehr einen Raum der Freiheit verfügbar, der sich von der Banalität des Alltags absetze:

Indem Mitglieder einer Gemeinschaft die Autonomie des literarischen Feldes zelebrieren, inszenieren sie dieses als heiligen Raum der Evasion und Transgression, der sich von der profanen Alltagsordnung distinktiv abhebt. So gesehen übernimmt der Skandal die Funktion der Sakralisierung des Literaturbetriebs, wobei der Autor die Rolle des Propheten, seine Verteidiger die der Priester, seine Gegner die der Häretiker einnehmen.23

Hier lässt sich dann auch unschwer eine Parallele zu Bataille und seiner Konzeption der Literatur als Raum der Transgression erkennen. Die Literatur (und Kunst im Allgemeinen) behaupte sich damit kontinuierlich als Alternativraum, der sich nicht den Regeln des sozialen Gefüges des realen Lesers bzw. Rezi­pienten unterzuordnen habe.

 

Dieser Ansatz, der den postmodernen Literaturskandal als anthropologische Konstante und gemeinschaftsstiftendes Ritual zu definieren sucht, scheint mir äußerst lohnend, aber nicht erschöpfend. Denn – um noch einmal auf Friedrichs Einschränkung zurückzu­kommen – wir mögen uns zwar in einem Zeitalter befinden, in dem vermeintlich »anything goes«, doch gibt es dennoch Themen, die berühren und provozieren, und Literatur, die aufrütteln und anecken will. Auch wenn der Rezipient natürlich die Bereitschaft aufbringen muss, sich durch die Kunst erregen zu lassen (oder eben nicht, da wären wir bei den von Hiergeist betitelten »Atheisten des Skandals«, also jene, die »sich selbst in eine Metaposition […] katapultieren«, um »ihre eigene Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Modellen zu demon­strieren«24), reagiert er dennoch äußerst selten rein leidenschaftslos und ästhetisch. Auch der professionalisierte Leser, der dem Text eine kritische Distanz entgegenbringt, wird kaum völlig unbewegt den Gewaltimaginationen eines Bret Easton Ellis’ folgen können. Literaturskandale folgen nicht nur dem mehr oder weniger unbewussten Bedürfnis, die Literatur bzw. Kunst als sakralen Raum der Überschreitung zu markieren, sondern verweisen punktuell gleichermaßen auch auf prekäre Themen, die gegebenenfalls nicht allein kunstspezifisch, d.h. von poetischer Natur sind, sondern dem sozialen, politischen, religiösen etc. Bereich entstammen. Sofern es sich nicht aus­schließlich um einen Skandal um die Autorenperson selbst handelt (z.B. heikle Aussagen in einem Interview), können wir bei einem skandalträchtigen Text also durchaus fragen: Warum erregt er die Gemüter und was genau stellt das Skandalon dar?