Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Aus der Reihe: edition lendemains #42
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1.2.4 Der Ekel

Eine Theorie des Erhabenen löst das scheinbare Paradoxon des Wohlgefallens an per se missfälligen Gegenständen auf und beschreibt dabei gleichsam ästhetische Wirkungs­weisen schauerlicher Gegenstände, die, wie im Vorigen beschrieben, unterschied­licher Natur sein können. Die dergestalt provozierten Primäraffekte wie Schaudern, Angst, Überwältigung etc. sind dabei ästhetisch genießbar. Tatsächlich findet sich jedoch vor allen in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts recht einhellig ein Affekt vom ästhetisch Bekömmlichen ausge­schlossen: der Ekel. So bei Kant: »nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.«1 Kant zufolge handelt es sich also um eine Form der ästhetischen Aggression, die nicht mehr aufhebbar ist. Auch Moses Mendelssohn stimmt dem zu und findet folgende Begründung:

Hier zeigen sich schon handgreifliche Ursachen, warum der Eckel von den unangenehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen, schlechterdinges ausgeschlossen sey. Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos den allerdunkelsten Sinnen, als dem Geschmack, dem Geruche und dem Gefühle zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste. Die Nachahmung in den Künsten arbeitet blos für die deutlichere Sinne, für das Gesicht und das Gehör. Das Gesicht aber, hat keine eigene ekelhafte Gegenstände; […].2

Der Ekelaffekt berührt im Unterschied zu ›edleren‹ Empfindungen wie Angst, Schauder, Wut etc. die »allerdunkelsten Sinne«, die gegenüber dem durch den Kunstgebrauch geadelten Sehsinn und Gehör als Kontaktsinne deutlich ›leibgebundener‹ sind. Für Men­delssohn ist der Ekel nicht abstrahierbar; allein die Vorstellung eines ekelerregenden Gegenstands genüge, um selbigen hervorzurufen.3 Tatsächlich handelt es sich beim Ekel um einen Primäraffekt (wie Angst, Trauer, Freude, Überraschung, Wut), d.h. »[s]ein mimischer Ausdruck ist dem Menschen von Geburt an verfügbar«.4 Doch zeichnet er sich wohl besonders durch seine Körperbezogenheit und Intensität aus, wie Liessmann bemerkt: »Kein Affekt kommt, im wörtlichen Sinn, so aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen wie der Ekel; und kein Affekt wird, metaphorisch gewendet, so sehr zum Indiz einer metaphysischen Misere wie der Ekel.«5

Obgleich er sich dergestalt zunächst als immediater und leibgebundener Affekt prä­sentiert, kommen ihm diverse Funktionen und Wertigkeiten zu, je nachdem in welchem Kontext er manifest wird. Zu differenzieren sind hier die Ebene der Ästhetik, der Physis, der Philosophie und der Ethik.6 Ästhetisch ist der Ekel, wie aus Kants und Mendelssohns Bemerkungen ersichtlich wurde, vor allen Dingen der Gegenpol des Schönen, »Kehrseite des ästhetischen goût«, der das ästhetisch Genießbare transzendiert.7 Gleichzeitig ist er aber nicht nur das »schlechthin Andere[s]« des Ästhetischen, sondern auch »eigenste Tendenz des Schönen«:8 Wie Menninghaus vorführt, kann ein Zuviel an Schönem zum Überdrussekel führen, der sich einstellt, wenn nach der Sättigung durch einen als positiv (schön) bewerteten Reiz dessen Fortbestehen oder Übermaß als unangenehm empfunden wird. Gleich einer Süßigkeit, derer man zuviel isst, wird das in geringen Mengen Schmack­hafte unbekömmlich.9 Damit ist »das Schöne [ist] an sich selbst zugleich das (tenden­ziell) Ekelhafte; es ist aus sich heraus von der Gefahr bedroht, sich unversehens als ein Vomitiv zu erweisen.«10 Jedoch wird der Ekel bereits am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext von Sensualismus und den frühromantischen Erlebnispoetiken gleichsam zum Maximalreiz promoviert.11 Friedrich Schlegel diagnostizierte dabei das Choquante, »sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich« als grundlegende Tendenz der Kunst, die immer stärkere Effekte zu provozieren sucht.12

Physisch ist der Ekel wie bereits erwähnt ein angeborener Primäraffekt, der ferner körperliche Reaktionen wie Würgen und Erbrechen hervorrufen kann. Auslöser können dabei vor allem potenziell schädliche Gegenstände wie Verdorbenes oder giftige Lebensmittel sein.13 In der Philosophie kommt dem Ekel spätestens seit Nietzsche und Sartre eine besondere Wertigkeit zu. In Anlehnung an ersteren nennt Menninghaus den Ekel ein »spontanes und besonders kräftiges Nein-Sagen«, welches sich in diesem Fall gegen das Dasein selbst richtet.14 Der Lebensekel bzw. Lebensüberdruss ist damit durchaus der Melancholie und dem ennui anverwandt.15 Schließlich lässt sich darüber hinaus von einem moralischen Ekel sprechen, also einem »Abwehrgefühl gegen Hand­lungen, die als der sittlichen Moral widersprechend angesehen werden«.16 Das eigentlich Gegenständliche des physischen Ekels wird demnach auf der ethischen Ebene zum moralisch Verwerflichen und damit Anstößigen abstrahiert.

Der Ekelaffekt in seiner besonders heftigen Spontaneität kommt in all seiner Intensität eigentlich erst zum Tragen, wenn der Ekelreiz als aufdringlich empfunden wird. Der Ekel kann damit gleichsam als Abstoßung eines in seiner unmittelbaren Intimität als uner­träglich empfundenen Gegenstands beschrieben werden. Indessen kann dieser Gegenstand aber nicht nur reinen, ungetrübten Abscheu hervorrufen, sondern durchaus auch faszinieren. In diesem Sinne ist Ekel bei Freud und Kristeva eine Form der Verdrängung bzw. Ab­spaltung ureigenster Triebe – eine Verdrängung, die sich das Ich zur Selbsterhaltung bzw. zur Subjektkonstitution selbst auferlegt hat.17 Somit lässt sich der Ekel mit Menninghaus wie folgt verstehen als

die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3).18

Ferner wird er von Reiß weiter ausdifferenziert in Ekel erster Ordnung und Ekel zweiter Ordnung.19 Ekel erster Ordnung bezeichnet dabei den »gemeinschaftsbildenden Ekel«, welcher durch Objekte ausgelöst wird, die kollektiv als ekel­erregend empfunden wer­den.20 Einen eindrucksvollen und umfassenden Katalog relativ universaler Ekelobjekte erstellte der österreichisch-britische Philosoph Aurel Kolnai in seinem 1929 erschienenen Essay »Der Ekel«. Als Gegenstand des Ekels benennt er Objekte, die den folgenden Kategorien angehören: a) dem »Erscheinungskreis der Fäulnis«, d.h. der Verwesung und Zersetzung; b) dem Bereich der Exkremente, d.h. die »Zersetzungsprodukte des Lebens«, sowie c) der Kategorie der körperlichen Ausscheidungen; ferner verweist er auf d) den Ekeltyp des Klebens, d.h. alles, was dort haften bleibt, wo es nicht bleiben soll; e) ekelerregende Tiere, vor allem Insekten; f) Speisen, im Besonderen, weil diese im Übermaß genossen zum Überdrussekel führen; g) der menschliche Leib, wenn dieser als aufdringlich, physisch zu nah in all seiner Körperlichkeit empfunden wird; h) den Ekel vor dem »wuchernden Leben«, der »üppigen Fruchtbarkeit«, d.h. »das Geistig-Ekelhafte der Idee formlos schäumender Vitalität, qualitätsgleichgültiger Drauflosproduktion von Keimen und Brut«; i) den Bereich der Krankheit und »körperlichen Verwachsenheit«, d.h. der Ekel vor dem deformierten menschlichen Körper.21 Gleichwohl liefert Kolnai einen Apparat an moralisch Ekeler­regendem, der sich auf die folgenden Kategorien reduzieren lässt: a) den Überdrussekel; b) in Analogie zum physischen Ekel ein Übermaß an oder falscherorts entfalteter Vitalität; c) die ungeordnete, ungezähmte Sexualität; d) die Lüge; e) die Falschheit bzw. Untreue und f) die moralische Weichheit.22 Diese Objekte (sowohl physisch-mate­rieller als auch moralischer Natur) fallen damit in den Bannkreis zumindest größtenteils kollektiv empfundener Ekelempfindungen und gehören damit dem Ekel erster Ordnung an. Reiß grenzt demgegenüber den Ekel zweiter Ordnung ab, den der sogenannte Lebensekel konstitutiert.23 Da dieser deutlich diffuser, weniger an konkrete Gegenstände gebunden ist, gilt er gleichsam als subjektiv und individuell variabel.24

Wie eingangs mit Rekurs auf Kant und Mendelssohn erläutert wurde, besteht die vordergründige Problematik des Ekelaffektes in seiner scheinbaren Nicht-Ästheti­sierbar­keit. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Ekel das ästhetische Spiel mit der Fiktion durchbreche, in jedem Fall stets Natur, nie aber Kunst sei. Tatsächlich ist der durch Kunst erzeugte Ekel anderer Natur als der realiter produzierte.25 Wahrnehmungssubjekt und Kunstrezipient fallen hier in eins, doch in der Regel weiß letzterer um die Tatsache, dass er sich einer Fiktion ausliefert und hat in gewissem Maß die Kontrolle darüber, inwieweit er sich ihr aussetzt. Das Ekelobjekt ist in dieser Situation nicht physisch präsent, sondern lediglich in der Nachahmung. Das Kunstwerk fungiert quasi als Vermittler zwischen Rezipient und Ekelobjekt; das dem Ekelaffekt zugrundeliegende Gefühl von überwäl­tigender Nähe wird durch das Kunstwerk hergestellt. Es scheint naheliegend, dass gewisse Schlüsselreize auch in der Mimesis der Fiktion wirken: So wird eine besonders plastische bildliche Darstellung eines verwesenden Leichnams oder die ausnehmend detaillierte Schilderung einer stinkenden, schmutzigen Kloake auch in der Vorstellung eine Form des Ekels erzeugen. Somit ist für den Künstler wiederum in gewisser Weise absehbar, wie das Kunstwerk wirken wird: Sofern Ekelobjekte, die in der Regel als kollektiv ekelhaft gelten, in der Darstellung nachgeahmt werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie auf ähnliche Weise auf den Rezipienten einwirken, wie sie dies in der Realität tun. Wie Reiß herausstellt, lassen sich somit »phänomenologische Motivketten des Ekels erster Ordnung« detektieren, welche besonders effektiv den Ekelaffekt zu produzieren ver­mögen.26 Gleichsam vermag Kunst aber sicherlich auch moralischen Ekel hervor­zurufen, indem sie ethisch fragliche Handlungen an Ekelzu­schreibungen koppelt.

 

In der Moderne und Postmoderne scheint die Position, wie sie noch Kant und Mendelssohn u.a. vertraten, kaum noch adäquat: Längst gilt Ekelerregendes nicht mehr als Ausschlusskriterium für künstlerisch Wertvolles und ästhetisch Genießbares. Genres und Strömungen wie die gothic novel, Dekadenz, Naturalismus und Expressionismus, das »théâtre de la cruauté« oder auch abject art in den bildenden Künsten – um nur ein paar Beispiele zu nennen – belegen, dass Kunst und Ekelmotive sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass in Anbetracht der Ubiquität von Gewalt, Elend und Sexualität sowohl in den Künsten als auch der gegenwärtigen Popkultur (ein Trend, der sich seit den 90er Jahren fortsetzt) eine vollständige Integration, gar Abstumpfung von Ekelreizen stattgefunden hat. Thomas Anz lotet die Möglichkeiten des Genusses von Ekelhaftem in der Literatur und Kunst aus und macht dabei gleichsam die Theorie des Erhabenen für ein besseres Verständnis der Wirkungsweisen des Ekelhaften nutzbar.27 Analog zu den Kategorien des Tragischen und Entsetzlichen kann der menschliche Geist seine Stärke auch an der Kategorie des Ekelhaften erproben, sich über die drohende Reizüberwältigung erhaben zu fühlen: »Gelingt es dem Subjekt, sogar noch diesem Angst- und Ekelgemisch [gemeint ist das Beispiel eines verwesenden Leichnams] standzuhalten, kann es den Stolz seiner Autonomie um so mächtiger erfahren.«28

Eine weitere Möglichkeit der positiven Umwertung des Ekelhaften in der Kunst ist aber vor allen Dingen die moralische Lust, d.h. das »Gefühl der Erleichterung, der Genugtuung oder sogar des Triumphes, wenn die Guten siegen und die Bösen vernichtet werden«.29 In diesem Sinne lizenziert moralische Verwerflichkeit eine besonders schauderliche Zele­brierung des Ekelhaften, sofern es um dessen Zerschlagung geht. Brittnacher beobachtet in Bezug auf die phantastische Literatur, dass sich diese genau jenes Prinzip aneignet:

Die Phantastik rehabilitiert jene Mittel, die die Aufklärung gerade aus dem Repertoire zivilen Verhaltens verbannt hatte. Der Horror vereinfacht: Er macht das Böse so widerlich, daß das vermeintlich Gute mit gutem Gewissen so böse wie das Böse werden darf. Der Ekel berechtigt zu einem hemmungslosen, befreienden Gewalt­bacchanal der Opfer, in dem das Ekelhafte zerschlagen, zertreten, verbrannt oder in die Luft gesprengt wird.30

Ähnlich dem Prinzip der Katharsis kommt es so zu einer Triebabfuhr: Durch die Kunst können Aggressionen kanalisiert und sublimiert werden, welche sich umso wirkungsvoller entladen, je schauderlicher und ekelerregender die geschilderte Bannung des Bösen ist.31 Generell können Ekelmotive letztlich für eine Affektsteigerung instrumentalisiert werden. So wird die detaillierte Beschreibung des geschundenen Leichnams des Hippolyte in Racines Phèdre gleichsam den Schauder und Jammer um seinen tragischen Tod erhöhen. Analog verhält es sich mit dem Märtyrertod, der umso imposanter wirkt, je größer die Qualen im Diesseits sind.32

Letztlich liegt eine der großen Attraktionen des Ekelhaften aber auch in seiner Reizstärke, eben genau in der Tatsache, dass er mit einer solchen, nahezu unerträglichen Intensität auf das Subjekt einwirkt. Hier kommt wieder Du Bos’ Maxime zum Tragen, der zufolge es uns ein unermessliches Vergnügen bereitet, von der Kunst bewegt, gar betrübt zu werden. Die Seele genießt es, sich in Agitation zu sehen und dies sogar im Ekel, denn »[s]chlimmer als Schrecken oder Ekel ist […] der Horror vacui, die emotionale Leere«.33 Somit wohnen sogar dem Ekelhaften gewisse ästhetische Qualitäten inne, wobei es in seinen Wirkungs­weisen dem Erhabenen ähnlich ist. Trotzdem sind dem Ekelhaften als ästhetische Kategorie gewisse Grenzen gesetzt, wie Brittnacher bemerkt:

Die unhintergehbare Verpflichtung des narrativen Diskurses auf das Prinzip der Sukzession muß die phantastische Prosa um die ersehnte skandalöse Wirkung bringen. Die hyperbolische Darstellung des Abartigen und die ausufernde Be­schreibung seiner Vernichtung enden unweigerlich in einer repetitiven Suada des Unappetitlichen. Der Ekel kennt – das ist sein ästhetisches Manko – keine Innovation, sondern bestenfalls Verstärkung durch das wiederholte Herabsetzen von Hemm­schwellen. Doch sind diese schon im ersten Ekelaffekt gefallen.34

Gerade in der Literatur ist die Darstellung des Ekelhaften an die Sukzession der Narration gebunden. Ist eben einmal der Ekel auf den Plan gerufen worden, so kennt er keine (ästhetische) Steigerung mehr, sondern nur noch die Wiederholung, welche letztendlich den ursprünglich wirksamen Reiz abnutzen wird. Damit ist auch der Ekel als Anderes des Ästhetischen und Maximalaffekt nur vorübergehend ästhetisch wirksam.

1.2.5 Das Obszöne

Dem Ekel bzw. dem Ekelobjekt als Wirkungskategorie in gewisser Weise anverwandt ist auch das Obszöne. Zwar handelt es sich hierbei im Unterschied zum Ekel nicht um einen Primäraffekt, sondern vielmehr um ein Zuschreibungsphänomen, das ihm jedoch in seiner Wirkungsweise durch die Intensität der produzierten Emotionen (die bisweilen gar den Ekel involvieren können) nahekommt. Was dabei ganz konkret obszön eigentlich ist, erweist sich als schwer fassbar. So lauten Ludwig Marcuses einleitende Worte zum Vorverständnis des Obszönen in seiner Monographie Obszön. Geschichte einer Entrüstung wie folgt: »Das lehrt die lange Geschichte: obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst.«1 Dieses obszöne »wer oder was« betrifft dabei vornehm­lich den Sexual- oder Fäkalbereich und kennt laut Duden eine Vielzahl an Synonymen: anrüchig, anstößig, anzüglich, doppeldeutig, frivol, nicht salonfähig, pikant, pornographisch, schamlos, unanständig, zweideutig; dreckig; nicht stubenrein, schlüpfrig, schmutzig, zotig; ordinär; unflätig; vulgär; schweinisch, säuisch. Zwar lässt es sich mit einer Vielzahl von Begriffen be- und umschreiben, bleibt aber dennoch im Kern schwer greifbar – nicht zuletzt, da es sich um eine äußerst subjektive Erlebniskategorie handelt, die sich kaum empirisch fassen lässt. Es sei »eine Gleichung mit mindestens sechs Unbekannten«, so Marcuse, was jedoch besonders auch die Justiz in der Vergangenheit nicht davon abgehalten hat, sich an einer Definition zu versuchen.2 Zweifellos ist das Obszöne (in der Kunst) historisch wandelbar: Die Texte, derer sich Marcuse annimmt – Friedrich Schlegels Lucinde (1799), Flauberts Madame Bovary (1857) und Baudelaires Fleurs du mal (1857), D.H. Lawrences Lady Chatterley’s Lover (1960), Henry Millers Tropic of Cancer (1934) –, sind indessen längst in den Kreis kanonischer Höhenkammliteratur aufgenommen worden. Laut Stefan Morawski in einem Aufsatz mit dem Titel »Art and Obscenity« aus dem Jahre 1967 erklärt sich dies durch die zunächst falsche Rezeption der betreffenden Texte: Es handele sich um ein Missver­ständnis zwischen einem Werk, das im Grunde nicht den geringsten Angriff auf die sexuelle Imagination ausübe, und einer Leserschaft, die es nach nicht-ästhetischen Stan­dards gemäß ihren eigenen moralischen Tabus beurteilen würde. So erläutert Morawski, dass das obszöne Zeichen durchaus nicht mit einem Mangel an Literarizität einhergehe und führt aus, wie es künstlerisch transformiert, quasi neutralisiert werden könne, indem es im Medium der Sprache symbolhaften Charakter erhält, ästhetisiert, intel­lektualisiert und poetisiert wird.3 Die Werke Millers und Lawrences dürften nicht in Hinblick auf die explizite Darstellung sexueller Handlungen hin gelesen werden, sondern in Hinsicht auf den poetischen und philosophischen Gehalt, der sie von der gemeinen Porno­graphie absetze.4 Hier wird die Problematik des Obszönen in der Kunst ganz deutlich: Es bedarf dessen Rechtfertigung (poetischer, inhaltlich-struktureller, philoso­phischer Natur), um den Kunstcharakter nicht einzubüßen. Ist es dergestalt nicht plausibili­sierbar, driftet das Obszöne ab in die Pornographie, die wie folgt definiert wird:

gesteigerte Form der erotischen Lit. mit ästhetisch, kompositorisch, stilistisch und lit. wertlosen, ausführl. Beschreibungen geschlechtl. Vorgänge (Geschlechtsverkehr, Sexualpraktiken, Perversionen), ohne jeden qualifizierten Kunstanspruch mit der zentralen Wirkungsabsicht sexueller Stimulierung und daher stets unoriginell, monoton in Wiederholung und Steigerung (›Nummerndramaturgie‹) und das schickliche Maß des noch vertretbaren Geschmacks zum Obszönen hin übersteigend. […] Auch die Lit. kann sehr wohl in kompositorisch vertretbarem Maß und aus dem ehrl. Streben nach Erfassung des ganzen Menschen in Einzelszenen (›Stellen‹) zu e. erot. Realismus in der Darstellung des Sexuellen gelangen, aber sie wird die Darstellung der Sexualsphäre stets nur als Mittel zum Aufzeigen menschl. Befind­lichkeit, nicht aber als Selbstzweck oder in nur triebsteigernder Absicht benutzen.5

Das Pornographische ist also nicht-literarisch und verfolgt eine andere Wirkungsstrategie als das obszöne Kunstwerk; es will nichts anderes als die körperliche Erregung: »Sie verlangt nicht vergrößerte geistige Anstrengung, sie will entspannen. Sie lebt geradezu von der Verleugnung und Tabuisierung des Geistigen.«6 Doch diese Form der körperlichen Lust am Text ist eine nicht-ästhetische und von literaturwissenschaftlicher Warte aus zunächst problematische Lust.7 In Karl Rosenkranz’ 1853 erschienener Ästhetik des Häßlichen ist diese Form der Erregung gänzlich verpönt: »Alle Darstellung der Scham und der Ge­schlechts­verhältnisse in Bild oder Wort, welche nicht in wissenschaftlicher oder ethischer Beziehung, sondern der Lüsternheit halber gemacht wird, ist obszön und häß­lich« (meine Hervorhebung).8 Pikante Darstellungen des Sexuellen sind also nur dann lizenziert, wenn sie einem höheren Zweck dienen, so z.B. in der Satire der korri­gierenden Belehrung. Dass aber gerade diese kreatürliche Lust weitestgehend ausge­blendet wird, muss theoretisch widersinnig erscheinen, wenn es doch die Literatur ist, die die höchsten Empfindungen hervorzurufen vermag:

Generationen von Lesern Shakespeares und Schillers und Byrons und Dostojewskis danken den Meistern ungeheure Steigerungen der Emotionen. Mit Ausnahme der sexuellen? Indem die sogenannten Liberalen leugneten, daß die große Literatur die erotische Phantasie stachle, verdeckten sie höchst illiberal einen ihnen unbequemen Zustand der Dinge. Sie wollten unter keinen Umständen den Boden der Tradition verlassen, die vorschrieb: das Geschlechtliche ist nur zugelassen, wenn es im poetischen Äther verdunstet.9

Dass das Faktum des Obszönen im Kunstwerk nach wie vor problematisch ist und eine Unterscheidung von obszön und pornographisch vorgenommen wird, zeigt die bereits zitierte, relativ aktuelle Definition von Pornographie aus dem Jahre 2001.10

In der Postmoderne schließlich wächst das Interesse im Besonderen an de Sade und die pornographische Kunst (man verzeihe das vermeintliche Oxymoron) wurde damit quasi zu einer neuerlichen Erkenntnisquelle promoviert.11 Auch hier sei erneut auf Bataille verwie­sen, der einerseits mit seinen Sachschriften L’Érotisme (1957) und La Littérature et le mal (1957), andererseits aber auch mit seinem sogenannten obszönen Prosawerk (L’Histoire de l’œuil, 1967; Madame Edwarda, 1956; Ma Mère, 1966; Le Petit, 1963; Le Mort, 1967) den Bereich der Sexualität und des Obszönen (neben dem Bösen) als Raum der Überschreitung und Verausgabung herausarbeitete, der in scharfer Opposition zur Herrschaft der Vernunft in der modernen Gesellschaft steht. Susan Sontag stellt denn in ihrem Aufsatz »Die pornographische Phantasie« (1968) auch fest, dass die der Pornographie attestierte Ein­deu­tigkeit der Wirkungsabsicht indessen gar nicht so transparent ist, wie stets ange­nom­men:

Die körperlichen Empfindungen, die ungewollt im Leser erweckt werden, enthalten etwas, das die ganze Erfahrung seiner Menschlichkeit – und seiner Grenzen als Persönlichkeit und als Körper – betrifft. In Wahrheit ist die Eindeutigkeit der Intention in der Pornographie unecht. Nicht hingegen die Aggressivität, die in dieser Intention zum Ausdruck kommt. Was in der Pornographie Endzweck zu sein scheint, ist ebenso sehr ein Mittel von alarmierender und bedrückender Konkretheit. Der Endzweck freilich ist weniger konkret. Die Pornographie ist […] ein Zweig der Literatur, der auf Desorientierung, auf psychische Verwirrung, ausgerichtet ist.12

 

Sontag trifft hier eine Aussage über die Wirkungsweisen der Pornographie (und sicherlich auch des obszönen Zeichens), die sich mit den Schlüsselbegriffen »Aggres­sivität« und »Unausweichlichkeit« auf den Punkt bringen lässt. Implizit ist damit ausgedrückt, dass die Pornographie die Überwindung der ästhetischen Differenz sucht und naturge­gebene körper­liche Reaktionen aktivieren will, die nicht der Verstandeskontrolle unter­liegen. Und damit ist der basalste aller Bereiche des Menschen angesprochen: das Andere der Ratio, die Sexua­lität. Diese jedoch wird im gesamtgesellschaftlichen Zusam­men­hang nicht frei ausgelebt, sondern durch Regeln und Konventionen reguliert, die sich zu Tabus verdichten.13 Gesell­schaftliche Tabus wiederum bestimmen die Scham­grenzen, die im Falle des obszönen Zeichens überschritten werden.

Dieser ›Übergriff‹ auf den Rezipienten gestaltet sich in Hinblick auf die Intensität auf vergleichbare Weise wie bei den anderen Grenzphänomenen des Ekels oder des Grau­sam-Erhabenen. Doch unterscheidet sich das obszöne Zeichen in seiner Substanz von z.B. dem ekelauslösenden Gegenstand. Die kritische Grenze wird beim Ekelaffekt meist erst durch Akkumulation semantisch verwandter Bedeutungsträger erreicht, während das obszöne Zeichen bereits für sich allein als Signal stehen kann. Diese Beobachtung trifft Wolf-Dieter Stempel in seinem Aufsatz »Mittelalterliche Obszönität als literarästhetisches Problem« (1968). Ob seiner Transparenz sei der betreffende Passus in ganzer Länge zitiert:

Obszönität wird aber auch, und hierin unterscheidet sie sich merkmalhaft von den Vergleichsphänomenen [Grausamkeit, Ekel], in der Substanz fassbar. Erhält z.B. ein komplexer Akt der Grausamkeit ein einziges sprachliches Zeichen (foltern), so liegt diesem ein synthetisches Urteil zugrunde, das aus der Distanz gewonnen wird. Die verschiedenen Aspekte des Vorgangs werden verarbeitet auf einen Nenner gebracht. Maximalnenner, bei welchem die größtmögliche Distanz erreicht wird, ist grausam, eklig, obszön (er war grausam, der Anblick war ekelerregend usw.). Der erzielte Abstand bemißt sich natürlich nach dem Grad der Synthese, sowie nach der Anschaulichkeit des gewählten Ausdrucks (cf. crever les yeux im Unterschied zu blenden), doch geschehen diese Regulierungen innerhalb der jeweils gegebenen Distanzspanne. Die Vorstellung des Zuhörers oder Lesers wird dementsprechend nur schwach affiziert, die der Phantasie vermittelte Anregung zur gedanklichen Entfaltung des Vorgangs bleibt gering. Anders im Fall der Obszönität, wo das synthetische Zeichen eines entsprechenden Vorgangs Signal für eine intensivere gedankliche Detaillierung sein kann, die auf Grund eines über die Intimität verhängten Tabus je nachdem insgeheim erwünscht oder als Zumutung abgewiesen werden kann. Die kritische Anfälligkeit des synthetischen Zeichens für skabröse Inhalte erweist sich auch daran, daß es, von anderen Möglichkeiten der Kaschierung abgesehen, oft in eine Abstraktion zweiten Grades erhoben wird, indem der gewählte Ausdruck, z.B. für den Beischlaf, in einem größeren semantischen Bereich angesiedelt wird (cf. afrz. faire l’uevre ›das Werk tun‹ u.ä.) und das Gemeinte sich nur indirekt auf dem Weg über den Kontext bestimmen läßt. Diese Erscheinung, bei der der Abstand zum signifié nicht sekundär verändert, sondern überhaupt überlagert wird von einem semantischen Gefälle, ist z.B. bei der Darstellung von Grausamkeit oder Häßlichkeit kaum wahrzunehmen oder erreicht dort jedenfalls nicht die gleiche Bedeutung; sie gilt in besonderem Maße auch für die Bezeichnung von einzelnen Dingen der Intimsphäre (Körperteile, körperliche Funktionen usw.), wofür die anderen Grenzbereiche insgesamt nur wenig Analoges bieten. Daraus folgt zugleich ein wichtiger Unterschied in der semantischen Strukturierung: während z.B. bei Häßlichkeit, Ekelhaftigkeit die kritische Grenze erst quantitativ erreicht wird, ohne daß die einzelnen Bestandteile der Beschreibung (wie z.B. krumme Nase) selbst schon auf die Grenze verweisen, besitzt das obszöne Detail (z.B. con) unter gegebenen Umständen bereits einen kritischen Eigenwert; die Summierung kann also hier sozusagen im Sinne einer offenen Reihe erfolgen, dort ist sie geschlossen, bis der kritische Grad vorliegt.14

Das obszöne Detail kann demnach einen höheren Grad der Involvierung erfordern, je nachdem wie direkt bzw. indirekt es beschaffen ist und in welchem Kontext es auftritt. Während der ekelerregende Gegenstand quasi stets nur er selbst ist und auf sich selbst verweist, kann Obszönität gleichermaßen im Uneigentlichen verborgen sein, quasi im Hinterhalt lauern. Es kann aber darüber hinaus auch in seiner schieren Präsenz wirken, ist irreduzibel, sofern es sich in seiner Isoliertheit dem Rezipienten aufdrängt.

Obszönität ist, wie eingangs beschrieben, ein Zuschreibungsphänomen. Zwar können inhaltlich Bereiche benannt werden, die das Obszöne betrifft (Sexualität, Fäkalbereich etc.), doch muss ein obszönes Zeichen eben nicht notwendigerweise einen Gegenstand be­zeichnen, der diesen Domänen angehört. So können Körperfunktionen oder Geschlechts­organe auf völlig unanstößige Weise besprochen werden, z.B. in einer medizinischen Abhandlung. Im Umkehrschluss kann dann ein per se kaum anzüglicher Gegenstand in der Darstellung zum Stein des Anstoßes werden.15 Zutreffender wäre es also gegebenenfalls, von einem Modus der obszönen Darstellung zu sprechen, der in der konkreten Umsetzung auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann. Und dabei ist es der Darstellung des Ekelhaften oder Grau­samen in gewisser Weise diametral entgegen gestellt: Denn während beispielsweise die zerlegende, detaillierte Schilderung einer brutalen Schlacht durch die Aneinanderreihung blutiger Einzelheiten den kritischen Punkt des Nicht-Mehr-Erträg­lichen erreichen kann, ist es möglich, dass im Falle des obszönen Zeichens die kaum variierende Wiederholung des Anrüchigen zur Entkräftung der Obszönität beiträgt.16

In Bezug auf die »Kleinstruktur der Obszönität« macht Stempel ferner – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aufschlussreiche Beobachtungen, die die Wirkungsweisen bzw. die Beschaffenheit des obszönen Zeichens beleuchten.17 Erstens kann es isoliert und damit durch den Zusammenhang nicht motiviert oder aber funktionalisiert als strukturgebendes Element auftreten (z.B. Decameron I, 4, wo das Erotische Grundlage für die pointierte Auflösung der Novelle ist). Überdies stellt sich zweitens die Frage nach der Aktualisierung des Zeichens, d.h.: Auf welcher Diskursebene tritt es auf? Ist es beispielsweise Teil der Rede, dann wird es als Gegenstand der Reflexion distanzierend entschärft; als Teil des récit tritt es dem Rezipienten jedoch ungleich unmittelbarer gegenüber. Auf der histoire-Ebene wiederum kann es distanzschaffend wirken, wenn sich die Geschichte in zeitlicher Distanz zu der Lebenswelt des Lesers abspielt oder aber im umgekehrten Fall deutlich nähestiftend, wenn sie in der Gegenwart des Rezi­pienten angesetzt ist. Insgesamt sind sämtliche Kunstgriffe, die den Eindruck von Präsenz und Unmittelbarkeit erwecken sollen (z.B. historisches Präsens als Tempus der unmittelbaren Vergegenwärtigung) dazu geeignet, das obszöne Zeichen in die Nähe des Rezipienten zu rücken. Und schließlich wird, wie bereits erwähnt, relevant, wie sich das Verhältnis von Beschreibung bzw. Zerlegung und zeitraffendem récit gestaltet. Drittens kann das obszöne Zeichen in der Sonderform der Metapher auftreten, welche das eigentlich Gemeinte durch Zweideutigkeit verhüllt. Auch Rosenkranz empfiehlt die Metapher als adäquate Form der Verschleierung, die das eigentlich Obszöne dem Betrachter entrückt.18 Doch kann sie paradoxerweise gerade dadurch effektsteigernd wirken, z.B. durch die plötzliche Anreicherung eines vermeintlich harmlosen Sinnes durch ein weiteres, pikantes Signifikat.19 Somit ist das obszöne Zeichen nicht einfach auf krudes, eigentliches Sprechen zu reduzieren, sondern im Gegenteil ließe sich mit Preisendanz die These aufstellen: »je größer der literarische Aufwand ist, desto mehr kann das Sexuelle im Leser zum factum brutum werden«.20