Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Aus der Reihe: edition lendemains #42
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1.1.2 Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited

Auch Sabine Friedrich1 unterzieht die Theorie Bohrers einer eingehenden Revision. In Ihrer Untersuchung zur Imagination des Bösen unternimmt sie den Versuch, die Theorie Bohrers mit der These der »dépense improductive« – der unproduktiven Verausgabung – George Batailles zu kombinieren bzw. auf Basis beider Theorien narrative »Model­lierungen der Transgression« bei Laclos, Sade und Flaubert aufzudecken. Bataille, der sich u.a. in seinem Aufsatz La Littérature et le mal gleichfalls mit der Schule des Bösen auseinandersetzt, setzt das Phänomen des Bösen in Bezug zur Transgression, welche er auch in seinen übrigen Schriften zum Gegenstand der Untersuchung erhebt.2 Das Konzept der Transgression ist mit einem kulturanthropologischen Ansatz zu beschreiben. Archa­ische Gesellschaften zeichnen sich durch die Ausbildung zweier Bereiche aus: einen produktiven Bereich der Arbeit, welcher – um sein Fortbestehen zu garantieren – mit Verboten belegt ist, sowie einen Bereich der nutzlosen Verausgabung, der rituellen »sinnlosen Energieverschwendung«, welcher der Trieb­eindämmung dient.3 In diesem Zusammenhang sind rituelle Opferungen beispielsweise als solche Verausgabungshandlungen zu verstehen, da sie die Lust an der Gewalt, die normalerweise aus dem rationalen Bereich der Produktivität ausgegrenzt wird, in momentaner Aufhe­bung4 des Tabus kanalisieren und in der Überschreitung ekstatisch als das Heilige erfahr­bar machen.5

Im Christentum ist der Begriff des Heiligen jedoch nicht länger an den Moment der Ekstase, der Lust und der Gewalt gekoppelt. Der Bereich der Sexualität, der für Bataille jedoch unauflösbar mit der Erfahrung des Heiligen verbunden ist, wird vollständig ausgegrenzt, die Transgression wird nur noch als »Sünde« begriffen. Besonders proble­matisch wird die Erfahrung der Transgression dann in der Moderne mit dem Tod Gottes, denn die Überschreitung setzt schließlich das Anerkennen einer metaphysischen Kraft voraus; die Sünde kann nicht mehr Sünde sein, wenn sie sich nicht auf etwas Göttliches bezieht: »Die Transgression öffnet sich in die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat«.6 Das Transgressive manifestiert sich nunmehr im Heterogenen:7 Damit meint Bataille vornehmlich die »›niedere[n]‹ Phänomene, die von der homogenen – bürgerlichen – Welt als ekelerregend und anormal ausgegrenzt werden«.8 Damit lässt sich nun der Bogen zum Bösen schlagen, welches per definitionem auch die abgründigen, tabuisierten, als krankhaft und moralisch verwerflich stigmatisierten Gegenstände bezeichnet. Für Bataille markiert das Böse jedoch – neben der Erotik – einen Bereich der Überschreitung. Es agiert, wie er in La Littérature et le mal anhand der Werke Sades veranschaulicht, als »Entfesselung der Leidenschaften« (»déchaînement des passions«)9 und somit als das Andere der Vernunft, als Kraft, die vorherrschende Diskurse zerlegen und revoltieren kann, indem es präexistente rationalistische Diskurse (das Homogene) aufgreift und gleichzeitig zersetzt. Darin besteht laut Friedrich auch der Ertrag der Theorie der Transgression für eine Konzeption des Bösen, wie es sich in der Ecole du mal manifestiert:

Durch die transgressive Dynamik werden die zugrundeliegenden Begriffe entsub­stantialisiert und ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt. Das impliziert jedoch zugleich, daß sich das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten kann, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der Dekonstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses.10

Friedrich zufolge bietet Bataille damit jedoch nur ein Sprungbrett, um auch die ästhetische Dimension des Bösen beschreibbar zu machen, an der es Bohrer gelegen war (ohne dabei jedoch – wie bereits hervorgehoben wurde – konkrete Ansätze zu liefern, wie sich dieses ästhetische Böse genau formiert). Der Berührungspunkt beider Theorien liegt im Moment der Ekstase, die bei Bohrer jedoch als Intensität bzw. imaginative Entgrenzung gedacht wird. Während Bataille also die Ästhetik des Bösen größtenteils ausklammert – dabei jedoch einen inhaltlichen Ansatz zur Erfassung des Phänomens des Bösen bietet –, »lehnt Bohrer sozialhistorische oder funktionshistorische Erklärungen literarischer Konstrukte grundsätz­lich ab, weil diese dadurch nicht als autonome ästhetische Akte verstanden würden«.11

Friedrich sucht nun, einen »Mittelweg« einzuschlagen, indem sie ihre Textanalysen dreischrittig ausrichtet: Zunächst geht es ihr um eine inhaltliche Analyse des Bösen auf der histoire-Ebene, d.h. sie sucht, das im Text repräsentierte Konzept des Bösen zu klassi­fizieren, z.B. als Profanation oder Sünde, und seine strukturelle Bedeutung für den Gesamthand­lungsverlauf herauszuarbeiten. Im Zuge der Betrachtung der histoire-Ebene soll zudem Bohrers Theorie insofern fruchtbar gemacht werden, als die Semantiken des Bösen im Text identifiziert werden. In einem zweiten Schritt gelte es nun, die Diskurs­ebene einer Untersuchung zu unterziehen, d.h. das Augenmerk liege nun auf der Ebene der Vertextungs­strategien. Die »Figurationen des Bösen«, die sich inhaltlich beschreiben lassen, unterschei­det sie hier deutlich von einer »transgressiven Bewegung«, »die sich nun nicht mehr auf ein diskursiv bestimmbares Böses als Objekt der Darstellung bezieht, sondern die durch die spezifischen ästhetischen Inszenierungsverfahren die Kehrseite, die Prämissen bzw. die blinden Stellen des Diskurses, welcher der Figuration des Bösen zugrunde liegt, aufdeckt«.12 Das, was also zunächst mithilfe tradierter Diskurse beschreib­bar ist, wird in seiner defi­gurativen Potenz aufgedeckt, wodurch sich eine neue Form des Bösen konstituiert, ein ästhetisches Böses, welches wie das Heterogene Batailles Frag­mente bestehender Diskurse rekonfiguriert.

Mit ihrem Beitrag verleiht Friedrich Bohrers Theorie des Bösen als ästhetische Kategorie ein deutlich festeres Fundament, indem sie sie mit Bataille und der Diskurs­analyse in Verbindung bringt. Demgemäß ist das Böse bei Friedrich vor allen Dingen ein aggressives Konstrukt, das subversiv bestehende Diskurse unterläuft und damit vielleicht dem Konzept der Literatur als Gegendiskurs des frühen Foucault nahekommt. Die Methodik, die sie zur Analyse eines ästhetischen Bösen entwickelt, revidiert überdies Bohrers Theorie insofern, als das böse Sujet hier miteinbezogen wird – was eine Notwen­digkeit zu sein scheint. Sie verweist auf die Ambiguität des Begriffes der »Ästhetik des Bösen«, der per se schon zweierlei impliziert: Geht es um die Ästhetisierung des Bösen oder ist die Ästhetik selbst böse? So argumentiert sie bezüglich der Schule des Bösen: »Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion; andererseits aber ist für den Kanon der Ecole du mal doch zunächst ein inhaltliches Kriterium entscheidend. Laclos, Sade und Flaubert werden dieser Tradition zugerechnet, weil sie etwas Böses darstellen.«13

1.1.3 Die Ästhetik des Bösen nach Peter-André Alt: Wiederholung, Transgression und Paradoxie

Die Unmöglichkeit, die Ästhetik des Bösen als autonome, von moralisch-ethischen Referenzen freigestellte Kategorie zu denken, betont auch Peter-André Alt. Hier verortet Alt auch die Problematik des Bohrer’schen Ansatzes: Wie kann ein (literarisches) Phänomen – das Böse – überhaupt als solches wahrgenommen werden, wenn es, um in seiner Evidenz zum Tragen zu kommen, der Überschreitung eines moralisch-ethischen Bezugs bedarf?

Anders als oft nahegelegt, stellt die Ästhetik des Bösen keine Autonomieästhetik dar. Die Akte der Entgrenzung, die sie produziert, sind nur dort wahrnehmbar, wo die Grenze, die sie überschreiten, bewußt gehalten wird. Auch der böse Text sieht sich, so scheint es, durch das moralische System beherrscht, das er negiert.1

Alt verweist – wie die Mehrheit von Bohrers Kritikern – darauf, dass ein solcher Ansatz, der die Ästhetik und den Autonomieanspruch absolut setze, die Bedeutung des Rezeptionsaktes, der auch Reflexionen moralischer Natur involviert, verkenne; es gelte, »die Autonomie, die das Böse im Prozeß der literarischen Imagination und ihrer Model­lierung durch die Fiktion gewinnt, von der moralischen Prägung, die in der ästhe­tischen Erfahrung mitwirkt«2, zu unterscheiden. Demgemäß sucht Alt, dies in seiner Untersu­chung der Ästhetik des Bösen insofern zu berücksichtigen, als er voraussetzt, dass in der ästhetischen Wirkung zuallererst ein »herausfordernder, regelwidriger Grundzug durch die Verletzung moralischer Normen«3 zu Tage tritt, d.h. die ästhetische Wirkung des Bösen beruht auf der Alteritäts­erfahrung des vermittelten Gegenstands bzw. seiner Fremd­heit sowohl als das kulturell vermittelte »Andere«4 als auch das a-historische, »objektiv« fremdartige Böse, das sich im Text ästhetisch als »Primitivismus, Gewalt, Barbarei, Terrorismus«5 modelliert. Die besondere Leistung der Literatur seit dem 18. Jahrhundert liege aber nun besonders im Spiel von Alterität und Identität bzw. in der Familiarisierung eines primär als fremdartig empfundenen Bösen.6 Und eben dies sei die Grundlage der eigentümlichen Wirkung des Bösen, die zwischen Andersartigkeit und Intimität, zwischen Abstoßung und Anziehung oszilliere. Strukturelle Formprinzipien, in denen sich die Alterität des Bösen textuell model­lieren lasse, seien Alt zufolge wiederum die »Muster[n] der Paradoxie, der Zweideutigkeit und Wiederholung, des Ex­zesses und der Grenzver­letzung«7.

Dass es sich dabei um grundlegende Strukturmuster handelt, die das Böse im Text formal konstituieren, sucht er mittels einer Analyse paradigmatischer literarischer Texte zu veran­schau­lichen. So sei der Roman Justine, ou les Malheurs de la vertu (1791) des Marquis de Sade ein Beispiel dafür, wie sich das Strukturprinzip der Wiederholung als grundlegend für die Imagination des Bösen erweise. Das Motiv der verfolgten Unschuld dient in diesem Werk der Pervertierung sämtlicher gültiger Moralcodes: Die mit vierzehn Jahren verwaiste Justine wird ein ums andere Mal zum Opfer von Misshandlung, Folter und Demütigung, ohne dass sie sich dabei durch das Festhalten an der Tugend jemals aus dem brutalen Kreislauf der ihr widerfahrenden Grausamkeiten befreien könnte. In der Welt, die hier gezeigt wird, siegt allein das Laster: Während ihre Peiniger sowie ihre tugendlose Schwester Juliette (deren Geschichte in Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice, 1796 erzählt wird) trotz (oder gerade wegen) ihrer ruchlosen Grausamkeiten sozial aufsteigen und prosperieren, wird Justine am Ende vom Blitz erschlagen und die Tugend damit endgültig als vergeblich abgestraft.8 Die Unausweichlichkeit des Bösen, der natur­hafte Trieb zum Verbrechen, die die Basis der Sade’schen Philosophie bilden, fänden nun ihre Entsprechung in der narrativen Organisation des Werkes:

 

Dem Spiel der ewigen Reproduktion [des Bösen] gleicht das ästhetische Prinzip der Erzählung, das die Protagonistin in identischen Situationen der moralischen Gefährdung zeigt. Monoton sind nicht nur die Erfahrungen, die Sades Heldin durchläuft; monoton ist auch die Sprache, die Orgien, Vergewaltigungen, Folte­rungen und Mordtaten mit durchgehender Nüchternheit und Kälte schildert.9

Alt betont hier, es sei eben nicht die Geste der Überschreitung,10 die bei Sade die Erzählung bestimme, sondern »die serielle Logik automatisierter Wiederholung«.11 Eine Beobachtung, die auch Sabine Friedrich macht, obgleich sie mit dem Transgressionsmodell Batailles arbeitet.12 Damit wird die Wiederholungsstruktur als essentielles Formkriterium des Bösen im literarischen Text etabliert, wie Alt auch an weiteren Werken (Blake, Bar­lach, Sartre, Mann, Mirbeau, Süßkind, Huysmans, Sacher-Masoch, Wilde) nachzuweisen sucht.13 Erst durch die narrative Reproduktion des Ereignisses, die Unendlichkeit und Unausweichlich­keit sugge­rierende Repetitio wird der Gegenstand wahrhaft »böse«. Auf die Bedeutsamkeit dieser Feststellung wird in den folgenden Kapiteln noch detaillierter einzugehen sein.

Neben die Wiederholungsstruktur treten darüber hinaus die Formen der Paradoxie und der Transgression als konstitutive Grundfiguren des Bösen. Erstere ließe sich besonders an Goethes Mephisto veranschaulichen, der als Exemplum des Heterogenen (nicht im Bataille’schen Sinne), des unsteten, permanent im Wandel begriffenen Nicht-Greifbaren das Böse als Paradoxie erfahrbar macht. Mephisto könne sich nur durch widersprüchliche Begrifflichkeiten und Bestimmungen definieren, ohne dabei jemals eine konkrete Gestalt zu gewinnen (und dies sowohl auf begrifflich-konzeptueller Ebene als Vertreter des Prin­zips des »malum« sowie auf rein textueller Ebene, insofern als Mephisto wortwörtlich die Gestalt wechselt).14 Damit wird das durch Mephisto inkarnierte Prinzip des Bösen weniger in dualistischer Abhängigkeit zum Guten, oder auch ex negativo gedacht, sondern vielmehr als irrationale Kraft, die die Regeln der Logik und traditionelle diskursive Bestimmungen unterläuft.15 Anders als die ›konventionelle‹ Allegorie des Teufels (und damit der Sünde) gewinne Goethes Mephisto eine neue subversive Potentialität, die sich in der Figur der Paradoxie modelliert: »Die ästhetische Erfahrung des Bösen vermittelt sich über die Dekonstruktion jeglicher Kohärenz im Entwurf einer Multipersonalität, welche die paradoxe Beschaffenheit des Höllenboten als Spielart seiner auf neue Art bedrohlichen Ubiquität ausweist«.16

Das dritte Grundmodell, das Alt vorschlägt, ist schließlich die Transgression, die Überschreitungsgeste. Wie auch Bohrer sich schon auf Edgar Allan Poe berief, verweist er im Zusammenhang damit auf dessen Erzählung The Black Cat (1843), welche die Trans­gres­sionsbewegung exemplarisch veranschauliche. In der Retrospektive erläutert ein verur­teilter Krimineller kurz vor seiner Hinrichtung seinen Werdegang vom vormals verant­wortungsbewussten Ehemann und liebevollen Tierliebhaber zum kaltblütigen, grau­samen Mörder. Die Ich-Perspektive gestattet somit einen beun­ruhigenden Blick in die Tiefen der Verbrecherpsyche bzw. in die Genese des Verbrecherbewusstseins, welche sich in einer kontinu­ierlichen Überschreitungsbewegung vollzieht und so mit dem novel­listischen Grund­muster der dramatischen Zuspitzung korrespondiert.17 Der anfangs noch sittsame Protagonist verfällt dem Alkohol und verliert im Zustand der Trunkenheit zunehmend die Beherrschung – bis er eines Tages seinen Lieblingskater Pluto zu quälen beginnt. Es treibt ihn dabei eine dem Erzähler zufolge primitive, menschliche Kraft (»one of the primitive impulses of the human heart«) an, der Geist der Perversität (»spirit of perverseness«).18 Bewegt von diesem Geist, Böses zu tun, bringt er den Kater schließlich kaltblütig (»in cold blood«)19 um, woraufhin kurze Zeit später ein Kater auftaucht, der bis auf einen kleinen hellen Fleck am Hals dem toten Kater bis zum Verwechseln ähnlich sieht. Die anfängliche Zuneigung, die er dem Tier entgegenbringt, wandelt sich jedoch schnell in Hass und in die Unmöglichkeit, die mahnende Präsenz des Katers ertragen zu können. Durch die perma­nente Anwesenheit des Tieres wortwörtlich in den Wahnsinn (»madness«) getrieben, er­greift der Protagonist schließlich eine Axt, um dem Kater den Garaus zu machen, doch wirft sich seine Frau schützend dazwischen und wird somit zum Opfer des rasenden Erzählers, der ihr besessen von einer »rage more than demoniacal« den tödlichen Axthieb verabreicht.20 Sofortig setzt er alles daran, die Leiche seiner Frau zu verstecken und beglückwünscht sich selbst ob seiner exzellenten Idee, sie im Keller des eigenen Hauses einzumauern. Zwar leicht irritiert angesichts des Verschwindens des Katers, der seit dem Mord an seiner Frau nicht mehr gesehen ward, doch selbstsicher aufgrund seiner kriminellen Gewitztheit, tritt der Erzähler auch dann noch selbstbewusst auf, als die Polizei unangekündigt sein Haus zu durchsuchen beginnt. Zunächst scheint das ›Grab‹ im Gemäuer übersehen zu werden, doch werden die Anwesenden bald eines klagenden Lautes aus der Kellerwand gewahr. Man macht sich unverzüglich daran, die Wand aufzubrechen und schließlich wird so die Leiche mitsamt dem Kater, den der Erzähler versehentlich mit eingemauert hatte, gefunden.

Wie aus der Nacherzählung der Kurzgeschichte ersichtlich wird, vollzieht sich die Bewegung des Bösen in einer graduellen Transgressionsbewegung: Folter des einstmals geliebten Katers Pluto, Mord an eben jenem und schließlich Mord an der Ehefrau. Und diese Transgression sei notwendigerweise an einen moralischen Normhorizont gebunden,21 da jede Überschreitung einer Grenze bedarf, um überhaupt als solche wahrgenommen zu werden. Diese Limitierungen, meint Alt zudem, scheinen in The Black Cat kontinuierlich neu gesetzt, nur um schließlich wieder überschritten zu werden. Deutlich werde hier auch, worin der Unterschied zu der Wiederholungsfigur besteht, die das Œuvre Sades charakteri­siert: Das Böse bleibt bei Poe auf ein Gutes bezogen. »Anders als bei Sade bleibt das Böse in Poes Geschichte an eine Grenzverletzung und Grenz­überschreitung geknüpft. Wo Sades Helden die Geltung der Moral programmatisch negieren und moralische Selbst­ver­pflichtung im Zeichen zynischer Vernunft als die sexuell unbefriedigendste Form des menschlichen Egoismus deuten, bleibt die gute Gegenwelt des Bösen bei Poe in Kraft.«22 Die eigentüm­liche Korrespondenz von moralischer Trans­gression und formal-struktureller Überschrei­tungsbewegung der Novelle macht das Böse ästhetisch erfahrbar bzw. nachvoll­ziehbar – es lässt sich in diesem Sinne vom Bösen als ästhetischem Phänomen sprechen.

1.1.4 Zwischenfazit

Das Konzept Bohrers bringt den Vorteil, das Phänomen des Bösen nicht allein als abstrakte, ethische Kategorie zu begreifen, sondern vielmehr als spezifisch literarisches Produkt. Gleichzeitig ist eben jener Moment der Absolutheit des imaginativen Bösen einer, der sich vor allem durch seine Gegenwärtigkeit, durch die Präsenz der Stimmung auszeichnet und sich so theoretisch der Theorie Georges Batailles annähert, der das Böse in Relation zur Transgression und zur unmittelbar-instantanen, ekstatischen Erfahrung setzt. Dass dieser Ansatz jedoch auch durchaus problematisch ist, haben die zahlreichen Kritiker Bohrers hinlänglich erläutert. Friedrich versucht demnach, das Konzept Bohrers mit dem Batailles zu kombinieren, indem sie zunächst Semantiken des Bösen im Text beschreibt und analysiert, um schließlich spezifische Vertextungsstrategien aufzudecken, die diese inhaltlichen, textu­ellen Bestim­mungen des Bösen defigurieren. Das damit in seiner Ganz­heit­lichkeit beschrie­bene litera­rische Phänomen des »ästhetischen Bösen« versteht sie als subversives, spezifisch literarisches Produkt, das bestehende Diskurse unterläuft und dekonstruiert. Auf ähnliche Weise versucht auch Alt, das Böse als spezifisch literarisches Phänomen zu beschreiben, welches im Wesentlichen auf drei Grundmodelle zurück­zuführen ist: Das literarische Böse manifestiert sich ihm zufolge in den Strukturmustern der Wiederholung, der Paradoxie und der Transgression. Das Böse in seiner Evidenz ist das Resultat einer Imaginationsleistung, bei der ein moralisch-ethisch vorgeschriebener Bedeu­tungs­kern erst durch kreative Form­gebung zur Entfaltung kommt. Wie aus den Analysen sowohl Alts als auch Friedrichs deutlich wird, kann jedoch mitnichten von einem rein ästhetischen Bösen im Sinne einer autonomen Kategorie gesprochen werden. Vielmehr bezeichnet »ästhetisch« in diesem Zusammenhang den Status des relevanten Repräsen­tationsgegenstands (Ästhetik des Bösen als Ästhetisierung des Bösen) sowie die Tatsache, dass es sich um ein ›Kunstprodukt‹ handelt, das nicht allein von außer­literarischen mora­lisch-ethischen Wertvorstellungen abhängig ist und ausschließlich daraus seine Wirkmacht bezieht, sondern durch kreativ-imaginative Formgebung in der Literatur erst seinen besonderen Reiz entwickelt. Dieses Konzept des »ästhetischen Bösen« vor dem Hinter­grund literarisch-künstlerischer Provoka­tions- und Schockstrategien erweist sich als besonders relevant für jene Literatur, die noch ihren Autonomiestatus zu beweisen hat. Besonders für Flaubert und Mirbeau, die noch gegen den an die Kunst herangetragenen Anspruch der moralischen Unterweisung anschrieben, zeigt sich eine Untersuchung spezifischer Strukturen, die den potentiell brisanten Darstellungsgegenstand in seiner ästhetischen Wirkmacht freisetzen, als besonders fruchtbar.