Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Aus der Reihe: edition lendemains #42
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Die Analyse von Schockstrategien der Literatur (und des Films) soll nicht nur auf diachroner Ebene, sondern auch auf synchroner Ebene vorgenommen werden. Zwei Jahre bevor Houellebecqs Roman Les Particules élémentaires erschien, wurde beim Verlag Einaudi eine Anthologie von Erzählungen, nämlich der Band Gioventù cannibale. La prima antologia dell’orrore estremo, veröffentlicht. Diese war das erste literarische Zeugnis einer neuen Autorenge­ne­ration, die sich von der nach wie vor durch Italo Calvino beherrschten Höhenkamm­literatur bewusst verabschiedete und vielmehr eine neue blutrünstige Ästhetik entwickelte: die sogenannte letteratura pulp (in Anlehnung an den 1994 erschienenen Kultfilm Pulp Fiction von Quentin Tarantino). Repräsentativ für diese Literatur sind einerseits exzessive Gewaltdarstellungen, andererseits ein spielerischer Umgang mit diversen Genres der Popkultur sowie eine starke Medienbezogenheit. Aldo Nove und Niccolò Ammaniti waren unter anderem als Autoren an der Anthologie Gioventù cannibale beteiligt und publizierten im gleichen Jahr jeweils eigene Erzählsammlungen: Noves Woobinda o altre storie senza lieto fine und Ammanitis Fango. Sowohl Woobin­da als auch Fango erweisen sich als paradigmatisch für die Poetik der »giovani cannibali«. Anhand einer detail­lierten Analyse von Noves Eingangserzählung Il bagnoschiuma und Ammanitis Kurzroman L’ultimo capodanno dell’umanità soll jedoch gezeigt werden, dass die effekthascherische Schockästhetik der »cannibali« durchaus einem gesellschafts- und medien­kritischen Impetus folgt. Die Werke sowohl Pasolinis als auch die der letteratura pulp markieren dabei einen Moment in der Zeitgeschichte, in dem sich die Kunst in Protest gegen die Konsum­gesellschaft wendet, sich aber gleichzeitig als Teil eben dieser erweist.

Schließlich sollen also die bereits erwähnten Romane Houellebecqs untersucht werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, welcher Schockstrategien sich Houellebecq auf individu­elle Weise bedient. Gegenstand der Analyse soll dabei zunächst sein Roman Les Particules élémentaires sein, der zu seinen wohl wirkmächtigsten Werken zählt. Eine Untersuchung dieses Romans halte ich in diesem Zusammenhang für besonders lohnend, da Houellebecq hier thesenartig eine radikal negative Anthropologie ausformuliert, welche gemeinhin als die wohl skandal­trächtigste Qualität seiner Romane verhandelt wird. In der Tat wird eine Analyse des Textes jedoch erweisen, dass die beson­dere Wirkmacht des Romans nicht allein auf die Brisanz des énoncé zurückzuführen ist, sondern dass sie gleichwohl Resultat spezifischer narrativer (Schock-)Strategien ist. Stetige Stil-, Perspek­tiv- und Diskurswechsel verun­ein­deutigen den Darstel­lungs­gegenstand dergestalt, dass der Leser zu einer intensiven, enga­gierten und vor allen Dingen auch reflektierten Lektüre angeregt wird. Auf den ersten Blick wohl weniger enragiert, doch auf ähnliche Weise pessimistisch, präsentiert sich Houellebecqs Dystopie La Possibilité d’une île. Auch diese mutet zunächst wie eine deutlich formulierte Absage an die Menschheit an, doch erweist sich bei näherer Betrach­tung auch diese als ambivalent: So zielt der Roman darauf ab, traditionelle Bezugs­horizonte zu zersetzen, moralisch zu destabilisieren und dergestalt zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Dass gerade diese Unbestimmtheit besonders provokativ wirkt, soll ferner ein Vergleich mit Cormac McCarthys dysto­pischem Roman The Road verdeutlichen.

Der 2010 erschienene Künstlerroman La Carte et le Territoire wiederum ist in Hinblick auf seine romanesken Vorgänger wohl weniger aggressiv und vermag aufgrund seiner vorder­gründigen Reflexion des Status des Künstlers und der Kunst zunächst minder ergiebig in Hinblick auf eine Untersuchung von Schockstrategien scheinen. Doch versäumt Houellebecq auch hier nicht, der Welt den gewohnt pessimistischen Spiegel vorzuhalten – und dies auf besonders zynisch-parodistische Art und Weise. Die Besonderheit des Romans ist wohl auch, dass Houellebecq sich selbst als Figur auftreten lässt, um sich schließlich auf grausame Art und Weise töten zu lassen. Der Mord an der Figur »Michel Houellebecqs« markiert dann auch den Wendepunkt, an dem die Geschichte in eine(n) Krimi(-Parodie) umschlägt und im Zuge dessen die Frage nach dem Ursprung des Bösen aufgeworfen wird. Mehr noch als in Les Particules élémentaires scheint hier eine Schreib­weise des Bösen, wie sie bei Flaubert und Mirbeau ausgemacht werden kann, anzi­tiert zu werden; sie durchläuft dabei aber einen »postmoder­nen« Umgestal­tungs­prozess, der sie zersetzt, dekonstruiert, neukonfiguriert und dadurch gewissermaßen ihre Mecha­nismen offenlegt. Inwiefern die Romane Houellebecqs vor dem Hintergrund der Literatur der Moderne und Postmoderne einer Autonomieästhetik verpflichtet sind oder vielmehr am ethical turn partizipieren, soll im Rahmen dieser Untersuchung diskutiert werden.

Zweifelsohne ließe sich eine Vielzahl weiterer Texte einer solchen Untersuchung unterziehen, darunter Werke E.A. Poes, E.T.A. Hoffmanns, Huysmans, Oscar Wildes, Célines, André Bretons, Georges Batailles’, Bret Easton Ellis’, Will Selfs – um nur einige zu nennen. Notwendigerweise musste sich die hier vorgenommene Auswahl auf exempla­rische Momente der (jüngeren) Literaturgeschichte beschränken. Doch die im Theorieteil ent­wickel­te Methode der Textanalyse bietet ein Modell nicht nur zur Untersu­chung der hier betrachteten Werke, sondern lässt sich gleichermaßen auf andere Texte anwenden.

Forschungsstand

Tatsächlich ist »Schockästhetik« in Zusammenhang mit Kunst ein geläufiger Begriff, besonders im Kontext von moderner Literatur (so z.B. Baudelaire)35 oder von Avantgarde-Poetiken (wie die des Surrealismus).36 Auch im Kontext der Gegenwarts­literatur findet der Begriff Erwähnung, so z.B. in Sarina Schnatwinkels Monographie zu den Romanen von Bret Easton Ellis (Das Nichts und der Schmerz. Erzählen bei Bret Easton Ellis, 2014).37 Doch eine so bezeichnete Systematik ästhetischer Schockerfahrung sowie eine umfassende Studie von literarischen Strategien, die eben solche auslösen, liegt in diesem Sinne noch nicht vor. Indem die vorliegende Arbeit also methodisch auf bestehende Diskurse über das (ästhetische) Böse, Wirkungsästhetik, literarische Ethik und Skandaltheorie zurückgreift, sucht sie, sich dem Begriff der Schockästhetik und einer Systematik von literarischen Strategien der Provokation sowohl theoretisch als auch praktisch zu nähern.

Zu Flauberts Roman Salammbô liegt bereits eine Reihe an Untersuchungen vor,38 allen voran natürlich die für den hier thematisierten Aspekt der Schockästhetik und des Phänomens des Bösen relevanten Studien von Karl Heinz Bohrer und Sabine Friedrich. Im Zusammenhang mit der Ästhetik des Bösen in selbigem Roman erschienen auch jüngst Beiträge von Jacques Neefs39 und Stefan Bub.40 Die vorliegende Studie wird im We­sent­lichen den bestehenden Ansätzen folgen, wobei diese um Aspekte der Skandal­theorie sowie der narrativen Ethik ergänzt werden. Als Neuerung ist jedoch zu betrachten, dass das Werk im Kontext dieser Arbeit mit denen Mirbeaus, Noves, Pasolinis und Houellebecqs in Beziehung gesetzt wird, um Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen, die in dieser Form noch nicht untersucht worden sind.

Im Jahre 1993 wurde die Zeitschrift Cahiers Octave Mirbeau gegründet, im Rahmen derer bereits eine Vielzahl an Artikeln zum literarischen Opus Mirbeaus veröffentlicht wurden. Außerhalb des Publikationsorgans der Société Octave Mirbeau ist die Anzahl an Publikationen zu dem hier untersuchten Text, Le Jardin des supplices, jedoch überschau­bar.41 Erwähnung findet der Text in Alts Ästhetik des Bösen und auch in Achim Geisen­hans­lükes Monographie Die Sprache der Infamie.42 Im Rahmen dieser Arbeit soll die Diskussion um den Roman aktualisiert werden, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für das ästhetische Programm der Dekadenzliteratur ist. Doch in seinem Bestreben, dem Menschen ein schockierendes Abbild seiner Natur und Welt aufzuzeigen, weist er bereits auf zukünftige Literaturen, vor allen Dingen auch die Romane Houellebecqs, voraus.

Wie auch bei Flaubert handelt es sich bei Pasolini um einen Autor und Regisseur, zu dessen Werken (sowohl filmisch als auch literarisch) bereits gearbeitet wurde. Auch sein letzter Film Salò o le 120 giornate di Sodoma fand und findet in der Wissenschaft nach wie vor Beachtung.43 Umfassend setzt sich besonders Klaus Theweleit mit dem Aspekt des Faschismus in Pasolinis Film auseinander.44 Im Rahmen dieser Arbeit soll vor allen Dingen die filmische Umsetzung der Schockästhetik Sades in Salò Beachtung finden,45 wobei gleichwohl ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Umdeutungs­prozesse, die Pasolini vornimmt, herausgearbeitet werden sollen. Verfahren der Zuschauer- bzw. Leser­akt­i­vierung46 und die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Erfahrung durch visuelle Grenzerfahrungen (oder diesen zum Trotz) stehen dabei im Mittelpunkt. Diese Arbeit sucht damit insofern einen neuen Blickwinkel auf Pasolinis Salò zu bieten, als dieser in Bezug zu Texten des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gesetzt wird, um Parallelen aufzuzeigen, die so noch nicht erarbeitet wurden.

Die literarische Bewegung der giovani cannibali kann in gewisser Weise als repräsentativ für einen Trend der Kunst der 90er Jahre gelten. So erschienen in den Folgejahren nach der Veröffentlichung des Sammelbands Gioventù cannibale mehrere Studien, die diesem literarischen Zeitgeist-Phänomen Rechnung zu tragen suchten.47 Zu Aldo Noves und Ammanitis Erzählsammlungen liegen bisher vornehmlich kleinere Beiträge vor, die vor allen Dingen den Aspekt der im Text abgebildeten Konsumgesellschaft besprechen.48 Im Kontext dieser Arbeit sollen jedoch bereits vorgenommene Interpretationen durch Überle­gungen zu der Bedeutung des Textes im europäischen Vergleich ergänzt werden. Beson­ders die Gegenüberstellung mit den Romanen Houellebecqs wird sich dabei als auf­schluss­reich erweisen.

 

In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei letzterem um einen äußerst medien­präsenten Autor handelt, überrascht es wenig, dass besonders in den letzten Jahren eine Reihe an Publikationen zu seinen Werken erschienen ist. Dass sich in seinem Falle gar von einem »Phänomen« sprechen lässt, bestätigen diverse Titel, die es sich zum Ziel setzen, eben diesem analytisch auf den Grund zu gehen, darunter z.B. der von Thomas Steinfeld herausgegebene Sammelband Das Phänomen Houellebecq (2001), die 2005 erschienene Monographie Houellebecq non autorisé: enquête sur un phénomène von Denis Demonpion, ferner Dominique Noguez’ Titel Houellebecq, en fait (2003) oder auch der von Murielle Lucie Clement und Sabine van Wesemael herausgegebene Band Michel Houellebecq sous la loupe (2007) sowie der vornehmlich an literaturpraktischen und ästhetischen Aspekten interessierte Sammelband von Sabine van Wesemael und Bruno Viard (Hg.), L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013. Houellebecq, der zunächst als enfant terrible den Literaturmarkt aufmischte, wurde damit auch zunehmend Gegenstand des wissen­schaftlichen Interesses. Dass sich sein Œuvre nicht allein in einer aggressiven Provoka­tionsgeste und der Vulgarität des Obszönen erschöpft, sondern darüber hinaus über einen gewissen Ideenreichtum philosophischer Natur verfügt, legen Publikationen wie Dietmar Horsts Houellebecq der Philosoph: ein Essay (2006) und Julia Prölls Monographie Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs: die Möglichkeit existenzorientierten Schrei­bens nach Sartre und Camus49dar. Letztere stellt – wie der Titel impliziert – eine Verbin­dung zum Existentialismus Sartres und Camus’ her, die Aufschluss über das Gesell­schafts­bild gibt, welches Houellebecq in seinen bis einschließlich 2005 veröffent­lichten Romanen transportiert. Wie eben jenes Gegenwarts­porträt sich im Vergleich zu anderen Werken der internationalen Gegenwartsliteratur verhält, untersucht Constanze Alt.50 Größer angelegte Untersuchungen, die sich mit dem von Houellebecq gezeichneten Welt- und Gesellschafts­bild (vornehmlich auch im Roman Les Particules élémentaires) ausei­nander setzen, liegen damit bereits vor – und im Fall Julia Prölls auch in national literatur­histo­rischer Perspek­tive. Damit wird auch ein Diskurs über intertextuelle bzw. diachrone Beziehungen des Houellebecq’schen Œuvres eröffnet, der es erlaubt, nicht nur einen thematischen, sondern auch stilistischen Zusammenhang zwischen den Werken Houelle­becqs und Schriftstellern wie Lautréamont oder H.P. Lovecraft (vgl. Murielle Lucie Clément, Michel Houellebecq révisité. L’écriture houellebecquienne) oder Émile Zola und der realistischen bzw. naturalistischen Schule (Rita Schober, Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer. Berlin 2003) herzustellen. Auch Jochen Mecke stellt in seinem Aufsatz »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literatur­skandals« eine Beziehung zwischen den Erzählstrategien Houellebecqs und denen Flauberts bzw. Balzacs her.51 Seine Überlegungen zum »Stil der Indifferenz« sollen auch im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen und weiter vertieft werden.

Ein Novum ist es jedoch, konkret nach der Natur des Houellebecq’schen literarischen Bösen bzw. nach den Funktionen und Formen von Schockstrategien zu fragen und dies unter Berücksichtigung von Verfasstheit und Wirkung sowie von ethischen Implikationen. Neu ist dabei auch, sein Œuvre mit einer literarischen Tradition in Verbin­dung zu bringen, die Bohrer einst die »Schule des Bösen« taufte bzw. durch einen kompa­ra­tistischen Vergleich auf synchroner Ebene zur italienischen und amerikanischen Literatur und Filmkunst in Beziehung zu setzen. In Bezug auf die Möglichkeit einer literarischen Ethik im Werk Houellebecqs (u.a.) hat Susanna Frings52 jüngst ein Werk veröffentlicht, dem weniger die Annahme eines absoluten Pessimismus zugrunde liegt, als vielmehr die Diagnose eines »retour au roman« und gleichbedeutend damit der Möglich­keit einer kritischen Weltbe­sprechung im Raum der Literatur, die dem Leser das Angebot der ethi­schen Erfahrung macht. Ihr Ansatz einer literarischen Ethik, der nach den Bedeu­tungs­potentialen für den Leser fragt, kann damit auch im Rahmen dieser Arbeit nutzbar gemacht werden.

Während also für Houellebecqs Romane Extension du domaine de la lutte, Les Parti­cules élémentaires, Plateforme und La Possibilité d’une île durchaus bereits (größere) Publikationen vorliegen, ist der preisgekrönte Roman La Carte et le Territoire (natürlich auch aufgrund seiner relativen Neuheit) bisher nur in kleineren Beiträgen53 zur Sprache gekommen, darunter u.a. »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst« von Betül Dilmac54 sowie Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«.55 Die vorliegende Arbeit kann damit auch neueren Entwicklungen innerhalb des Houellebecq’schen Œuvres Rech­nung tragen. Es wird damit insofern eine Lücke geschlossen, als Verfahren der literarischen Provokation in Hinblick auf Funktion und Wirkungsweise sowohl in synchroner als auch diachroner Perspektive aufgedeckt werden. Damit kann schließlich ebenfalls eine Aussage über den Status der Gegenwartsliteratur bzw. über einen wichtigen Trend eben dieser getroffen werden.

1 Theoretische Vorüberlegungen
1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik
1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie

Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich vollziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tatsache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel disku­tierter Autoren wie de Sade, Choderlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbestreitbar eine fundamentale Radikalisierung – und Positi­vierung. Der Titel von Baudelaires skandal­trächtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exem­plarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veran­schaulichen. Hinzu kommt, dass – wie Peter-André Alt vermerkt – ein »Wechsel im Register der Darstellung« zu beobachten ist: eine Herauslösung des Bösen aus dem metaphysischen Gefüge und eine Verlagerung in die Innerlichkeit, in die Psyche des Menschen. Es

vollzieht sich eine Anreicherung der Kategorie des Bösen, die durch den Vorgang der Inklusion dichter als zuvor in ein Netzwerk von Nachbarbegriffen – Trieb, Gewalt, Häßlichkeit – integriert wird. Das Böse gewinnt über seine Einschließung in einer seelischen Topographie eine Vielfalt von Merkmalen und Qualitäten, die es auf neue Weise ubiquitär werden läßt. Die Omnipräsenz des Bösen ist fortan nicht mehr jene des Teufels, sondern die der Eigenschaften des Individuums.1

Die Psychologisierung und die damit einhergehende »Invisibilisierung«2 des Bösen offenbart scheinbar vollkommen neue Potentialitäten einer ›bösen Kunst‹, die sich den traditionellen Funktionalisierungs- und Darstellungsverfahren ver­weigert und das Böse so auf neue Art und Weise ästhetisch erfahrbar macht.

Karl Heinz Bohrer nahm die im Vergleich zu anderen europäischen Literaturen deutlich radikalere Entwicklung der französischen Literatur zum Anlass, das Phänomen des Bösen in der Kunst einer Revision zu unterziehen. In den Aufsätzen »Das Böse – eine ästhetische Kategorie?« (1985)3 und »Die Ästhetik des Bösen: Oder gibt es eine böse Kunst?« (2007)4 argumentiert er auf Basis einer Konzeption des Bösen, die es weniger als ethisches denn als ästhetisches Phänomen fasst. Es geht ihm dabei zuvorderst um eine Ablösung der Kategorie des Bösen vom ›Stigma‹ des Ethischen, welches verhindere, dass die Tendenzen der literarischen Moderne in ihrem vollen Potential erfasst werden könnten.

Bohrer bemüht sich zunächst um die Klärung der Frage, warum ein an sich missfälliger Gegenstand einen Reiz ausübt. Dabei bezieht er sich zunächst u.a. auf Schillers Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792),5 um die Verwandt­schaft der Kategorie des Bösen zu jener des Tragischen herauszustellen und so die rezeptions- und produktionsästhetischen Qual­itäten des Bösen hervorzuheben, da sich auch bei der Betrachtung des bösen Gegenstands das Gefühl der Erhabenheit über den Schrecken oder auch der Reiz des Erschreckens einstellen könne. Eben diese Qualitäten seien auf der inhaltlichen Ebene nicht zu finden, d.h. allein die provokante Beschreibung eines bösen Inhalts könne nicht die eigentümliche Faszinationskraft des Bösen erklären. Vielmehr sei der Ursprung des Gefallens am Bösen im Reiz der Stimmung, der Atmo­sphäre zu lokalisieren; es handele sich um

die Herstellung einer Atmosphäre, einer Stimmung des Unerklärbaren, des außerhalb sozialer Koordinaten Seienden. Die Herstellung des Bösen qua Phantasie des Unendlich-Vagen. Das ist unser eigentliches Thema: die mögliche Beteiligung der künstlerischen Phantasie am Bösen, nicht bloß das nicht leugbare Faktum böser Inhalte in der Literatur.6

Es geht also um die Schaffung eines – wie Bohrer es mit Rekurs auf Kierkegaard formu­liert – Zustands »radikalästhetischer Stimmung«,7 in dem moralisch-ethische Werte abwesend sind und das Böse allein durch seine schiere Präsenz die Phantasie vereinnahmt. Dies veranschaulicht er anhand einer Passage aus E.A. Poes The Imp of the Perverse, die in besonderer Weise die präsentische Wirkmacht des Reizes am Bösen illustriere:

We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss – we grow sick and dizzy. Our first impulse is to shrink from the danger. Unaccountably we remain. By slow degrees the sickness and dizziness and horror become merged in a cloud of unnamable feeling. By gradations, still more imperceptible, the cloud assumes shape, as did the vapour from the bottle out of which arose the genius in the Arabian Nights. But out of this our cloud upon the precipice’s edge, there grows into palpability a shape, far more terrible than any genius or any demon of a tale, and yet it is but a thought, although a fearful one, and one which chills the very marrow of our bones with the fierceness of the delight of its horror. It is merely the idea of what would be our sensations during the sweeping precipitancy of a fall from such a height. And this fall – this rushing annihilation – for the very reason that it involves that one most ghastly and loathsome of all the most ghastly and loathsome images of death and suffering which have ever presented themselves to our imagination – for this very cause we do now the most vividly desire it. 8

Die Leistung des Künstlers bestehe nun in der Generierung einer Stimmung, welche Resultat der Imagination sei. Die Literatur produziere dann ein ästhetisches Böses, wenn sie – wie in Poes Darlegung der Gedanke des Absturzes, »this rushing annihilation« – das eigentümlich lustvolle Gefühl der Entgrenzung ermöglicht, den Leser also in eben einen solchen Zustand zu versetzen vermag: Und es sei erst die Verfasstheit des Textes, die Sprechweise, die jenes ästhetische Böse kreiert, das jeglichen Zeitbezug sprenge und in seiner Plötzlichkeit jene Vorstellung des »Unendlich-Vagen« auslöse, die laut Bohrer charakte­ristisch für es sei. Halten wir also fest: Das ästhetisch Böse zeichnet sich durch das Vorherr­schen einer besonderen Stimmung, seine Momenthaftigkeit, die Absenz jeglicher ethischen Bezüge, die Möglichkeit der Bewusstseinsentgrenzung aus. Es handelt sich dabei nicht um einen Inhalt, der per se als »böse« zu bezeichnen wäre, sondern um eine Imagination, die erst durch ihre besondere semantische Organisation, d.h. ihre Ver­fasst­heit, generiert werde.9

Dieser Konzeption des Bösen liegt damit also ein Ästhetikbegriff zugrunde, der gemäß dem Prinzip der aisthesis, d.h. der sinnlichen »Wahrnehmung«, den Akzent auf die Erlebnisqualitäten, d.i. die Intensität und Plötzlichkeit, des Phänomens verlegt. Es wird damit die ästhetische Dimension betont, d.h. eine Lektüre befördert, die den Text zuvor­derst als Kunstwerk begreift, das außerhalb des lebenspraktischen Bezugs rezipiert wird. Damit trägt er der Auffassung von »Ästhetik [als] Theorie reiner Anschauung des ästhe­tischen Gegenstandes, der keiner Nützlichkeitsbeziehung, sondern in erster Linie um der Anschauung selbst willen gegeben ist«,10 Rechnung. Dabei vollzieht sich für den Leser, was Martin Seel in Bezug auf die Wahrnehmung des Naturschönen neben der korresponsiven und imaginativen als »kontemplative ästhetische Erfahrung« beschreibt: Der Wahrneh­mende distan­ziert sich im Moment der Kontemplation vom wahrge­nom­menen Gegenstand, der ihm nun­mehr ohne Referenz und (Zeit-)Bezug zur Außenwelt in all seiner ›Materia­li­tät‹ erscheint.11 Es wird also ein Effekt erzielt, den man mit Gumbrecht auch »präsentisch« nennen könnte.12

 

Das Böse ist also insofern als eine ästhetische Kategorie beschreibbar, als es im Kunstwerk der ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht wird. Und diese hat »eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erleb­nis­weisen und Empfindungsqualitäten konfrontiert«.13 Doch damit sich ein solcher Präsenz­effekt einstellt, muss der wahrgenommene Gegenstand bzw. das rezipierte Werk von einer bestimmten Beschaffenheit sein. Konkret in Bezug auf den literarischen Text als Kunst­werk bedeutet dies: Es muss bestimmte Schreibweisen geben, Techniken der literari­schen Praxis – oder um mit Bohrer zu sprechen: »semantische Organisationen« von sprach­lichen Zeichen –, die das böse Sujet inkommensurabel machen. »Inkommen­surabel« insofern, als es nicht mehr als Komplementärkraft des Guten verstanden werden kann und so im Kontext des Gesamtwerks durch eine ethisch positivierende Interpretation aufhebbar wäre.

Mit Bohrers Theorie des Bösen als ästhetischer Kategorie wird der Fokus also auf die Darstellungsebene gelegt, was zunächst eine von ethischen Aspekten unvorbelastete Perspektive eröffnen soll. Dieser Versuch, das Böse aus einem ethisch-moralisch und meta­­physisch konstruierten Bezugssystem herauszulösen und im Rahmen der Ästhetik theore­tisch neu zu begründen, ist jedoch nicht ganz unproblematisch – strittig ist er vor allen Dingen aufgrund der Unbestimmtheit des von Bohrer entwickelten Begriffs.14 Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwiefern das Böse überhaupt als rein ästhetische Kategorie ohne ethischen Bezugsrahmen gedacht werden kann. So heißt es auch im Themenheft Das Böse als literarische Vorlage, hg. von Erich Dauenhauer: »Die Annahme eines referenzlosen Bösen ist allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Schon die Annahme selber setzt eine göttliche Perspektive voraus. Weiterhin widerspricht das Apriori aller real- und geistesgeschichtlichen Erfahrung. […] ohne Referenz ist auch kein ästhetisch Böses denkbar.«15 Selbst wenn der (kundige) Rezipient dem Werk mit dem Kant’schen »interesse­losen Wohlgefallen« begegnet, was impliziert, dass ein Bewusstsein über die ästhetische Differenz vorhanden ist, bleibt fraglich, inwiefern diese »göttliche Perspek­tive« tatsächlich eingenommen werden kann.